Widerstand gegen Kinderabschiebungen

Lehrer, Eltern, Politiker und Hilfsorganisationen drohen in Frankreich mit zivilem Ungehorsam, weil mit Beginn der Sommerferien Tausenden von ausländischen "illegalen" Schulkindern die Ausweisung droht

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Mit dem 1. Juli ist der Aufschub vor der Abschiebung, den Innenminister Sarkozy im Herbst „illegalen“ Migrantenfamilien eingeräumt hatte, damit deren Kinder das Schuljahr beenden können, abgelaufen. Schon diese „Gnadenfrist“ hatte der Innenminister damals quasi gewähren müssen, weil Schulen und Gymnasien lautstark, sprich medienwirksam, gegen die drohende Abschiebung ihrer ausländischen Schüler protestiert hatten. Angesichts der nun seit einigen Wochen andauernden Solidaritätswelle für die „sans papiers“ (ohne Papiere) gilt es nun für den selbsternannten Präsidentschaftskandidaten, der die drohende Unpopularität wie der Teufel das Weihwasser scheut, Manöver zu ersinnen, um nicht als „Kinderjäger“ dazustehen. Ein Titel, dem ihm das „Netzwerk Erziehung ohne Grenzen“ (RESF), das die zahlreichen Aktionen zu Gunsten der klandestinen Migrantenfamilien koordiniert, verliehen hat. Besonders seit Anfang Juni die Polizei in einem Kindergarten interveniert hatte, um zwei kurdische Kinder für die Ausweisung abzuholen, steigt die Anzahl der Franzosen, die „republikanische Patenschaften“ für die kleinen Abschiebekandidaten übernehmen. In der Hoffnung, sie damit beschützen zu können.

Die Menschenrechtsliga (LDH), welche übrigens anlässlich der Dreyfus-Affäre gegründet wurde, hat am Donnerstag einen Appell lanciert, in dem sogar dazu aufgefordert wird, das Gesetz zu brechen falls notwendig. Angesprochen sollen sich all diejenigen fühlen, denen „schlecht wird angesichts des Umstands, dass immer mehr Kinder und Jugendliche Opfer einer verrückt gewordenen Politik werden“. Weiter heißt es: „Unser Gewissen verbietet uns, Komplizen dieser Kinderjagd zu werden.“ Zahlreiche Persönlichkeiten, wie Patrice Chéreau, Jane Birkin, der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë oder der Generalsekretär der Sozialisten, François Hollande, haben ihre Unterstützung bereits angemeldet. Ob sie bereit sein werden, ihre Unterstützung bis in die Illegalität zu treiben, steht auf einem anderen Blatt.

Denn wer einem dieser „sans-papiers“-Kinder und seiner Familie Obhut gewährt und sie gar vor der Polizei versteckt, wie manche „Beschützer“ es androhen, der riskiert immerhin bis zu 5 Jahren Gefängnis und 30.000 Euro Geldstrafe. Aber soweit ließe es die Justiz ohnehin nur äußerst selten kommen, wie der Sprecher des RESF, Richard Moyon, erklärt. Falls es tatsächlich zu einer Verurteilung wegen „Hilfe oder Unterstützung eines sich illegal auf französischem Territorium befindlichen Ausländers“ komme, so sei das Urteil ohnehin meist rein symbolischer Natur. Die „republikanischen Paten“ verpflichten sich freilich auch zu legalen Hilfsangeboten, beispielsweise den Familien bei ihren Behördenwegen für den Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung zu unterstützen. In Marseille, sind gleich 400 solcher Patenschaften für 700-800 maghrebinische und osteuropäische Familien vor den Augen eines Bezirksbürgermeisters übernommen worden. Denn die „Paten“, ob nun Privatpersonen, Gewerkschaften, Parteien oder Hilfsorganisationen, bestehen auf den quasi offiziellen Charakter der „Zeremonie“, die sich in einem Rathaus, einer Kirche, einer Schule oder einem Kino abspielen kann. In Nantes wurden dieses Wochenende 64, in Rennes ca. 40 Kinder mit einem „Paten“ ausgestattet. Der Pariser Bürgermeister hat 12 bedrohten Familien sein „Patenschaftszertifikat“ ausgestellt. Selbst der Senat musste bereits für eine solche „Zeremonie“ herhalten.

Diese zur Zeit in ganz Frankreich stattfindenden „Patenschaften“ besitzen freilich keinen legalen Wert, aber sollen vor allem die Verantwortung symbolisieren, welche für die ausländischen Familien übernommen wird. Nebenbei erregen diese zahlreichen Solidaritätsbekundungen freilich auch die politische und mediale Aufmerksamkeit. Manche Medien werden sogar selbst zu Paten. So hat die Tageszeitung Liberation eine 4-jährige, in Frankreich geborene Kolumbianerin unter ihre Fittiche genommen. Die ganze Familie der kleinen Mélanie Ortiz, die den Kindergarten besucht, hält sich seit mehr als 7 Jahren „ohne Papiere“ über Wasser. „Falls die Familie eines in Frankreich einschulten Kindes nun tatsächlich für die Ausweisung abgeholt werden sollte, so wird das nun vor den Augen ihrer Paten und der Fernsehkameras geschehen müssen, die sie bis zum Flughafen begleiten werden“, wie der RESF-Sprecher Moyon, ausdrücklich betont. Die Gewerkschaften des Flugpersonals mobilisieren sich nun übrigens auch gegen die drohenden Kinderabschiebungen und rufen dazu auf, diese wenn möglich zu verhindern. Am Samstag, pünktlich zum Ablaufdatum der „Gnadenfrist“, demonstrierten zwischen 7 200 laut Polizei und 50.000 Personen laut Organisatoren in Paris für die Regularisierung sämtlicher illegalen Zuwanderer.

Politische Ausweichmanöver

Angesichts dieser „Generalmobilisierung“ für die „Sans-Papiers-Familien“ wird es der Innenminister schwer haben, seine angepeilten Abschiebequoten durchzubringen. Im Senat verkündete er Anfang Juni noch stolz, dass diese in den letzten drei Jahren verdoppelt wurden: 2002 sollen 10.000, 2005 20.000 Personen erfolgreich ausgewiesen worden sein. Heuer sollen es 25.000 werden. Für Sarkozy aber immer noch nicht genug, wie es scheint, denn Spanien, das bloß 40 Millionen Einwohner zähle, im Gegensatz zu Frankreichs 60 Millionen, weise pro Jahr 50.000 Personen aus: „Es wäre unverantwortlich, dass Frankreich das einzige Land der Welt sein sollte, wo die Verschulung eines Kindes, ohne jegliches andere Kriterium, dazu auslangen sollte, den Eltern ein Recht auf eine Aufenthaltsgenehmigung einzuräumen.“ Es wäre eine regelrechte Einladung an die internationalen Schlepperbanden, wie der Innenminister betonte.

Doch wie es scheint, fühlte sich der oberste Polizist der Nation dann doch durch den wachsenden Druck der Öffentlichkeit dazu bemüßigt, Herz,, oder wie er es nennt, „Menschlichkeit“ zu zeigen. Mit einem Rundschreiben an die Landespräfekten, welche für die Abschiebemodalitäten zuständig sind, stellte er am 13.Juni für manche Familien mit Schulkindern die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen in Aussicht. Familien, deren Kinder seit mindestens 2 Jahren in Frankreich leben, Kinder, die in Frankreich geboren sind, seit mindestens einem Jahr die Pflichtschule besuchen, keine bestehende Verbindung mit dem Ursprungsland der Eltern mehr hätten, französisch beherrschen und deren Familie einen reellen Integrationswillen bekunden, könnten in den Genuss einer Ausnahmegenehmigung gelangen. Wer so nett ist, freiwillig in sein Heimatland zurückzukehren, dem winken pro Paar 3.500 Euro und für jedes Kind 1.000 Euro „Heimkehrhilfe“. Laut dem Innenministerium seien 750 Familien von dieser Ausnahmeregelung betroffen. Die Hilfsorganisationen sprechen hingegen von 4.000 Familien, was ca. 10.000 Personen ausmachen soll, die ohne Papiere ein in Frankreich verschultes Kind haben sollen.

Seit dieses Rundschreiben veröffentlicht wurde, herrscht ein regelrechter Ansturm auf die Einwanderungsbehörden, die dem Andrang nur schwerlich nachkommen können. Zudem sollen die Präfekturen einige Interpretationsschwierigkeiten mit der Formulierung der Ausnahmeregelung haben: Wie einen „reellen Integrationswillen“ feststellen? Und was gilt als „bestehende Verbindung mit dem Ursprungsland“? Könnte eine im Heimatland verbliebene Großmutter eine solche Anbindung sein? Um die unterschiedlichen Interpretationsweisen der Präfekturen möglichst zu harmonisieren, wurde nun in aller Eile ein „nationaler Vermittler“ ernannt. Arno Klarsfeld, Rechtsanwalt und Freund Sarkozys, dem diese Aufgabe zuteil wurde, verspricht einstweilen seiner Mission „mit Wachsamkeit und Zärtlichkeit“ nachzukommen. Die betroffenen Familien hätten noch bis zum 13. August Zeit, um ihren Antrag für diese Ausnahmeregelung zu stellen. Wer allerdings nicht den im Rundschreiben gestellten Bedingungen entspreche, dem drohe freilich nach wie vor die Abschiebung.

„Erziehung ohne Grenzen“ (RESF) zeigt sich derweilen ob des offensichtlichen Erfolgs der zahlreichen Solidaritätsaktionen der letzten Wochen regelrecht überrascht, erinnert aber daran, dass nach wie vor 4.000 Familien, und nicht bloß 750, von einer Ausweisung bedroht seien. Der Innenminister betonte am Montag nochmals, dass bestimmt nicht alle Familien mit einem Aufenthaltsrecht ausgestattet würden. Außerdem stehen den Antragstellern im Falle einer Abweisung einer Sondergenehmigung keine Rechtsmittel zur Verfügung, denn es handle sich weder um ein Gesetz noch um ein Dekret, wie der Rechtsanwalt Stéphane Maugendre, anmerkt anmerkt: „Falls Nicolas Sarkozy wirklich den Willen dazu gehabt hätte, Familien, deren Kinder in Frankreich die Schule besuchen, in Schutz zu nehmen, so hätte er ein Dekret erlassen, das es erlaubt hätte, vor Gericht Einspruch zu erheben.“ Für die Hilfsorganisationen, die den solidarischen Widerstand koordiniert haben, stellt sich zudem die Frage, was mit den Kindern der „sans-papiers“ nach dem 13. August geschehen wird. Wie es aussieht, könnte dann das Spiel wieder von vorn beginnen.