Die wissenschaftliche Elite - draußen vor der Tür

Deutschland leistet sich eine große Zahl von höchstqualifizierten Wissenschaftlern im Abseits

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Der Schatz an Sagen und Märchen im Deutschland ist groß - doch die sich populär gebende Politik wird nicht müde, ihm unentwegt neue wundersame Erzählungen hinzuzufügen. Eine dieser Mythen lautet, Deutschland hinke bei der Erzeugung hochqualifizierter Wissenschaftler hinterher, nur die Züchtung von Eliten bewahre das Land vor dem Untergang.

Dabei existiert diese Elite längst - doch viele stehen draußen vor der Tür und fristen ihre Existenz mehr schlecht als recht. An die 30.000 habilitierte Wissenschaftler, so eine Schätzung, lehren und prüfen an deutsche Hochschulen ohne feste Anstellung und das oft zu Stundenlöhnen, die unter denen einer Putzfrau liegen. Nebenberuflich Hochschullehrer gehören mittlerweile zunehmend zur wachsenden Gruppe von „prekären Intellektuellen“, so das Diskussionsergebnis der „20. Berliner Hochschuldebatte“ (ein Forum von Hochschullehrern und der Heinrich-Böll-Stiftung). Sie hatte sich dem Thema „Lebensrisiko Habilitation? Was wird aus unseren Höchstqualifizierten“ angenommen.

In Deutschland gab es im Wintersemester 2004/05 fast rund 1,95 Millionen Studenten an Universitäten, Kunst- und Fachhochschulen. Unterrichtet wurden sie von einem Lehrkörper aus 237.000 Personen - Professoren, Assistenten, Dozenten. Darin ist auch die Zahl der „nebenberuflichen Hochschullehrer“ erhalten - darunter auch die sogenannten Privatdozenten (akademisch abgekürzter Titel: PD).

PD – Proletariat der Denker

Dieser Privatdozent ist eine eigenartige Spezies - Georg Simmel, einer der Mitbegründer der Soziologie in Deutschland war zum Beispiel lange so tätig -, denn in seiner Person verbinden sich höchste Qualifikation mit niedrigster Entlohnung. Wer sich Privatdozent nennen darf, der hat in der Regel den langen akademischen Weg vom Grundstudium über die Promotion bis zur Habilitation hinter sich und muss Lehrerfahrung nachweisen. In seinen Unterlagen finden sich somit Urkunden über die „venia legendi“ - die Lehrberechtigung - und die „facultas docendi“ - die Lehrbefähigung. Der Unterschied vom Privatdozenten zum Professor ist der, dass der Privatdozent privat doziert und der Professor dafür vom Staate angestellt und bezahlt wird. Der Professor unterliegt dem Beamtenrecht, der Privatdozent hingegen ist frei - in Forschung und Lehre. Und von Bezügen. Was wiederum Forschung und Lehre ziemlich einschränkt, es sei denn, man hat wie Simmel ein Privatvermögen in der Rückhand.

Privatdozent ohne Privatvermögen wird neuerdings gerne auch als „PD = Proletariat der Denker“ gelesen. Ihre Lage ist prekär. Auf der einen Seite sind sie verpflichtet, Vorlesungen zu halten, auf der anderen Seite steht dahinter ein Lebensstandard, der oft bis zum materiellen Elend reicht. Den dazu verfügbaren Statistiken zufolge waren von rund 3.600 befragten Habilitierten etwas mehr als ein Drittel (38,5 %) in festen wissenschaftlichen Stellungen beschäftigt, 3,5 % in anderen Berufszweigen. Damit waren weit mehr als die Hälfte (58 %) der Habilitierten beruflich nicht gesichert.

Dies bedeute, so Professor Christian Gizewski von der TU Berlin und Mitglied des „Arbeitskreises habilitierter oder ähnlich qualifizierter Wissenschaftler in Berlin“, das hochqualifizierte Wissenschaftler, die beim Abschluss ihrer Hochschullehrerqualifikation zumeist schon an der Schwelle zum mittleren Lebensalter stehen, zu einer langjährigen Form ungesicherten Lebens genötigt seien.

Man hangelt sich von Forschungsprojekt zu Forschungsprojekt, von unterbezahlter Dozentur zu unterbezahlter Dozentur. Dabei sind die Universitäten auf diese kaum entlohnten wissenschaftlichen Tätigkeiten angewiesen und könnten ohne sie den Lehrbetrieb für die Studierenden - deren Zahl sich Prognosen zufolge bis 2015 um 20 bis 30 Prozent erhöhen könnte - nicht aufrechterhalten. Die Juniorprofessoren übrigens, so ein Diskussionsbeitrag, seien mittlerweile nach Abschluss ihrer Professur faktisch von ähnlichen berufsperspektivischen Schwierigkeiten betroffen wie Habilitierte.

Um die thematisierte Situation der „nebenberuflichen Hochschullehrer“ zu entschärfen, wurde bei der Hochschuldebatte eine Reihe wissenschaftspolitischer Forderungen für den Bereich des Hochschulrechts, des Sozialrechts und der Wissenschaftsförderung erhoben. Etwa die Einführung einer gesetzlich gesicherten angemessenen tariflichen Vergütung für wissenschaftliche Arbeit, Chancengleichheit für Bewerber auf Lehrstühlen oder öffentlich-rechtlich organisierte Forschungsmöglichkeiten für wissenschaftlich Höchstqualifizierte.

Steht so eine nicht geringe Zahl der „Elite“ draußen vor der Tür, so sind die Mitglieder der „Elite“ drinnen - also auf den bezahlten Lehrstühlen - nicht nur durch ihre Leistungen ausgezeichnet - die quasi naturwüchsige Koppelung von „Elite“ und „Leistung“ ist ja ein weiteres neudeutsches Märchen. Während Studierende im Allgemeinen noch aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten stammen, liege der Anteil von Bürgerkindern unter den Universitätsprofessoren bei 50 Prozent, so der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann. Bei der Besetzung von Lehrstühlen an der Universität ist die soziale Herkunft also bedeutsam. Und unter den Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Humboldt-Stiftung gebe es keinen Einzigen, der nicht aus einem bürgerlichen oder großbürgerlichen Umfeld stamme.