Nervenkrieg

Nach der Entführung eines Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen ringen Israelis und Palästinenser um die Freilassung des Wehrdienstleistenden

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Am frühen Sonntag morgen wurden die in einem nur wenige hundert Meter von der Grenze zum Gazastreifen gelegenen Posten stationierten Soldaten von acht palästinensischen Extremisten überrascht. Bei dem folgenden Feuergefecht kamen zwei Soldaten und zwei der Angreifer ums Leben. Ein Wehrdienstleistender, der 19-jährige Gilad Schalit, wurde vermutlich in den Gazastreifen verschleppt. Die von drei Hamas-nahen Gruppen ausgeführte Entführung hat in Israel Erschütterung hervorgerufen und in den palästinensischen Gebieten Begehrlichkeiten geweckt: Dort fordert man einen Austausch gegen in Israel inhaftierte Palästinenser. Doch darauf wird Israel darauf wohl nicht eingehen: Ein solches Zugeständnis würde die Hamas stärken und Präsident Machmud Abbas weiter ins Abseits drängen. Derweil sagte ein Regierungsvertreter am Dienstag, die Hamas und die Fatah-Fraktion von Abbas hätten sich über das "Dokument der Gefangenen" geeinigt.

Gefangen im Feindesland – für viele Israelis ist dies ein Albtraum: „Es hätte jeder von uns sein können“, sagt Avi, ein 24-jähriger Unteroffizier, der am Montag Abend vor einer Tankstelle sitzt und Kaffee trinkt. Der Schock steht ihm noch ins Gesicht geschrieben: „Wir sind hier, um die Grenze von 1967 zu verteidigen, also genau das, was die Palästinenser wollen – die hatten nicht das geringste Recht dazu. Ich hoffe, dass Gilad gesund nach Hause kommt.“

Die beiden haben sich nie kennen gelernt, doch in diesen Tagen ist der 19-jährige Wehrdienstleistende, dessen Panzereinheit eigentlich im Norden des Landes hätte stationiert sein sollen, jedermanns Freund: „Wir fühlen alle mit ihm und seiner Familie. Fast jeder in Israel hat irgendwann mal beim Militär gedient, und wir kennen alle die Geschichten von den drei Soldaten, die über die Grenze in den Libanon verschleppt wurden und tot zurückgekommen sind.“

Ende Januar 2004 hatte Israel auf Vermittlung der Bundesregierung 429 Häftlinge gegen die Leichen von drei Soldaten ausgetauscht, die im Oktober 2000 von Kämpfern der Hisbollah über die Grenze in den Südlibanon verschleppt worden waren (vgl. Ungleicher Tausch).

Chancen für einen Gefangenenaustausch stehen schlecht

Es ist vor allem die Erinnerung an diesen Gefangenenaustausch, den umfangreichsten in mehr als 20 Jahren, der in den palästinensischen Gebieten und bei den Tausenden in Israel inhaftierten Palästinensern große Hoffnungen geweckt hat. Einer Umfrage der Nachrichtenagentur Ma'an zufolge sind 82 Prozent der Palästinenser der Ansicht, dass der Soldat nur im Rahmen eines Gefangenenaustausches freigelassen werden sollte. In einer am Montag veröffentlichten Erklärung fordern in Israel inhaftierte Palästinenser die Freilassung aller weiblichen und minderjährigen Gefangenen.

Einige Mütter von Gefangenen wandten sich direkt an die Familie Schalits, nachdem diese in einem offenen Brief an das Mitgefühl der Entführer appelliert hatte: Wenn sie sich für die Freilassung ihrer Söhne einsetze, würden sie sich im Gegenzug für Gilad Schalit stark machen. In mehreren Pressekonferenzen bemühten sich andere Angehörige von Häftlingen derweil darum, bei den internationalen Medien Unterstützung für einen solchen Austausch zu finden.

Doch die Chancen für einen Gefangenenaustausch stehen schlecht, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen war die Kritik am Massenaustausch vor zweieinhalb Jahren massiv gewesen. Selbst die Eltern der drei Soldaten hatten die Aktion verurteilt, die auf Vermittlung der Bundesregierung zustande gekommen war. Die Regierung des damaligen Premierministers Ariel Scharon stärke damit die Extremisten, so der größte Vorwurf – eine Möglichkeit, die diesmal sehr viel offensichtlicher ist als damals, was der zweite Grund ist.

Abbas bemüht zu retten, was zu retten ist

Der Angriff wurde von drei Hamas-nahen Gruppen ausgeführt; die Spitze der radikalislamischen Organisation, obwohl sie von der Aktion überrascht worden zu sein scheint, hat sich die Forderung nach dem Gefangenenaustausch mittlerweile auf die Fahnen geschrieben: „In der Öffentlichkeit wird die Hamas mit dem Angriff identifiziert“, sagt der palästinensische Journalist Ali Waked, der unter anderem für die israelische Zeitung Jedioth Ahronoth arbeitet: „Selbst nur zehn freigelassene Gefangene wären ein Punktsieg für die Organisation, der sie stärken und Präsident Machmud Abbas schwächen würde.“

Daran hat Israels Regierung aber genauso wenig ein Interesse wie Abbas selber. Während das israelische Militär mit einer groß angelegten Invasion und der Tötung von Hamas-Funktionären droht und den Medien am Montag nördlich des Gazastreifens ein ebenso beeindruckendes wie photogenes Arrangement von Waffen und schwerem Gerät vorführte, bemüht sich der palästinensische Präsident zu retten, was zu retten ist: In langen Marathonsitzungen versuchte Abbas, der auf die Nachricht von dem Angriff mit einem Wutausbruch reagiert haben soll, in den vergangenen Tagen, Regierungschef Ismail Haniyeh und andere hochrangige Hamas-Vertreter davon zu überzeugen, dass es besser wäre, die Sache mit dem Gefangenenaustausch nicht weiter zu verfolgen: „Alles, was nun geschehen wird, liegt in der Verantwortung der Hamas allein“, wird er in den Medien zitiert.

Der Angriff war auch ein Warnsignal. Wochenlang hatte sich Abbas bemüht, eine Übereinkunft zwischen den einzelnen Fraktionen über das „Dokument der Gefangenen“ zu erzielen, einem von in Israel inhaftierten Palästinensern erarbeiteten Richtungspapier, das unter anderem die Errichtung eines palästinensischen Staates mit den Waffenstillstandslinien von 1949 und die Beschränkung bewaffneter Aktionen auf die palästinensischen Gebiete vorsieht.

Erstes Signal für eine Spaltung der Hamas?

Abbas braucht diesen Konsens, um eine Wiederaufnahme der ausländischen Hilfen erreichen und den Weg für Verhandlungen mit der israelischen Regierung über die geplanten Siedlungsräumungen im Westjordanland bereiten zu können. Am Samstag hatten sich Vertreter von Hamas und der Fatah-Fraktion von Präsident Abbas geeinigt; ein Regierungsvertreter bekräftigte am Dienstagnachmittag, dass es dabei bleiben werde. Doch was diese Aussage tatsächlich bedeutet, ist noch unklar. Eine Reihe von Journalisten in Gaza vermuteten am Dienstagabend, dass es sich bei der Äußerung um einen Versuch handeln könnte, von dem Entführungsfall abzulenken und, wie sich einer von ihnen ausdrückte, „positive Energie zu verbreiten“.

Erste Meldungen über eine Einigung waren am Sonntag von Hamas-Vertretern dementiert worden – ein Anzeichen von Uneinigkeit über diesen Schritt innerhalb der Hamas: „Die Operation war eine Meinungsäußerung des rechten Randes der Hamas“, sagt Khaled Abu Toameh von der Zeitung Jerusalem Post: „Es gibt Leute, die das ,Dokument der Gefangenen’ niemals akzeptieren werden, selbst wenn ihre Führung das macht.“ Er wertet den Angriff als ein erstes Signal für eine Spaltung der Organisation und sein Kollege Waked stimmt ihm zu:

Die Spitze der Hamas war doch anfangs selbst von der Aktion überrascht. Haniyeh hat sogar die Freilassung des Soldaten gefordert. Erst als die Hamas gesehen hat, welche Unterstützung die Entführung in der Bevölkerung erhielt, hat sie sich dahinter gestellt – vermutlich auch, um zu verbergen, dass es Elemente innerhalb der Organisation gibt, auf die sie keinen Einfluss mehr hat.

Wer steckt hinter der „Islamischen Armee“?

So ist zur Zeit noch unklar, wer hinter der „Islamischen Armee“ steckt, die sich neben den Eseddin al Kassam-Brigaden, dem bewaffneten Arm der radikalislamischen Hamas, und dem Volkswiderstandskommittee zu dem Angriff bekannte: Die Gruppe war bis Sonntag vollkommen unbekannt. Analysten des Militärs vermuten, dass es sich dabei um eine extreme Abspaltung von der Hamas handeln könnte.

Noch setzt Israels Regierung auf massiven Druck und hofft, auf diese Weise ein friedliches Ende der Entführung herbeiführen zu können. Im Hintergrund versuchen derweil Vermittler aus Ägypten und Frankreich, die Entführer von den möglichen Konsequenzen ihres Handelns zu überzeugen – denn viel mehr können sie nicht tun: Der Fall erinnert an den des Unteroffiziers Nachschon Waxman, der im Oktober 1994 entführt und nach fünf Tagen bei einem missglückten Befreiungsversuch ums Leben gekommen war.

„An der grundsätzlichen politischen Haltung gegenüber Entführungen hat sich seitdem nichts geändert“, sagt Sicherheitsexperte Mickey Levy, ein ehemaliger Polizeichef von Jerusalem: „Der Staat wird jeden Israeli nach Israel zurück bringen, egal ob tot oder lebendig. Aber nachzugeben ist keine Option.“

Allerdings scheinen die israelischen Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen nicht an eine Militäroffensive zu glauben: „Wir haben uns in den vergangenen Monaten dreimal auf eine Offensive vorbereitet, ohne dass sie dann wirklich gekommen ist“, sagt einer von ihnen. Dass dies auch diesmal so sein wird, dafür spricht auch, dass die Zahl der Truppen an der Grenze zum Gazastreifen allen Drohungen zum Trotz nach wie vor recht gering ist. Zudem ist das Verteidigungsministerium von der Aussicht auf eine möglicherweise lange und zerreibende Präsenz in Gaza nicht sonderlich begeistert.

Dort blockt man schon seit Wochen die vielen Forderungen aus Politik und Öffentlichkeit ab, auf den heftigen Raketenbeschuss israelischer Städte in der Nachbarschaft zum Gazastreifen mit einer Invasion zu reagieren. Levy: „Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass man versuchen wird, den Jungen mit einer gezielten Geiselbefreiung zurückzuholen. Die birgt zwar viele Risiken für sein Leben, aber nicht so viele, wie eine großangelegte Militäroperation.“