Krampf der Kulturen

Der Streit um Tabakkonsum und Werbeverbot nimmt hysterische Formen an, er zeigt die Probleme einer Gesellschaft mit ihren psychoaktiven Substanzen

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Zeitsprung in das Jahr 2015. In Deutschland und Europa ist Tabak seit drei Jahren verboten. Die Pflanze und ihr Hauptwirkstoff Nikotin findet sich in Anhang B des Betäubungsmittelgesetzes wieder. Weil wissenschaftliche Untersuchungen die Wirksamkeit von Nikotin bei einigen Erkrankungen nachgewiesen haben, wird die Substanz in pharmazeutischen Labors synthetisiert und darf in Einzelfällen verschrieben werden. Unabhängig davon floriert eine Grower-Szene, die Tabakpflanzen in Kellern und auf Dachböden unter Kunstlicht hochzieht. Beliebt sind bei den Konsumenten die Sorten mit hohem Nikotingehalt wie "Purple Virginia" und "German Blend". Aus Afghanistan und Südamerika erobern langsam hochwertige Konkurrenzprodukte den Markt. Die Gewinnspannen sind hoch, die Bauern setzen trotz des Drucks der UNO auf den Anbau von Tabak. Unter den Jugendlichen in Europa ist das starke Kraut beliebt, jeder zweite unter den unter 18-Jährigen hat schon einmal geraucht. Dies bleibt ein transistorisches Phänomen, die meisten zünden sich spätestens mit 33 Jahren kaum noch Zigaretten an. Strafrechtsexperten streiten über den sinnvollen Umgang mit rauchenden Delinquenten. Die Bundesregierung aus WASG und CSU setzt auf die vier Säulen Prävention, Therapie, Schadenminimierung und Repression, um möglichst wenig Menschen in die Tabaksucht abgleiten zu lassen.

Normalzeit, Mai 2006. Die Bekehrung der Raucher ist zum weltweiten Phänomen geworden. Aber halt, hier lauert schon die erste Falle in einem gesundheitspolitischen Diskurs, der seit Monaten und Jahren an Schärfe gewinnt. Aus Sicht vieler geht es weniger darum, die Tabak-Fans von der Schädlichkeit ihres Tuns zu überzeugen, als vielmehr um den Schutz der Nichtraucher. Diese seien in der Öffentlichkeit zum Mitrauchen verdammt und müssten sich mit Folgeerkrankungen rumschlagen, die denen der Aktivraucher kaum nachstehen. Unfruchtbarkeit, Osteoporose, Potenzprobleme und natürlich Lungenkrebs. Die Argumente sind erdrückend: 90 Prozent aller Lungenkrebstoten sind Raucher, man geht von über 100.000 tabakbedingten Todesfällen jährlich aus. Passivrauchen, so das neue Credo, sei genauso gefährlich wie das bewusste Ziehen am Stängel.

Wissenschaftsdaten und Anti-Tabak-Kampagnen wirken

Der Qualm wird zunehmend als nervig empfunden. Man sitzt auf dem niederen Ross des Retro-Kults, wenn man den Talk-Shows aus den 70er Jahren eine anheimelnde und gleichwohl intellektuelle Ästhetik zuspricht, weil dort so viel geraucht wurde. Die Politik folgt schnellen Schrittes, mittlerweile ist das Rauchen in den Restaurants und Kneipen Irlands, Englands, Schwedens, Norwegens, Tschechiens und Italiens tabu. In Spanien gilt ein Rauchverbot ab 100 Quadratmetern Gaststättenfläche.

Die EU-Richtlinien sehen neben der Einrichtung von Nichtraucherzonen auch ein Werbeverbot vor. Vor vier Jahren beschlossen, hätten die Verordnungen bis Sommer 2005 in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Nur Deutschland und Luxemburg zögern. Die alte Bundesregierung hatte gegen das Tabakwerbeverbot Klage eingereicht, die neue Bundesregierung möchte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) erst abwarten, bevor sie neue Gesetze erlässt. Der Umsetzungsplan liegt aber schon in der Schublade, denn die Klage des Bundes hat wenig Aussicht auf Erfolg.

Wie so oft bei gesellschaftlichen Phänomenen spielen die USA eine Vorreiterrolle. In Kalifornien ist Rauchen in öffentlichen Gebäuden und Restaurants bereits seit 1994 verboten, in New York ziehen seit 2003 Kontrollbeamte durch die Kneipen. Finden Sie einen Aschenbecher, gibt es einen Bußgeldbescheid. Einige Firmen stellen keine Raucher mehr ein, eine Entwicklung, die derzeit auch nach Deutschland schwappt.

Die Gastronomen Deutschlands sind gehalten bis 2008 die Hälfte ihrer Sitzplätze für Nichtraucher zu reservieren. Der Druck auf die Raucher nimmt zu, Brüssel möchte in allen Ländern nicht nur das Werbeverbot, sondern weitergehende Maßnahmen einführen. Ziel ist es, das Rauchen nur noch in unmittelbaren Privaträumen zu gestatten.

Die drei Ebenen des Problems liegen offen da: Objektiv gesehen schadet der Konsum von minderwertigen Tabakprodukten. Sicher, wer ansonsten gesund lebt, den jucken zwei Zigaretten im Monat nicht. Eine Diskussion über die korrekte Dosierung, die bei anderen Objekten der Drogenpolitik dringend erforderlich wäre, führt bei Zigaretten nicht weiter, die Schädlichkeit für den Körper ist schon in geringen Mengen virulent. Aber: Kein Individuum will sich in seine Autonomie reinreden lassen. Ein Raucher erfreut sich an den Kringeln über seinem Kopf, die ihn zur Fantasie anregen und im Feierabend entspannen lassen. Wer sollte ihm das verbieten, solange er niemanden mit seinem Hobby stört? Die Antwort ist auf der dritten Ebene zu finden, ist doch der kulturelle Rahmen für Tabakgenuss steten Veränderungen unterworfen. Wo früher noch Sultane ihre Untertanen köpfen ließen, wenn diese sich beim Rauchen hatten erwischen lassen, prahlten zwei Jahrhunderte später Wiener Aristokraten mit ihrer Tabakspfeifensammlung.

Es ist blinde Wissenschaftsgläubigkeit anzunehmen, dass in den Labors der Universitäten die Wahrheit unabhängig vom kulturellen Umfeld entdeckt wird. Es ist der intersubjektive Raum, in dem zunehmend weniger Platz für Raucher ist. Ihre architektonische Ausgrenzung ist nur ein Zeichen, die Bissigkeit mancher Nichtraucher ein anderes. Man mag ihr Rauchen als Hobby seltsam finden, seltsam ist aber auch, dass bis in die 90er Jahre kaum jemand Anstoß daran nehmen wollte, wenn sich im Restaurant nach dem Essen etwas Nikotin pulmonal zugeführt wurde.

Konsum-, Genuss- und Suchtverhalten bedingen einander

An dieser Stelle versuchen die öffentlichen Kombattanten meist Journalisten der einen oder anderen Seite zuzuordnen. Das Freund-Feind-Schema ist verlockend, zudem lassen die Fakten und Gerüchte über die omnipräsente Lobby-Arbeit der Tabakindustrie die Medienvertreter nicht aus. Oft zu Recht, auf der anderen Seite sah sich die NDR Talkshow-Moderatorin Amelie Fried Pamphleten und wüsten Beschimpfungen ausgesetzt, nur weil sie nicht in das teilweise hysterische Gekreische der Anti-Raucher-Bewegung einstimmen wollte.

Als Autor dieser Zeilen könnte ich mich also inzwischen gezwungen fühlen zu sagen: Tabak spielt in meinem Leben keine große Rolle, Zigaretten in Reinform schmecken mir nur am Lagerfeuer oder wenn meine rauchende Frau mir ihre mit Lippenstift versetzte Light-Variante anbietet. Beides zusammen kommt nicht mehr als einmal im Monat vor. Banknotenpralle Briefumschläge mit freundlichen Grüßen eines Tabak-Verbands sind noch nicht gesichtet worden.

Wie immer man Zwangsmaßnahmen gegen Raucher beurteilt, die Beispiele Tabak und Alkohol zeigen, dass ein mündiger Umgang mit Drogen in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften schwer ist. Die Verlockungen lauern überall, Konsum ist die Mutter des Wohlstands. Wo das "Ich kaufe also bin ich" früher primär dem sozialen Status hob, wird heute darauf hingewiesen, dass diese Lust die Wirtschaft ankurbelt. In Kombination mit dem Wiedererstarken (christlicher) Werte wird das von manchem als "neue Bürgerlichkeit" bezeichnet. Nach den Zeiten der Love-Parade erfreue man sich am gediegenen Puritanismus, nach House Music gäbe es nun endlich wieder Hausmusik. Fakt ist, dass Konsum-, Genuss- und Suchtverhalten weiterhin aufeinander aufbauen. Und im Kräftedreieck zwischen "Droge", persönlicher Disposition und sozialer Umwelt ringt jeder Mensch mit seinen Abhängigkeiten.

Dem Ansatz der totalen Drogen-Abstinenz wird seit längerem eine Realitätsferne angekreidet, weil Menschen seit Urzeiten ihren Geisteszustand verändern und Repression weder ethisch vertretbar noch wirkungsvoll sei. Mag sein, richtig ist aber auch: Man muss nicht jede Droge, die die Industrie herstellt, unbedingt probieren. Mehr noch, Skepsis gegenüber den ständigen Purifikationen und Neumodellierungen chemischer Verbindungen durch die Industrie ist klug.

Schneller, unkomplizierter Genuss, der nicht von der Arbeit abhält

Die Fraktion progressiver Drogenforscher weist immer wieder auf die Heilkraft pflanzlicher und chemischer Drogen hin, die, je nach Wirkungsspektrum, als psychoaktiv, halluzinogen, psychedelisch oder neuerdings als entheogen bezeichnet werden. Aber auch sie wissen, dass sich das positive Spektrum erst unter guten Bedingungen (Set & Setting) eröffnen kann - und eben auch nicht muss. Selbst wenn man einigen geistbewegenden Substanzen wie beispielsweise LSD (Appetitlicher Eierschaum) das Potenzial zuschreibt, eine Person, deren kulturelles Umfeld und oben drauf auch den Rest der Welt positiv zu beeinflussen, so bleibt doch die offene Frage, ob es nicht ungefährlichere Mittel und Wege zur Konsolidierung des eigenen und globalen Geistes gibt, um nicht das Wort "Bewusstseinserweiterung" zu missbrauchen.

Und an der "Droge Tabak" zeigt sich nur zu deutlich, wie die Moderne das Potenzial bewusstseinsverändernder Substanzen nutzt: nämlich gerne pathologisch. Tabak ist im Rahmen der industriellen und agrotechnischen Revolutionen nicht nur so sehr optimiert worden, dass das pflanzliche Material heute nur noch Trägerstoff für die diversen Chemo-Verbindungen) ist, sondern auch in einen völlig neuen Kontext geschoben worden: Schneller, unkomplizierter Genuss, der nicht von der Arbeit abhält. Die moderne Gesellschaft ist potenziell süchtig und findet Sündenböcke in einigen pflanzlichen Produkten und deren Konsumenten. Die aus der Drogenpolitik bekannte, tabubeladene, moralisch-heuchlerische Diskussion dehnt sich langsam, aber sicher auf Tabak und Zigaretten aus.

Taktieren der Politiker

Einer Versachlichung stehen auch das Taktieren und die Abhängigkeiten verschiedener Bundesregierungen entgegen. Die Universität Kiel war 1998 in einer vom damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer beauftragten Studie zu dem Schluss gekommen, dass die Werbung durchaus Einfluss auf Beginn und Aufrechterhaltung des Rauchens hat. Trotzdem klagte man unter den Kanzlern Kohl und Schröder vor dem EuGH gegen ein drohendes Tabak-Werbeverbot. Erst Strafandrohungen seitens der EU und der Druck der damaligen Verbraucherschutzministerin Renate Künast führten zu einer Gesetzesinitiative zur Umsetzung, die aber nun wieder gestoppt wurde. Zu allem Überfluss kam vor kurzem heraus, dass die CDU 1992 und 1993 115.000 Mark, die SPD und FDP jeweils 30.000 Mark und die Seehofer-Partei CSU 80.000 Mark aus den Kassen des VDC erhalten hatten.

Heute stellt Seehofer die Fahne anders in den Wind. Als Bundesverbraucherminister unterstützt er die jüngsten Vorhaben, das Rauchen in allen öffentlichen Räumen zu verbieten. Zu weiterreichenden Entscheidung, das weiß auch Seehofer, wird es so schnell nicht kommen. Der SPD-Politiker Klaus Uwe Benneter sprach sich generell gegen Verbote aus. Man brauche stattdessen "mehr Toleranz der Menschen", sagte er dem Fernsehsender n-tv.

Einem schnellen und generellen Rauchverbot in Gaststätten steht die geplante Föderalismusreform entgegen. Die sieht vor, dass das Gaststättengesetz Ländersache wird. Einige Bundesländer verschärfen die Maßnahmen schon jetzt. Brandenburg plant in diesem Jahr ein Rauchverbot für öffentliche Landeseinrichtungen, Bremen ein Verbot in Krankenhäusern und Kinder-Tageseinrichtungen, Sachsen-Anhalt in Nahverkehrszügen. Bayern und Bremen wollen noch in diesem Jahr die Schulen vom blauen Dunst befreien - in der Hälfte der Bundesländer ist das bereits Realität.

Die politische Klasse diskreditiert sich: Auf der einen Seite wird der Anbau der gefährlichen Droge Tabak in Deutschland vom Staat subventioniert, zudem fließen kräftig Tabak-Steuern in die leeren Kassen. Die Zigaretten- und die an sie gebundene Werbe-Wirtschaft ist nach wie vor ein bedeutender Standort-Faktor. Auch deswegen wird die Umsetzung des Werbe-Verbots verschleppt. Der Konsument des Produkts wird aber zunehmend als krankes Element der Gesellschaft dargestellt, der nicht nur sich selbst, sondern eben auch andere schädigt.

Die Angstkampagne führt zu Lagerkämpfen

Institute wie das DKFZ in Heidelberg lassen nichts unversucht, um nicht nur auf die Gefahren des Rauchens, sondern auch des Passivrauchens hinzuweisen. Die letzte Passivraucher-Studie aus dem Herbst 2005 wurde von Wissenschafts-Kollegen in der Luft zerrissen, man hatte Zahlen sträflich falsch interpretiert. Das DKFZ macht inzwischen keinen Hehl daraus, dass es weniger um den Nichtraucherschutz als um die Dezimierung der aktiven Raucher geht.

So entwickelt sich die Diskussion zu einer Angstkampagne, die zwei Gruppen gegeneinander ausspielt. Mit Erfolg: In der deutschen Sektion der Wikipedia wird seit Monaten mit harten Bandagen um die korrekte Ausrichtung des Artikels über Passivrauchen gekämpft. Studien werden zitiert und widerlegt, persönliche Beleidigungen zieren die Diskussionsseite, die Neutralität des Artikels steht auf dem Spiel.

Einfach ist die Lösung nicht, denn wird darüber gestritten, ab welcher Menge passiv eingeatmeten Rauches Gefahr für die Gesundheit besteht. Und wer will die vielen unabhängigen Variablen ausschließen, wie beispielsweise Auto- und Industrie-Abgase, Umweltgifte, Feinstaub, genetische Disposition, ungesunde Lebensführung? Langzeitstudien sind selten, Barkeeper als Untersuchungs-Subjekte begehrt. Das Recht auf einen rauchfreien Arbeitsplatz ist zwar noch nicht normiert, oft aber schon längst Realität. In den Nischen, wo das nicht der Fall ist, gelten vielleicht bald Gefahrenzuschläge und Tresenpersonal arbeitet in Schutzanzügen, die man bisher nur vorm Hochofen trägt.

Wissenschaftler mit unterschiedlichsten Auftraggebern und Untersuchungsdesign stürzen sich auf die Passivraucher. Man zeigte sich jüngst enttäuscht, als eine Studie keinen Zusammenhang zwischen dem Rauchverhalten der Eltern und dem Intelligenzquotienten ihrer Kinder feststellen konnte. Aber, so kann man süffisant anmerken, vielleicht hat man nur noch nicht genau genug hingeschaut.

Für die Zukunft sind mehrere Szenarien vorstellbar: Der Aschenbecher geht den Weg des Spucknapfs und verschwindet in ein paar Jahren in den Kuriositäten-Ecken der Museen. Oder aber Nikotin wird von der Industrie in eine neue Wirkform gebracht. Philip Morris testet zur Zeit in einigen Märkten in den USA einen kleinen Tabakbeutel, der zwischen Backe und Zahnfleisch geschoben wird und dort sein Nikotin abgibt. Neu ist das natürlich nicht, schon vor zwei Jahren reichte mir eine Schwedin mit braunen Zähnen ein Mini-Säckchen mit einer einheimischen Spezialität. Starker Tobak für die Mundhöhle, kaum zu genießen, aber enorm wirkungsvoll.

Die fatalste Variante wäre das oben inszenierte Total-Verbot der Tabakpflanze. Denn dann, so darf man annehmen, würden Schwarzmarkt-Zigaretten bei Jüngeren noch mehr als heute für die große Freiheit und das Anderssein stehen. Um radikale Lösungen zu vermeiden ist Rücksichtnahme bei Rauchern wie Toleranz bei Nicht-Rauchern gefragt. Es spricht nichts dagegen, als Raucher die Auslebung seiner Lust so zu gestalten, dass sein soziales Umfeld so wenig wie möglich belästigt wird. Schließlich lässt man ja seinen Flatulenzen auch keinen freien Lauf. Andererseits muss es einem Zigaretten-Liebhaber möglich sein, auf der grünen Wiese seinem Hobby nachzukommen und nicht in Furcht vor 20 Meter entfernt sitzenden Müttern zu leben, die dadurch das Leben ihres Nachwuchses gefährdet sehen. Gesucht sind Möglichkeiten, den Wunsch nach gesundem Leben von manischen Reinraumfantasien zu unterscheiden.