Die Welt zu Gast und unter Generalverdacht

Offene Fragen um die Überwachungstechnik in Münchens neuer Fußballarena

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In Jeremy Benthams drakonischer Besserungsanstalt, dem berüchtigten „Panopticon“, sollten immerhin klare Spielregeln gelten. Im runden Gebäude bietet der zentrale Beobachtungsturm uneingeschränkte Sicht auf die Eingesperrten. Sie können sich der Beobachtung nicht entziehen und nicht feststellen, ob sie gerade beobachtet werden, aber sie wissen immerhin um die Möglichkeit permanenter Observation. Die höchst effiziente Beobachtung Vieler durch Wenige wurde zwar zum Vorbild der modernen Videoüberwachung, allerdings sind heute die Späher aus dem Bewusstsein der Ausgespähten verschwunden und das Ausmaß der Observation bleibt verborgen. Denn neueste Funk-Videokameras lassen ihre Vorläufer technisch so weit hinter sich wie ein MP3-Player Edisons Grammofon. Sie können ihr Material via Funk, Telefon oder Internet versenden und mittels biometrischer Programme zur Gesichtserkennung sofort mit allen möglichen Datenbanken abgleichen und auf jedem beliebigen Medium abspeichern. Zwar muss nach dem Bundesdatenschutzgesetz (§6b) auf vorhandene Überwachungstechnik deutlich hingewiesen werden, doch angesichts der inflationären Ausdehnung überwachter Areale geschieht das längst nicht überall oder nur ungenügend.

Luftaufnahme des Allianz-Arena. Bild: allianz-arena.de

Nehmen wir Münchens neue Fußballarena. Im Eröffnungsjubel wurde mit Superlativen nicht gespart, einmal abgesehen von den 280 Millionen Euro Steuergeldern für die Verkehrserschließung. So sehr auch jedes technische Detail andächtige Würdigung fand, so sehr sich die beteiligten Firmen mühten, vom Medienrummel mitzuprofitieren: Die Überwachungstechnik blieb außen vor. Dabei hatte Arena-Geschäftsführer Bernd Rauch im Jahr 2004 dem bayerischen Innenminister Günter Beckstein versichert, dass „das modernste Stadion der Welt (...) die höchsten Standards bei der Sicherheit erfüllen“ wird. Und als dann der Minister im März 2005 die Sicherheitseinrichtungen inspizierte, „imponierten“ (so die Betreiber) ihm „die für ihn relevanten Bereiche: Die fast schon luxuriösen Verwahrzellen (...) und die an exponierter Stelle unter dem Dach beheimatete Haupteinsatzleitzentrale im Befehlsstellenverbund mit Blick auf alle Tribünenbereiche der Arena“. „Wenn eines sicher ist“, so der Minister zufrieden, „dann die Allianz Arena“.

Bayerns Innenminister gehört zu den Verfechtern einer umfassenden Überwachung und zu jenen Hardlinern, denen Gewalttaten von Kleingruppen oder Einzelnen ausreichende Grundlage für eine Art präventiver Verfolgung sind, wie sie das Strafrecht bislang noch nicht kannte. Da ihm dazu keine Überwachungsmaßnahme weit genug geht und Datenschutzrechte als Luxus gelten, stellt sich die Frage, welche Technik da installiert wurde, die ihn so zufrieden macht. Denn im deutschen Rechtsverständnis ereignete sich ein dramatischer Paradigmenwechsel, indem an die Stelle der Unschuldsvermutung ein Generalverdacht trat, der einzig im Aufenthalt an einem bestimmten Ort gründet. Angesichts der steten Unterstellung krimineller Absichten als Normalzustand wird zuerst für einen bestimmten Zweck eine neue Technik eingeführt, um anschließend, unter Hinweis auf die dringende Notwendigkeit der Bekämpfung schwerster Straftaten, ihre Verwendung auszudehnen. Die Öffnung der Mautdaten zu Fahndungszwecken ist ein Beispiel. Wir erinnern uns: Entsprechende Befürchtungen von Datenschützern vor dem Start der Autobahnmaut galten als absurd.

Geheimniskrämerei und Wirrwarr der Zuständigkeiten

Die Presseabteilung des bayerischen Innenministers lässt sich erst nach mehreren Anfragen zu einer kurzen telefonischen Stellungnahme herab. Was man sich unter „höchsten Sicherheitsstandards“ im Stadion vorstellen darf? „Standen sie schon einmal an einem Skilift an? So funktioniert das auch im Stadion.“ Ob es richtig sei, dass dort erstmals generell alle Besucher auch mit Überwachungskameras biometrisch erfasst und ihre Daten automatisch mit Fahndungsdateien abgeglichen würden? Dazu könne man nichts sagen. Denn das Stadion sei Privatgelände und das Ministerium deshalb sowieso nicht zuständig. Man möge sich doch an die Betreiber wenden.

Der Stadionsprecher Werner Götz gibt sich genauso zugeköpft. Mal kann er „in der heißen Planungsphase“ (Sommer 2004) „keinerlei Information“ weitergeben, mal ist der zuständige Betriebsleiter im Urlaub (Sommer 2005), mal ist man für Presseinformationen gar nicht zuständig oder antwortet einfach nicht. Sogar die Frage, ob die Überwachungstechnik für die Besucher sichtbar ist und wie sie darüber informiert werden, läuft ins Leere. Die Möglichkeit der totalen Erfassung aller Besucher wird nicht bestätigt, aber auch nicht dementiert. Die Sicherheit im Stadion sei ohnehin Sache der Polizei. Man möge sich dorthin wenden.

Foto: allianz-arena.de

Die Polizei erklärt sich für nicht zuständig, weil das Stadion Privatgelände ist. Man möge sich doch bitte an die „München Stadion GmbH“ wenden. Wo immer man anfragt: Man stößt auf Geheimniskrämerei und eine entmündigende Informationspolitik. Im Wirrwarr der Zuständigkeiten für öffentliche und öffentlich zugängliche Areale bleibt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 1983 angesichts der Absage der Volkszählung festgestellt, auf der Strecke.

Deshalb muss auch der bayerische Datenschutzbeauftragte passen: Ihm obliegt nur die Kontrolle öffentlicher Räume. Dabei ist für ihn nicht von Belang, dass die Fußballarena zwar juristisch tatsächlich keinen öffentlichen Raum darstellt, aber so von tausenden Besuchern als solcher wahrgenommen und benutzt wird, dass sie öffentlich zugänglich ist und damit dem Bundesdatenschutzgesetz unterliegt.

In Bayern beaufsichtigt die Überwachungstechnologie in öffentlich zugänglichen Privaträumen die Regierung von Mittelfranken. Obwohl sich solche Räume auch in bayerischen Städten rapide ausdehnen, verfügt die Ansbacher Behörde gerade über fünf Vollzeitkräfte. Mehr als Stichproben sind deshalb nicht möglich. Undenkbar, Anlagen von der Größe des Münchner Stadions vor der Inbetriebnahme abzunehmen. Immerhin nimmt die Behörde nach längerem Hin und Her die Anfrage schließlich zum Anlass, selbst deswegen bei den Stadionbetreibern nachzufragen. Auf ihre mehrfachen schriftlichen Anfragen erhält auch sie keine Antwort. Ihr Leiter Günther Dorn erklärt, dass für diesen Fall zwar Zwangsmittel zur Verfügung stünden, die man bei einer x-beliebigen Firma auch anwenden würde. Aber im Fall der Fußballarena sieht man davon lieber ab, weil man sich angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Fußball-WM die Finger nicht verbrennen möchte.

Das Fußballstadion als Überwachungsarchitektur

Offenbar lässt ein derartiges weltweites Medienereignis keinen Raum für rechtliche und ethische Belange. Mit dem Kauf einer Eintrittskarte erklärt man gleichzeitig sein uneingeschränktes Einverständnis der eigenen Verwertbarkeit:

Jeder Ticketinhaber willigt unwiderruflich und für alle gegenwärtigen und zukünftigen Medien ein in die unentgeltliche Verwendung seines Bildes und seiner Stimme für Fotografien, Live-Übertragungen, Sendungen und/oder Aufzeichnungen von Bild und/oder Ton, die vom OK oder dessen Beauftragten in Zusammenhang mit der Veranstaltung erstellt werden.

Allgemeine Ticket-Geschäftsbedingungen“, Artikel 8, FIFA

Der Polizei kommt das entgegen: Während es ihr verboten ist, auf die persönlichen Daten Unverdächtiger zuzugreifen, kann ein Privatveranstalter alle Kundendaten beliebig abgleichen. Eine entsprechende Liste von Personen, die das Innenministerium als gefährlich einstuft, hat es vor der WM dem Organisationskomitee übergeben.

Auch die Architekten des Münchner Stadions mögen sich zum Thema Überwachung nicht äußern, obwohl Überwachung als Planungsvorgabe längst zum integralen Bestandteil von Architektur und ein Teil ihrer Nutzung geworden ist. Auf die Frage, wie das die Planung beeinflusste, stellt eine Mitarbeiterin des Büros Herzog & de Meuron in Aussicht, dass man die Anfrage „diskutieren“ werde. Eine Antwort erfolgt allerdings nicht. Vielleicht passt ein Gebäude, dessen Klarheit nur der Herstellung von Ordnung im Sinn herrschender Verhältnisse dient, schlecht zum Image von Stararchitekten: Innerhalb des Stadions gibt es keine vertikale Durchlässigkeit und keine Möglichkeit, zwischen den Rängen zu wechseln. Es wird schon vor dem Betreten genau ausdifferenziert, wer wo hingehen darf. Was nach außen einladend und leicht wirken soll, ist in Wahrheit eine isolierte Festung am Stadtrand für kontrollier- und steuerbare Sport- und Ereigniswelten, in der die Fans nur noch als Statisten der Fußballshow für die abgeschotteten VIPs dienen.

Aus „Sicherheitsgründen“ wird legitimiert, dass Menschen immer weniger vor Überwachung geschützt sind, gleichzeitig werden immer häufiger Auskünfte verweigert und der demokratischen Kontrolle entzogen, deren Verteidigung sie doch angeblich dienen. Schutz der Demokratie durch ihre Einschränkung: Das ist eine Möglichkeit, wie sich der Rechtsstaat selbst abschaffen kann. In einer demokratischen Gesellschaft kontrollieren die Bürger den Staat, nicht umgekehrt. Es ist allerdings von einer gewissen Ironie, dass Bürgerrechte aus Anlass des Events eines Privatveranstalters drastisch eingeschränkt werden, das die Steuerzahler nach Einschätzung von Jens Weinreich, Sportredakteur der „Berliner Zeitung“, rund sechseinhalb Milliarden Euro kosten wird.