Katerstimmung

Sechs Tage nach dem Beginn der israelischen Offensive im Gazastreifen beginnt auf beiden Seiten Ernüchterung einzutreten. Die Lage im Gazastreifen spitzt sich derweil immer mehr zu

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In der Nacht zum Montag stellten die Entführer der israelischen Regierung ein Ultimatum: Sollten bis Dienstag Morgen nicht Tausend Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen werden, müsse Israel die Konsequenzen tragen. Doch ein Sprecher von Premierminister Ehud Olmert sagte, von einer Fristsetzung habe man nichts gehört. Das israelische Militär setzte derweil seine „Operation Sommerregen“ über das Wochenende fort: In der Nacht zum Sonntag wurde der Amtssitz von Regierungschef Ismail Haniyeh in Gaza-Stadt angegriffen; der Ministerpräsident war zur Zeit des Angriffs nicht anwesend. Bereits einen Tag zuvor hatte die Luftwaffe insgesamt 22 Straßen bombardiert und damit das Reisen von Ort zu Ort zu einem beschwerlichen Hindernislauf gemacht. Außerdem wurde erneut das Gebäude des Innenministeriums angegriffen. Israelische Artillerie feuert zudem nahezu ununterbrochen Granaten auf Gebiete, von denen aus Kassam-Raketen auf nahe israelische Städte abgeschossen werden. Dennoch geht der Raketenbeschuss weiter: Eine fehlgeleitete Kassam traf einen Stromtransformator und sorgte für weitere Stromausfälle. Vom entführten Soldaten Gilad Schalit fehlt derweil weiterhin jede Spur: Alle Versuche von ägyptischen und französischen Regierungsvertretern, die Hamas zu seiner Freilassung zu drängen, schlugen bisher fehl. Mittlerweile drohen die Ägypter, ihre Bemühungen einzustellen. Die gute Nachricht: Am Sonntag wurde der Kontrollpunkt Karni an der Grenze nach Israel vorübergehend für die Einfuhr von Benzin und Nahrungsmitteln geöffnet.

Gaza nach einem israelischen Luftangriff in der Nacht zum Montag. Foto: KSI-LeClerc

Es war eine schier endlose Karawane aus Lastwagen, die sich am Sonntag vom Kontrollpunkt Karni in Richtung Gaza-Stadt bewegte. Schwer beladen, brachte sie Güter mit, die nach einer Woche der vollständigen Abriegelung des Landstrichs dringend benötigt werden: Reis, Öl, Trockenmilch unter anderem. Und Benzin, das vor allem gebraucht wird, um die Generatoren von Krankenhäusern und die Pumpen der Wasserwerke zu betreiben, die ohne Strom sind, seit Israels Luftwaffe in der Nacht zum Mittwoch ein Elektrizitätswerk zerstört hatte.

Israelische Soldaten waren in Gaza auch an den Tagen fünf und sechs seit Beginn von „Operation Sommerregen“ in der Nacht zum Mittwoch weit und breit nicht in Sicht: Das Militär hielt weiterhin das Gebiet um den 2003 stillgelegten Flughafen an der ägyptischen Grenze besetzt und wartete ab. Der eigentlich für Donnerstag Nacht geplante Beginn der Offensive im Norden war am Abend zuvor auf Anordnung des israelischen Regierungschefs Ehud Olmert in letzter Minute verschoben worden.

Doch die Auswirkungen der Militäroperation sind deutlich sichtbarer, spürbarer, hörbarer, als sie es in den Tagen zuvor gewesen waren: Am Himmel ziehen Kampfflugzeuge ihre Kreise und durchbrechen nahezu im Minutentakt die Schallmauer – ein Geräusch, das auf Dauer selbst Hartgesottenen an die Substanz geht. In den Nächten sind mal näher, mal weiter weg Explosionen zu hören. Die Hilfslieferungen am Sonntag machten sich bisher so gut wie nicht bemerkbar: Auf den Straßen sind mittlerweile nur noch wenige Autos unterwegs: Der gelieferte Treibstoff wird ausschließlich für die Wasserpumpen und Generatoren der Krankenhäuser gebraucht. Dort wurden am Montagmorgen wieder erste Operationen durchgeführt. Dennoch bleibt eines der Hauptprobleme weiter bestehen: In den Krankenhäusern fehlt es an eigentlich selbstverständlichen Arzneimitteln wie Aspirin, aber auch an Betäubungsmitteln und Gipsbinden: Sie wurden am Sonntag nicht mitgeliefert, weil das Internationale Rote Kreuz „keine Notwendigkeit gesehen habe“, so ein Sprecher. Warum nicht, konnte er indes nicht erklären: „Ich bin mit den weiterführenden Details der Angelegenheit leider nicht vertraut.“

Bei den Vereinten Nationen beobachtet man die Entwicklungen weiterhin mit Sorge. Die Lieferungen seien einfach nicht genug, sagt ein Mitarbeiter: „Wenn Karni wieder geschlossen wird, werden wir schnell wieder eine Situation wie vorher sehen. Die Versorgung mit Strom, Wasser, Nahrungsmitteln und lebenswichtigen Medikamenten muss dauerhaft sichergestellt werden, wenn wir eine Katastrophe verhindern wollen. Die Lage ist nach wie vor sehr ernst.“

Ein israelischer Kampfhubschrauber über dem Gazastreifen. Foto: KSI-Price

„Wir müssen alle einsehen, dass wir verloren haben“

Er übertreibt nicht: Auch am Montagmorgen sind Mehl, Öl, Reis, die Hauptnahrungsmittel in den palästinensischen Gebieten, in den Läden so gut wie gar nicht zu finden, nachdem die Einfuhren in den Gazastreifen schon monatelang vor Beginn der Offensive nur stockend verlaufen waren. Milch hat hier schon lange niemand mehr gesehen: „Mit alledem kann man einigermaßen fertig werden, aber das absolut Wichtigste ist, dass die Wasserversorgung aufrecht erhalten wird: Hier herrschen tagsüber Temperaturen von mehr als 30 Grad; sie können sich sicher vorstellen, was da Flüssigkeitsmangel bei Kindern und älteren Menschen anrichten kann – sie könnten ja nicht einmal mehr behandelt werden.“ Immerhin hat sich die israelische Regierung am Sonntag dazu bereit erklärt, in den kommenden Tagen Gaza an das israelische Stromnetz anzubinden. Wann die Arbeiten beginnen, wann sie abgeschlossen sein werden, ist aber auch am Montagmorgen noch unklar.

Spürbar ist aber auch die Ernüchterung, die viele Menschen nach ihrer anfänglichen Begeisterung über die Entführung des 19-jährigen israelischen Soldaten auf israelischem Gebiet am vergangenen Sonntag mittlerweile ergriffen hat: Während die meist jugendlichen Kämpfer auf ihren Posten von „Blutströmen“ sprechen, die sich über Israel ergießen würden, und die restlose Vernichtung des „zionistischen Gebildes“ geloben, wünschen sich viele, sie könnten die Zeit zurück drehen. „Ich habe mich auch gefreut, als ich von der Entführung gehört habe“, sagt Ala Marsouk, ein Ladenbesitzer, „ich habe gedacht, jetzt müsse uns Israel endlich mal zuhören, das war ein schöner Traum – schauen Sie sich um: Ich habe kaum noch was zu verkaufen. Die Gefangenen haben es gut: Im Gefängnis gibt es wenigstens was zu essen.“ Immer öfter richtet sich der Zorn auch gegen die Hamas: Sie solle endlich realistisch werden, auch mal an die Menschen denken, ist dann zu hören: „Haben die wirklich geglaubt, sie könnten Israel in die Knie zwingen?“, fragt Abed Abu Hussein, ein Taxifahrer: „Wir müssen alle einsehen, dass wir verloren haben, auch die Hamas. Die wird uns noch alle in den Abgrund reißen.“

So vermuten viele palästinensische und ausländische Journalisten in Gaza, dass das Ultimatum, das die Entführer am Montagmorgen stellten, vor allem interne Hintergründe hat: „Ihr Vorgehen hat sich geändert“, sagt Asis Nazif, ein ägyptischer Reporter: „Bis jetzt hat es ihnen Spaß gemacht, die Israelis zu provozieren; jetzt wollen sie die Sache zu einem schnellen Ende bringen – wenn sie es Ernst meinen.“ Denn es besteht auch die Möglichkeit, dass es sich dabei um einen neuen Schachzug im Krieg der Worte handelt, den sich Israelis und Palästinenser abseits von den militärischen Konfrontationen liefern. Immer wieder appellieren Eltern von in Israel inhaftierten Palästinensern an die Eltern des Soldaten und umgekehrt; offene Briefe werden geschrieben, Pressekonferenzen gegeben, und dabei wird stets viel geweint; immer mit dem Ziel, die andere Seite psychologisch möglichst stark unter Druck zu sehen. Doch die vorherrschende Meinung ist am Montag, dass den Entführern einfach die Fälle wegschwimmen: „Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich geändert; bald könnten sie die Öffentlichkeit gegen sich haben.“

Die Hoffnung, dass die Vermittlungsbemühungen der Regierungen von Ägypten und Frankreich bald ein Ergebnis erzielen werden, schwindet derweil. Präsident Hosni Mubarak hat die Verhandlungen zwar zur Chefsache gemacht und ruft immer wieder bei seinem syrischen Amtskollegen Baschar al Assad an: Er solle den Hamas-Chef Khaled Maschal unter Druck setzen, sonst werde er die Konsequenzen tragen müssen. Doch al Assad sperrt sich: Auf keinen Fall werde er sich einmischen, erklärt ein Sprecher der syrischen Regierung am Montag erneut. So herrscht bei den Vermittlern Frust. Die Ägypter drohten am Sonntag damit, aus der Sache auszusteigen, wenn sich nicht bald etwas tut. Doch auch sie gestehen ein, dass sie nicht wissen, was das sein sollte: Israels Regierung besteht auf eine bedingungslose Freilassung des Soldaten und betont immer wieder, es werde keinen Gefangenenaustausch geben. Die Entführer wollen aber genau das.

Lastwagen mit Hilfsgütern warten am Sonntag auf die Einreise in den Gazastreifen. Foto: O. Eberhardt

In der israelischen Öffentlichkeit regt sich Protest gegen eine Ausweitung von „Operation Sommerregen“

Dennoch hatte Israels Regierung den eigentlich für Donnerstag Nacht geplanten Beginn der Offensive im Norden des Gazastreifen kurzfristig auf unbestimmte Zeit verschoben, um den Vermittlern mehr Zeit zu geben – ein Schritt, der wütende Reaktionen der beteiligten Offiziere im Generalstab hervorgerufen zu haben scheint: „Es gibt Leute beim Militär, die gerne das gesamte Programm durchziehen würden, wenn es schon einmal die Gelegenheit dazu gibt“, sagte ein anonymer Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums am Freitagnachmittag dem staatlichen Rundfunk: „Gerade wegen solchen Fällen ist gut, dass die endgültigen Entscheidungen über den Beginn einer Offensive im Büro des Premierministers getroffen werden. Wir dürfen niemals vergessen, dass es das Ziel dieser Operation ist, die Freilassung des entführten Soldaten zu erreichen.“

Doch die Zahl derer, die gerne den Beginn der Nord-Offensive erleben würden, ist auch außerhalb des Verteidigungsministeriums groß. Vor allem in der politischen Rechten, aber auch innerhalb von Olmerts Partei Kadima und selbst bei der Arbeiterpartei wird gefordert, die Sache zu Ende zu bringen. In den Städten in der Nachbarschaft zum Gazastreifen regt sich schon seit Wochen heftiger Protest gegen die Stillhaltetaktik der Regierung in Bezug auf den Raketenbeschuss. Vor allem der Likud-Block, dessen Fraktion bei den Parlamentswahlen Ende März mehr als halbiert worden war, hofft darauf, die Wähler dort zu sich zurück holen zu können. Die Arbeiterpartei, deren aus dieser Region stammender Vorsitzender, Verteidigungsminister Amir Peretz, einst die Menschen dort zu den Sozialdemokraten holte, muss deswegen fürchten, diese Stimmen wieder zu verlieren.

Doch die Partei ist sich nicht einig: In der Öffentlichkeit regt sich Protest gegen eine Ausweitung von „Operation Sommerregen“ über das absolut Notwendige hinaus. Innerhalb der Sozialdemokraten wird immer offener Peretz' Amtsführung kritisiert; er sei zu einer Marionette geworden, die kritiklos alles hinnehme, was ihm die Militärs vorsetzen: „Einer seiner größten Vorteile in diesem Amt hätte sein können, dass er eben keine militärische Vergangenheit hat“, sagt Ofir Pines-Pas, ein hochrangiger Funktionär. Peretz hatte wegen einer Verletzung seinen Militärdienst nicht beendet: „Leider erweist sich dies nun als Nachteil: Peretz fragt: ,Was können wir tun’ und der Generalstab antwortet: ,Das und das und das’. Das Ergebnis ist, dass die Operationen immer waghalsiger und gefährlicher für die Zivilbevölkerung werden, weil der Minister die möglichen Konsequenzen nicht abschätzen kann.“ Der Verteidigungsminister selber schweigt dazu und gibt sich moralisch: Ordnet Ermittlungen an, wenn Frauen und Kinder ums Leben kommen, und betont ansonsten immer wieder, dass es seit Beginn von „Operation Sommerregen“ auf beiden Seiten noch keine Todesopfer gegeben hat – wenn man von denjenigen, die vermutlich ums Leben kommen werden, weil sie in diesen Tagen von den Krankenhäusern in Gaza nicht behandelt werden können, einmal absieht.

So wird in der Öffentlichkeit zunehmend die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Offensive gestellt: In vielen israelischen Städten versammelten sich am Freitag Nachmittag Menschen zu Protestkundgebungen; in den Foren der Internetausgaben von israelischen Medien wird heftig über Sinn und Zweck der Operation gestritten: Während in den englischsprachigen Ausgaben von Haaretz, Jerusalem Post YNet meist rechtslastige Beiträge aus dem Ausland zu lesen sind, haben in den hebräischen Versionen die Kritiker die Überhand. Auch die Medien selber sind nicht sonderlich davon überzeugt, dass die Offensive notwendig ist: „Wenn es darum geht, die Palästinensischer im Gazastreifen mürbe zu machen, wird das Ziel schon in wenigen Tagen erreicht sein“, kommentierte der Fernsehsender Kanal 2 am Freitag Abend: „Aber die Regierung muss sich die Frage stellen lassen, ob es das Leben von einem Soldaten rechtfertigt, das Leben von Hunderttausenden zu zerstören und eine ebenso teuere wie zerreibende Militäroperation durchzuführen.“ Und die Zeitung Ma'ariv fragte am Freitag: „Was kommt eigentlich danach? Wer wird die Palästinenser führen? Wer wird die Infrastruktur in Gaza wieder aufbauen? Wir werden es sein, weil wir die Verantwortung tragen, solange es keinen palästinensischen Staat gibt, und wir werden diese Antwort nicht mögen.“