Der stumme Frühling droht

Vogelsterben ist ein weltweites Problem

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Es soll ja Menschen geben, die Mordfantasien entwickeln, weil vor ihrem Fenster von früh bis spät ein Grünfink seine Erkennungsmelodie zum Besten gibt. Dabei gelten Vögel als Indikator für Artenreichtum und – in vogelfreundlichen Ländern wie Großbritannien – dementsprechend auch für Lebensqualität. Umgekehrt liefert die Aussterberate von Vögeln wichtige Hinweise auf eine Verschlechterung der Umweltbedingungen.

Eine Gruppe amerikanischer Forscher hat untersucht, wie aussagekräftig die üblicherweise verwendeten Daten sind. Das Ergebnis: Das globale Vogelsterben wurde und wird schwer unterschätzt. Allerdings geben sie zu bedenken, dass Vögel nur bedingt Hinweise auf die allgemeine Entwicklung liefern. Erstens gibt es zahlreiche Tierarten, die noch viel stärker unter dem Einfluss des Menschen zu leiden haben als Vögel. Zweitens bekommen Vögel generell sehr viel mehr Aufmerksamkeit als beispielsweise Reptilien, die weitaus stärker gefährdet sind.

Trotzdem sind die Zahlen alarmierend. Als wäre es aus der Vogelperspektive betrachtet nicht schon schlimm genug, dass mit der Ausbreitung der Spezies Mensch die Zahl der Vögel schwer dezimiert wurde, soll auch das Artensterben weiterhin rasant zunehmen.

Der Dodo (Raphus cucullatus) lebte glücklich und zufrieden auf Mauritius, bis die Insel von hungrigen Seefahrern heimgesucht wurde. Ende des 17. Jahrhunderts war der friedliche Bodenbrüter ausgestorben, also bereits Jahrzehnte bevor er 1758 von Linné, dem Pionier der Taxonomie, beschrieben wurde. (Bild: Katja Schmid)

Aktuell kennt die Wissenschaft rund 10.000 verschiedene Vogelarten, wobei man davon ausgeht, dass seit dem Jahr 1500 nach Christus etwa 1,3 Prozent aller Vogelarten ausgestorben sind. Eine Liste der offiziell bedrohten und ausgestorbenen Vögel wird unter anderem von Birdlife veröffentlicht.

Ausgedrückt wird das Artensterben mit der Formel E/MSY, wobei E für extinctions (Anzahl der ausgestorbenen Arten) und MSY für per million species per year (pro Millionen Arten pro Jahr) steht. Ohne den Einfluss des Menschen läge der Wert angeblich bei 1 E/MSY, also bei gerade Mal einer ausgestorbenen Vogelart pro Jahrhundert.

Doch was genau bedeuten diese Zahlen? Stuart Pimm, Peter Raven und ihre Co-Autoren haben genauer hingeschaut und ihre Ergebnisse in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins PNAS – eine Publikation der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften – veröffentlicht.

Der Studie zufolge gibt es drei wesentliche Probleme beim Umgang mit Daten zum Vogelsterben: Erstens wächst die Zahl der bekannten Arten vor 1800, weil hier und da fossile Überreste gefunden werden. Dadurch relativieren sich die bislang bekannten Daten. Zweitens wurde die Hälfte der heute bekannten Vogelarten erst nach 1850 beschrieben. Es fehlen also wesentliche Informationen über die Zeit davor. Deshalb sollte die Aussterberate ausdrücken, wie sich die betroffene Art seit der wissenschaftlichen Erstbeschreibung entwickelt hat, so die Forderung der Autoren. Drittens sind vermutlich mehr Arten bereits ausgestorben als offiziell bekannt gegeben wird. Da es mitunter recht schwierig ist zu beurteilen, ob eine Vogelart wirklich ausgestorben oder nur sehr schwer aufzuspüren ist, wartet man erst geraume Zeit ab, bis eine Art offiziell für ausgestorben erklärt wird.

Berücksichtigt man all diese Faktoren, liegt die Rate der aussterbenden Vogelarten im Schnitt bei etwa 100 E/MSY. Wobei die Forscher hinzufügen, dass die Rate in den vergangenen Jahrzehnten auf unter 50 E/MSY gesunken ist, weil es entsprechende Schutzmaßnahmen gab. Ohne diese Maßnahmen läge die Aussterberate vermutlich bei 150 E/MSY.

Trotz dieser eigentlich hoffnungsvollen Entwicklung gehen die Autoren davon aus, dass die Aussterberate von Vögeln im 21. Jahrhundert auf rund 1000 E/MSY ansteigen wird. Falls die Regenwälder und andere Lebensräume mit unvermindertem Tempo zerstört werden, könnte die Rate sogar auf 1500 E/MSY ansteigen. Wobei die globale Erwärmung das Vogelsterben zusätzlich anheizt. Eine weitere, relativ neuartige Bedrohung geht von Schleppnetzfischerei aus, durch die drei Viertel der insgesamt 21 Albatrossarten gefährdet sind. Außerdem können eingeschleppte Tierarten den heimischen Arten den Garaus bereiten – so geschehen auf der Insel Guam im Nordwestpazifik, wo Braune Baumschlangen (Boiga irregularis) sämtliche einheimische Vögel und andere Kleintiere verspeist haben. Ähnlich verheerend war seinerzeit die Verbreitung der Ratte in Ozeanien durch polynesische und europäische Seefahrer.

Bislang nicht gefährdet: Der Grünfink (Bild: Wikipedia, Marek Szczepanek)

Zwar werden auch heute noch bislang unbekannte Arten entdeckt, doch das bedeutet nicht unbedingt, dass diese neuen Arten besonders gute Aussichten hätten. Im Gegenteil: die Autoren der Studie haben festgestellt, dass paradoxerweise genau jene Spezies am stärksten gefährdet sind, die erst kürzlich entdeckt wurden. Insofern stehen die Chancen für das Überleben des Grünfinks (Carduelis chloris) recht gut. Schließlich wurde er bereits um 1758 von Linné höchstpersönlich beschrieben. Pech für den, der morgens von ihm geweckt wird. Und doch eine der netteren Arten, einen Vogel zu haben.