When The Music's Over

Reflexionen aus der beschädigten Welt der WM-Party-Patrioten

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Fußball wirft quälende philosophische, theologische, historische, anthropologische, psychologische, mediale, ökonomische, politische, postmoderne und mitunter selbst sportive Fragen auf, die reflektiert und konstruiert, aber auch gnadenlos dekonstruiert oder hoffnungslos überhöht werden müssen. Das verwundert vor allem deshalb, weil doch gerade Fußball als tröstende Komplexitätsreduktion in unübersichtlichen Weltverhältnissen erscheint: Eine kleine Population von Teilnehmern, eine Zeitbegrenzung im Spielfilm-Format, ein überschaubarer Raum und vor allem – eine digital nicht ausdeutbare Weltkonstruktion: 1 oder 0. Muss man jenseits von Ludwig Wittgenstein gerade über solche Dinge reden, über die sich nichts und wenig sagen lässt, weil anders Identität, Gemeinschaft und reflexive Balltheorien nicht mehr möglich sind?

Die Angst der Denker vor dem Seitenaus des Reflexionsraums

Längst reichen einfache Wahrheiten „Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten“ nicht mehr aus, dieses abgründigste aller Phänomene, zumindest für einige Wochen, vom runden Leder in das Eckige der Theorien zu überführen. Sepp Herberger, dieser verschmitzte Stratege, der ein für alle Mal klar stellte, dass auch der deutsche Kleinbürger über ungeahnte Reflexionsspielräume und perfide Techniken verfügt, um sich und seinesgleichen in der Welt da draußen durchzusetzen, war erst der spielphilosophische Anpfiff. Danach wurde die Reflexion jenseits des Rasens zum Theoriespiel ohne Grenzen, dem sich nicht nur das philosophische Quartett, angeführt von Peter Sloterdijk, mannschaftsorientiert stellt, sondern Ball-Theoretiker aller Couleur.

Nur vordergründig betrachtet ist der Ball also so rund wie unberechenbar, das fliegende „Ding an sich“ wird nun mit viel heißer Luft aufgepumpt, um geradewegs vom Schein zum Sein zu fliegen. Theoretische Anstrengungen der Chefdenker aller Länder vereinigen sich so aufdringlich wie die Bandenwerbung, die Werbung eben für diese oder jene Bande, die nach Aufmerksamkeit und Käufern giert. Denn erst heimlich, dann immer unverhohlener outeten sich zahlreiche Kopffüßler, um auf dem etwas anderen Campus schnöde Ball-Physik in tiefe Metaphysik zu verwandeln oder die Ästhetik des Spiels als höhere Kulturschöpfung zu feiern.

Der drippelstarke Fußballphänomenologe Dirk Schümer hat in einem der wenigen lesenswerten Fußballreflexionsbücher "Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs" einen tiefsinnigen Querpass von Sepp Herberger zu Martin Heidegger geschossen. Der Fundamentalontologe, in seinem anderen „Dasein“ zeitweise linker Läufer beim FC Meßkirch und Beckenbauer-Aficionado, „weste“ tief und leidenschaftlich in den Tor-Heiten des Fußballs. Allein die Existenzialphilosophie vermag wohl die „Ballvergessenheit“ des Stürmers vor dem Elfmeter zu deuten: Wovor die Angst sich ängstet, ist das einsame Auf-dem-Platz-Sein. „Sein und Zeit“ kann zur Fußballontologie umgedeutet werden, wenn die Restminuten nicht mehr zum Ausgleich reichen, das Dasein die „Ent-Fernung“ zum gegnerischen Tor verfehlt und der Abpfiff das Nichts der Niederlage in uns nichten lässt.

„Ist klar diese Wörter, ist möglich verstehen, was ich hab´ gesagt?“ Aber ob nun Giovanni Trapattonis Wutreflexionen, Heideggers Fundamentalabstöße oder die einfacheren Denkmuster der Südkurve herangezogen werden, längst ist die Philosophie wieder zur Wasserträgerin der Theologie mutiert, um das „Wunder von Bern“ und alle sehnsüchtig erwarteten Folgewunder dogmatisch zuverlässig zu interpretieren. "Die hohen und niedrigen Feiertage des Fußballs sind an die Stelle des Fest- und Heiligenkalenders im Kirchenjahr getreten" (Dirk Schümer) und damit erschließen sich unzählige Analogien zwischen Kirche und Fußball, Paradies und WM-Sieg, Sündenfall und Strafstoß, Straf- und Altarraum, Litaneien und Stadionchören bis hin zu Messgewändern und Fan-Kutten neben allen anderen liturgischen Regeln, die nunmehr einen neuen, doxologisch runderneuerten Sinn bekommen. Ersetzt das WM-Ticket Taufe und Eucharistiefeier, weil erst der Glaube an die Verwandlung von Laufstärke und Zielgenauigkeit in reale Tore so selig macht, wie zu Lebzeiten keiner seliger werden könnte?

Wer einen durch und durch zelebrierten Torabstoß mit der Liturgie der über den Köpfen der Gläubigen erhobenen Monstranz vergleicht, spürt divine Kräfte auf dem Platz und in sich. „Nur wenige sind auserwählt!“ Wo anders als hier wird dieser Spruch zur Vorhersehung des für uns nicht Vorhersehbaren. „Unsere `Hand Gottes`“ untertitelt BILD das Foto des Elfmeter-Killers Jens Lehmann. Oder hat der Fußball die Theologie mit seinem höchst eigenen Methadonprogramm für ungläubige Erlösungsbedürftige ersetzt? Im Zentrum der Ball-Gläubigen steht jedenfalls der heidnische Polytheismus der Halbgötter, dessen internationale Kulte gegenwärtig ein Ausmaß erreicht haben, dass uns jede bedruckbare, aber noch freie Oberfläche als pure Häresie gegenüber der kollektiven Frohbotschaft erscheinen will. Mit der Vergrößerung von Leinwand und Monitor werden Spieler und Trainer übergroß projiziert, um ihre leibliche Größe der ideellen, sprich: göttlichen, anzupassen. Einer von ihnen, Otto Rehagel, der sich ortsnah zum Olymp in „Rehakles“ verwandelte, hat die Fundamentalepistemologie "Die Wahrheit liegt auf dem Platz" den räsonierenden Gläubigen vor die Füße geschossen.

Vom Helden-Mythos zur globalen Erzählindustrie

Doch gerade das ist nicht nur religiös zu verstehen, denn nicht weniger als auf dem liturgisch eingerichteten Platz wuchern die Wahrheit und ihre zahllosen Ableger in den Fernsehstudios, Sportredaktionen, Fan-Meilen und überhaupt immer da, wo zwei von euch zusammen kommen, um den Spielverlauf nach dem Spiel nicht dem Zufall oder Vergessen zu überlassen. Der narrative Aufwand ist gewaltig, um sich jenseits des Feldes endoskopisch in die Ballbehandlung aller Beteiligten einzuarbeiten. Es wird reflektiert, gefachsimpelt, geschwafelt, gelallt oder sogar „gepochert“, selten nur berichtet, wo es ja ohnehin final nicht viel zu berichten gibt. Fußball ist spätestens nach der Vorrunde der digitale Sport schlechthin, binär codiert: Sieg oder Niederlage. So will es uns erscheinen, als ob diese nackte Wahrheit geradewegs verdrängt werden soll im Modus von Spekulationen, die der deutsche Idealismus nicht wilder ersinnen könnte.

Vielleicht gilt von den kühnen Spekulationen vor dem Spiel, was nicht nur Kierkegaard über die Vorfreude wusste, dass sie die wahre Freude ist, die vom Ereignis selbst zu oft enttäuscht wird. Vor dem Match dürfen alle Spieler begutachtet, hochgerechnet, aus- und eingewechselt werden, das reale Spielfeld ist überzogen von den virtuellen Schatten vergangener Spiele und zukünftiger Mannschaftsaufstellungen. Die Kraftlinien blass gewordener Siege müssen ohnehin ständig wie die Kreidelinien auf dem Platz nachgezogen werden. Die gewinnträchtige Narrationsindustrie des Fußballs lässt uns in den Großereignissen der FußballMenschheitsgeschichte heimisch werden.

Gerd Müller bombt heute in TV- und DVD-Dauerreprisen nicht viel weniger als früher. Das Endspiel „Deutschland : Holland“ 1974 kennen wir mindestens so gut wie unseren eigenen Vorgarten, weil nicht wenigen Fans kollektive Mythen mehr narzisstische Freude bereiten als die eigene triste Lebensgeschichte. Während früher Männer, Kumpel, Kerle um den überfüllten Aschenbecher der schäbigen „Trinkhalle“ von Schalke 04 oder Schalke 05 (Carmen Thomas) versammelt Spiele vor- und nachvirtualisierten, wird heute die Professionalisierung des Geschwätzes Chefsache. Das unheimlichste Gesprächs-Apriori der Fußballmedienmoderne, das übrigens Jürgen Habermas in seiner Kommunikationstheorie vernachlässigt hat, ist die Fähigkeit unserer Kommentatoren, nicht nach jedem ihrer Sätze hemmungslos zu lachen oder zu weinen, was in seiner Bedeutung auf dasselbe hinaus liefe.

Die Beherrschung gegenüber der aufdringlichen Plattitüde, das zu sagen, was jeder sieht, aber es so zu sagen, dass nicht jeder sieht, dass er das auch sieht, ist das schlecht gehütete Geheimnis des Fußballkommentators, unseres großen Bruders. „Tor, Tor, Tor“ war zuvor die überzeugendere Erkenntnishymne. Bei der Affirmation des Selbstverständlichen sind die Talente so unterschiedlich wie auf dem Rasen. Immer wieder kommt Günter Netzer auch aus der Tiefe dieses durch und durch verspielten Erzählraumes und richtet im Doppelpassspiel mit Gerhard Delling nicht nur im gegnerischen Strafraum, sondern auch auf unserem Monitor einigen Schaden an: „Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören." (Rudi Völler).

Doch darum allein geht es nicht, sondern um die kommerziell motivierte Machtdemonstration, noch jeden Bundestrainer als Lordsiegelbewahrer der Nation einzuschüchtern. Wir dagegen wissen nicht wirklich, was wir gesehen haben, wenn wir das um Lustigkeit ringende Duo Netzer/Delling nicht hätten. Netzer ist das beste Paradigma des fußballerischen Zeitenwandels. In den siebziger Jahren noch als „Geist der Utopie“, also als Weltseele in der Variante Ernst Blochs gefeiert, wandelte er sich zum umtriebigen Rechte-Vermarkter. Dass Spieler auch jenseits des Platzes wichtige Projektionsflächen sind, gleichsam die Fortsetzung der Bandenwerbung mit prätentiösen Reklamefiguren, dämmerte in den siebziger Jahren, als Fußballer - den äußeren Zeichen nach - gesellschaftlich trendbewusst reagierten und wie Paul Breitner für das gepflegte Rebellentum zum besseren Training gleich ihre Mao-Bibel mit brachten: Lange Haare, Sportautos bis hin zum politischen Chic, der in der Erklärung des Trainers Klimaschewski „Meine Spieler sind Intellektuelle, sie haben den Tod von Mao noch nicht verkraftet“ (1976) mit der gebotenen Ernsthaftigkeit reflektiert wurde. Wenn der Fußball revolutionär und individualistisch sein soll, muss es auch der Kopf werden, was notfalls mit Haarlängen, Bürstenschnitt oder Glatzen zu beweisen ist.

Nun sind die Paradigmenwechsel im Reflexionsfußball, ob Erklärungen für Spielerseelen, Stärken oder Schwächen der Gladiatoren drängend werden, so leichtfüßig wie weiland Pelé oder Beckenbauer. Der „Fußball als Realitätsmodell“ (Klaus Theweleit) taugt für viele Wirklichkeitskonstruktionen, die man vielleicht dann braucht, wenn man mit komplexeren Realitäten weniger gut zurechtkommt oder sich von ihnen erholt. Wir wissen doch insgeheim, dass Fußball das Spiel der 22 Kontingenzen ist, die in Niklas Luhmanns Zettelkasten so nicht anspielfähig sind. Denn diese 22 Kontingenzen, von Schiedsrichter-, Linienrichter- und Wetterkontingenzen ganz zu schweigen, sollen aus dem schaurigen Fatum des unberechenbaren Fußballrunds die totale Determiniertheit des Sieges zaubern. So unberechenbar Fußball ist und sein soll, das Leben bleibt eckiger. Von dem Systemtheoretiker Luhmann stammt auch der vorderhand nicht fußballspezifische Begriff der „Interpenetration“, der so plastisch wie Lust versprechend die wechselseitigen, oft nur durch Sekunden getrennten Durchdringungen der gegnerischen Konterschläge auf dem Spiel markiert. Hier erleben wir die ewige Spannung zwischen Chaos und Ordnung, den erbitterten Kampf gegen das zweite thermodynamische Gesetz, das seine Schrecken in 90 Minuten nicht entfalten kann und vielleicht schließlich doch durch Ballack oder Zizou am Ende aller Zeiten widerlegt wird. Mit einem Wort: Guter Fußball versöhnt mit einer weniger guten Schöpfung.

Jede Spieltheorie kann nur als solche gelten, wenn sie Erklärungen für das Komplexitätsgefälle zwischen regeloffener Welt und höchst limitierten Spielwelten, die nach 90 Minuten zusammenklappen, besitzt. Soll so das Leben sein: Dynamisch, dramatisch, direkt? Der Höhepunkt der Welterschließung durch das Spiel liegt just in diesem kurzen Moment, wenn vorgängige Welt und Fußball(un)wirklichkeit ununterscheidbar werden: „Wir sind Weltmeister.“ Der praktische Anschauungsunterricht des Fußballs für die Welt jenseits des Stadiums erscheint indes gering gegenüber dem umgekehrten Einfluss: Klaus Theweleit denkt über denkende Fußballstars wie Zinedine Zidane nach und begreift den modernen Fußball in seiner Geburt aus dem Geist des PC-Spiels, das zum lebensweltlichen Rüstzeug junger Spieler gehört. Heute trainieren heißt also mit „Pacman“ oder „Fifa-Football“ virtuell bis telepathisch zu begreifen, was so später auf dem Platz zu realen Toren wird. Wer jetzt noch Tipp-Kick spielt, ist für jedes digitale Zuspiel verloren.

Doch auch die Seele im neuen technischen Zeitalter des Spiels führt noch zahlreiche Altlasten mit sich, die Fußball nicht auf Strategie und Taktik, Mann- oder Raumdeckung reduzieren. In den Hexenkesseln regiert seit je der Primärprozess, also der Stoff, aus dem die Träume sind: Imagination des Begehrten, halluzinatorische Wunscherfüllungen jenseits zwingender Raum-Zeit-Parameter, emotionale Intensitäten in schnellen Wechselzuständen, der Kindheit entsprungene wilde sexuelle und aggressive Phantasien: „Klinski putz die Polski“ (BILD), „Ronaldo schwanger?“ etc. Nur exzessive Seelenkunde tänzelt sich durch diese Abwehr-Mauer von Übertragungswiderständen, von Hasslieben zwischen Trainern und Spielern, beschädigten Liebschaften zwischen Stars und Fans, wenn es etwa bei Spiegel-Online heißt: „Psychokrieger Klinsmann zähmt Hildegard Ballack.“ Klinsi verbannt die Diva Ballack auf die Bank und schon sind Michaels Wilde-Hilde-Knef-Marotten auskuriert. Ja, so wünschen wir uns „Psychokrieger“, die Seelenleiden und Ballneurosen einfach wegtreten oder aussitzen lassen, während andere vergeblich auf Kuren für posttraumatische Belastungsstörungen nach schmählichen Niederlagen hoffen.

Oh Herr, gib mir mein tägliches Tor heute!

Praktiker mögen vor soviel Fußball-Pataphysik die Nase rümpfen. Sie reden lieber positivistisch von der Achilles-Ferse, Knöchelverletzungen, versteiften Sprunggelenken bis hin zu Sebastian Deislers Depressionen, um sportmedizinische Warnungen auszustoßen, die ganze Nationen in ihrem tiefsten Selbstverständnis erschüttern können. Ronaldo hat ein Psycho-Zipperlein oder leicht anschwellende Rettungsringe, dann wird nicht nur die Bank der Sitzenbleiber unruhig. Nationen wälzen sich schweißgebadet in Alpträumen, wenn Beine und Füße ihrer Nationaldenkmäler temporär versteinern. Niederlagen machen auch uns depressiv und daher sind apotropäische Gesten zwischen dreimaligem Kreuzeszeichen, magischem Denken und wild flutenden Wahrscheinlichkeitsrechnungen bitter notwendig.

Von Schicksalsaustreibern, Fußballpropheten und Voodoo-Priestern im Nachtstudio zu lernen, heißt wenigstens virtuell siegen zu lernen. Und über das Wembley-Tor reden wir und reden wir und reden wir, bis wir im Jargon der Eigentlichkeit wissen: Wir, nur wir haben – eigentlich - gewonnen, was geht uns das offizielle Ergebnis an, wenn die Wirklichkeit von Schiedsrichtern ohne umfassende Videokontrolle doch nur Konstruktion ist? Der „Spiegel“ erläuterte, wenn auch gnoseologisch nicht ganz überzeugend, warum Deutschland Weltmeister werden wird. Sind wir wenigstens den abergläubisch augenzwinkernd interpretierten Statistiken nach Weltmeister, gibt es keine anderen Probleme mehr – wenigstens für eine balltheoretische Sekunde oder mehr vor der Niederlage sind alle Restprobleme der Menschheit ausgelöscht. Was gehen mich der schäbige Sozialstaat und die größte Steuererhöhung aller Zeiten an, wenn die Fußballnation alle meine Leiden überstrahlt? Handlungsschwache Regierungen merkeln wir durch abschlussfreudige Jung-Stürmer aus.

Zu allen überflüssigen Reflexionen wäre auch noch eine lederne Wärmelehre unabdingbar, die vor den heißesten Themen nicht zurückschrecken dürfte. Samba und der Exhibitionismus national angetünchter Körper auf den Rängen sind noch die harmlose Lustvariante. „Mitspieler haben Angst vor Beckham-Küssen“, schreckt uns BILD auf. Liegt es an den Berührungsängsten der Mitspieler vor intimen Körperkontakten, wenn England also nicht Weltmeister wird? Nein, Homosexualität ist dem Spiel fremd, Spielerfrauen sind immer schön und Beckham ist metrosexuell. Beckham widerlegt seinen Landsmann Oscar Wilde, der Fußball feinsinnigen Knaben nicht, harten Mädchen indes zumuten wollte. Solches Basiswissen des Spiels ist wärmetheoretisch zwar nicht allzu hitzebeständig. Doch vor der Analyse von Spielerwallungen und ihren Erregungstänzen bis hin zum ihrem vorgeblichen Hermaphroditismus (Peter Sloterdijk) lautet die eigentliche Frage: Warum erregt uns das Spiel der Spiele, das nur ein Spiel sein soll, so heftig in unserer eigenen „Bananenflanke“, wenn doch die anderen schwitzen?

„Ein Fußballspiel ist wie ein großes Rockkonzert. Nur dort gibt es echte Gefühle zu entdecken; nur dort werden noch, seitdem das Politische diese nicht mehr zu wecken vermag, starke Leidenschaften und Enthusiasmus frei; und nur dort kann man im Batailleschen Sinn des Wortes "sich selbst verlieren" und vollkommen "Außer-sich-Sein". In solchen, von Emotionen überschäumenden und brodelnden Arenen Hauptakteur zu sein, ist unbeschreiblich“, erläutert Rudolf Maresch (Meister der Plattitüde und des Ressentiments).

Das sozioemotive Minimum ist also gar nicht die von Frank Schirrmacher wiederbelebte heilige Familie, in der sich Gefühle, freilich nur schöne und gute, ausleben sollen, sondern die Gemeinschaft der so oder so rockenden Lederszene, die dann entweder für King Kahn oder Slip Knot optiert. Starke Leidenschaften auf den Rängen mögen für Gesellschaften wünschbar sein, weil sie den Menschen auch jenseits der – inzwischen wissenschaftlich untersuchten - La-Ola-Wellen erheben und Energien von destruktiveren Lüsten abziehen. Ob das Politische, insbesondere in seinen fundamentalistischen Formen, emotional ausgeglüht ist und Massenwahn nicht ein gefährlicher Anwärter auf ebenso große wie fatale Leidenschaften bleibt, kann nach den politisch aggressiven, terroristischen und kriegerischen Auftaktveranstaltungen des 21. Jahrhunderts wohl kaum eindeutig beantwortet werden. Doch auch jenseits der großen Politik, die wir lieber wie Karl Kraus als kleine erleben, ist für fröhliche Ballspiele zu fragen, ob die dunklen Geschwister korrekter Leidenschaften, Hysterie und Panik, nicht jederzeit bereit sind, sich auf die dunkle Seite des Spielfelds und der übervölkerten Fanmeilen zu wälzen? Orgasmen trüben für kürzeste Zeit das Bewusstsein. Bei kollektiven Orgasmen, sprich: Siegestaumel, kann es schon mal länger dauern. Und jetzt? Omne animal triste.

Aber echte Emotionen? Die platonische Begrifflichkeit des Echten und Authentischen ist in Zeiten der virtuell-medialen Inszenierungen von Wirklichkeiten missbrauchsgefährdet und insbesondere in den Gladiatorenzonen so unauthentisch wie das phantomatische Körpergefühl der Zuschauer, die sich in die Spielerathleten für neunzig Minuten mimetisch einnisten und ausschließlich virtuelle (Kopfball)Tore schießen dürfen. „Kick it like Beckham.“ Fußballer sind unsere paradoxen „Fernlinge“, denen wir bessere Wahrnehmung und Mobilität nur solange konzedieren, wie sie erfolgreich sind. Denn sonst hätten wir mit diesen Körpern, die ohnehin dem Publikum gehören, da wir sie schließlich gekauft und beklatscht haben, besser, schneller, mithin effizienter gekickt.

Peter Sloterdijk war sehr ehrlich, als er konstatierte, dass ihn die Stehaufmännchen-Qualität der Spieler am meisten fasziniere. Sie fallen, schwer getroffen, hin und gleich darauf sind sie wieder fit. Sloterdijk weiß immerhin als Spezialist für locker schwebende Sphären und bekennender Immobilist, dass sein Körper so völlig anders, geradezu im Spielsinne regelwidrig epikureisch funktioniert. Eine Schwalbe macht eben noch keinen Ball-Philosophen. Während Friedrich Nietzsche in Sils Maria den Bergfex gab und vermutlich nur auf Grund seiner extremen Kurzsichtigkeit am Balltreten gehindert wurde, wenn man von seinem Einsatz in der Monty-Python-Mannschaft absieht, gibt es eben auch Denker, die mit der unerträglichen Schwere ihres teutonischen Seins unser leichtfüßiges Spiel bloß spielen. Sloterdijk ist, wenn man Rudolf Maresch folgt, der Stefan Effenberg des Stinkefingers, vulgo: ein „Effe“, und positioniert sich als Spielverderber damit so goldrichtig wie anspielgeeignet für alle diejenigen, die wenigstens distinguiert ablästern wollen, wenn die „Jungs“ sich hinterher doch als mannschaftsunfähige Gurkentruppe erweisen.

Dass Fußball ein Spiel ist, gilt erstaunlicherweise selbst in volatilen Zeiten globaler Megageschäfte mit dem Ball noch als gesichertes Basiswissen. Dabei ist die Verbissenheit des heutigen Fußballs, vielleicht von einigen afrikanischen Mannschaften abgesehen, der spieldarwinistische Mindeststandard. Mitmachen ist nichts, Siegen alles. Wer nur spielen will, den bestraft der Fußballgott sofort. Schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts klagte der Klassiker der Spielphilosophie, Johan Huizinga, darüber, dass der Sport „das Beste seines Spielgehaltes verloren“ habe. Joachim Ringelnatz sah es in seinem Poem „Fußball (nebst Abart und Ausartung)“ nicht anders: „Ich warne euch, ihr Brüder Jahns, vor dem Gebrauch des Fußballwahns!“

Wenn die Leitdifferenz „Spiel/Ernst“ nicht im Spiel selbst reflektiert wird, sondern der Ernst das Spiel dominiert, ist eigentlich Zeit für den Abpfiff. Die Bestechungsskandale in der Bundesliga machen so wie diverse Prügel- und Tret-Zombies auf der grünen Wiese klar, dass die Hypertrophie des unbedingten, bedingungslosen Siegs das Spiel zum Nichtspiel verwandelt. Das ist kein neuer Wesenszug des Fußballs, sondern aller kommerziell aufgeblasenen Publikumssportarten, die nicht mehr in klassischer Weise den Ernst des Kindes beim Spiel zulassen dürfen, weil – paradox formuliert – inzwischen zu viel auf dem Spiel steht.

Die fröhliche Selbstverausgabung ist also längst nicht die einzige Selbstentäußerungsform, die das Platzgeschehen beherrscht. Wer Spielen im Stadion beiwohnt, muss nicht nur hin-, sondern auch wegsehen können, um seine Spiellaune nicht zu verlieren. Hass und Wut sind Dauergäste auf dieser vorgeblich karnevalesken Mega-Party. Der argentinische Ersatzspieler Leandro Cufre erhält nach dem Spiel eine rote Karte, weil er den deutschen Spieler Per Mertesacker in den Unterleib tritt. Es geht auch um dunkle Ekstasen, um dionysische Spiele, um orgiastische Zustände, die sich bei zahlreichen Mitfeiernden aber erst mit Drogen richtig prachtvoll entfalten und sogar physiologische Kapriolen schlagen: Siege lassen den Testosteronspiegel der Zuschauer steigen, bei den Unterlegenen fällt er. Es geht hier wie bei den Spielern nicht nur um den gesunden Körper, sondern um den Körper als Hochleistungs-Maschine, der natürlich oder mit Doping-Mitteln an den Rand seiner Leistungsfähigkeit und gegebenenfalls darüber hinaus getrieben wird. Ausgemusterte Spieler besitzen nicht selten Körper, die selbst zu Schlachtfeldern mutiert sind.

Hölle, Hölle, Hölle

WM-Fußball erscheint als Wettbewerb der Nationen mit martialischen Stellvertreter-Qualitäten und ist daher nicht ganz zufällig in seiner modernen Form im 19. Jahrhundert mit globalen Regeln festgeschrieben worden. Gilt für global gehandelte Fußball-Söldner aller Länder Heideggers „Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal“, so fingiert die Weltmeisterschaft für eine kurze Zeit Nation, Heimat, Patriotismus. „WM“ heißt nicht nur Fußball, sondern auch Nationalstaat spielen. Semantiker erkennen heute noch in den typischen Stadionreportagen den „fleißigen“ Deutschen, der „Arbeitssiege“ erzielt oder den „tanzenden“ Brasilianer (Parole „Sambafußball“) und andere, künstlich dem Spiel überstülpte Nationalstereotype: „Klinsis Ritter wackeln gegen die flinken Samurais“ (Kölner Express). Hier wackelt noch mehr: Mit der anachronistischen Inszenierung von Nationalcharakteren im Stadion werden nicht nur die agonalen Voraussetzungen des Spiels mobilisiert, sondern just auch jene Momente, die den patriotischen Geist im gesunden Körper hochtourig reagieren lassen.

„Es schmeichelt den Schotten und den Wienern, dass ihre Fußballstadien ‚die Hölle von Glasgow’ und das ‚Praterinferno’ genannt werden. Die wirksame Ankündigung von höllischen Qualen und infernalischer Bestrafung (des Gegners) lässt das nationale Selbstgefühl anschwellen“, schrieb der Aggressionsforscher Friedrich Hacker 1971. Sind die anschwellenden Bocksgesänge nun verstummt, weil Bundesinnenminister Schäuble bei jeder sich bietenden Gelegenheit erklärte, den Hooligans würde ein WM-Besuch sicher keinen Spaß bereiten? „Fußball ist Krieg“ soll Rinus Michels gesagt haben und das wird noch nicht falsch durch den Umstand, dass das Spiel ästhetische wie artistische Qualitäten besitzt und die Wahl der Waffen – selbst Blutgrätschen miteingerechnet - bescheiden ist. Ein Zehnjähriger erklärte, zur Abkürzung „WM“ befragt, das sei ihm klar: Das heiße „Wehrmacht“. Wer das für bizarr hält, muss immerhin erklären, warum auf diesem Feld der Ehre nicht nur britischen Boulevardblättern immer wieder die „deutschen Panzer“ als leitkulturelle Wiedergänger einer anderen Geschichte erscheinen.

Johan Huizinga beobachtete in archaischen Formen des Kriegs Spielcharakter, totaler Krieg sei kein Spiel mehr. Vielleicht ist Fußball also nur „die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (Dirk Schümer), ein ziviles Surrogat des Krieges mit regelmäßig nichttödlichem Ausgang. Trotz der aggressiv betriebenen Geldmaschinen, der Hypertrophie der überzüchteten Kampfandroiden und der Fuzzie-Kratie überheblicher Funktionäre sind diese Mittel vorzugswürdig und - von Exzessen wie 1985 im Heysel-Stadion (39 Tote, 400 Schwerverletzte), Hooligans und ständigen Polizeieinsätzen abgesehen – eben tendenziell friedlich. Was unsere Apologeten der fröhlichen Spiele aber immer übersehen: Der relative äußere Friede und das martialische Gefühl in der Brust passen gut zusammen. Wer das durch seine in diesen Tagen verkaufte WM-Brille mit auswechselbaren Nationalfarben anders sieht, bleibt eben blind, um seine Spiellaune nicht zu gefährden. Der vorbewusste Diskurs ist für die wahren Fanatiker ohnehin erste Bürgerpflicht, wenn schlecht kaschierte Gefühle wüten. „Spielt sie kurz und klein“ titelte der Boulevard. Wenn wir jetzt noch das richtige Tätigkeitswort in der „Schlagzeile“ ersetzen, sind wir just da, wo die Fürsprecher so ziviler wie fröhlicher Spiele nie hin wollen.

Die schlichte Dichotomie von Krieg und Frieden trifft aber weder die differenziertere Politisierung des Fußballs noch seine kämpferischen Dimensionen. Das Image des juvenilen Strahlemannes Pelé, den heute das ZDF aufdringlich inszeniert, wurde seinerzeit vom damaligen finsteren Folterregime Brasiliens ausgenutzt. Das Sparwasser-Tor von 1974 war als Spiel- und Sportereignis bedeutungslos, wenn man nicht spekulativ den Gewinn der Weltmeisterschaft wegen der etwas leichteren Gegner darauf zurückführt. Politisch jedoch war das Tor eine performative Erklärung zum Zwei-Nationen-Status. Es dokumentierte die sozialistische Systemüberlegenheit und demütigte den Westen.

Wenn heute die Äußerungen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad zum Holocaust der politische Grund sind, ihn vom eventuellen Besuch der WM abzuhalten, wird sofort klar, dass es ab einem bestimmten Grad öffentlicher Aufmerksamkeit keinen unschuldigen Sport mehr gibt. Politisch betrachtet ist die Weltmeisterschaft eine einmalige Publicity-Kampagne für alle beteiligten Nationen, die internationale Großveranstaltungen brauchen, um sich als Nation zu reflektieren. Es ist naiv, die immer penetrantere Beflaggung des öffentlichen Raums auf „ein Symbol der Freude“ (Ulrich Wickert) oder – im ideologischen Gegenzug – auf ein pures Zeichen patriotischer Wiederaufrüstung zu reduzieren.

Nationaler Sturm und Drang

Es geht um nichts weniger als die paradoxe Konstitution des Nationalen selbst, um den euphorisierten Nationalismus der Spaß- und Erlebnisgesellschaft, ohne ihn in seinem klassischen Begriff zuzulassen: Ich bin stolz ein Deutscher zu sein, weil die Weltmeisterschaft nur so ein „gefühlsechtes“ Erlebnis werden kann. Nationalismus wird längst von der globalen Entertainment-Industrie absorbiert. Zugucken ohne einen Funken Identifikation ist bekanntlich für nicht obsessiv Sportbegeisterte eine namenlose Marter. Danach roll´ ich die Fahne wieder ein.

In Zeiten der unaufhaltsamen Demontage des Nationalen sind Fußball, staatliche Terrorbekämpfung und neue Kriege also Nahverwandte, weil sich in ihnen - trotz aller internationalen Kontextualisierungen - Nationalstaaten noch einmal bis auf Widerruf bzw. Abpfiff als solche fühlen dürfen. Diese sportive Art von Nationalität ist zugleich die Antwort auf die inhaltslose und intellektuell armselige Leitkulturdebatte, die sich nunmehr in einer internationalen Disziplin entscheidet: Fußball.

Das Bedürfnis nach kollektiver Identität, ohne den hässlichen Deutschen herauszukehren, wird jetzt schmerzfrei gewährt, so karnevalistisch und unterscheidungsschwach die spieltechnische Antwort auf dieses „deutsche Wesen“ auch ausfällt. Das Nationale wird als Paradox hinter bunten Wappen und Wimpeln so kenntlich wie unkenntlich gemacht, weil dieses Gemeinwesen eben nichts Besseres anzubieten hat. Da kollektive Identitätsmomente in heterogenen Gesellschaften ebenso Mangelware sind wie erhebendes Pathos, werden sie von (fast) allen und mit allen Mitteln gefördert. Und Reinhard Mohr, den sein „Deutschlandgefühl“ den „Patriotismus-Pegel auf dem Klinsimeter auf den Rekordwert von 10 Punkte“ fahren lässt, demonstriert postmodern korrekt, dass Patriotismus, Ironie und „Kritik der repressiven Toleranz“ ab jetzt nur noch ein Kleister sind, der die Nation zusammenhält. Kein einziges Spiel der WM findet statt, in dem nicht wenigstens ein Regierungsmitglied den beglückenden Schulterschluss zwischen Spiel und Staat repräsentiert. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ ist eben kein Spielmotiv, sondern das Motto der politischen Ballbehandlung.

Das schönste Versprechen des Fußball-Nationalen ist die „verkehrte Welt“, in der politisch Halbwüchsige oder Zwerge für 90 Minuten oder gar Dekaden zu balltretenden Riesen werden. Wenn Tschechien die USA schlägt, erleben wir die Saturnalien der Macht, den Ausnahmezustand der politischen Größenverhältnisse. Wer das für mehr als ein ephemeres Spiel mit der Wirklichkeit hält und weiterhin an Nationalsport glaubt, wird vermutlich auch an dem fragilen Glauben folgen, dass die Lokalisierung großer Klubs – Bayern München, FC Chelsea oder Futbol Club Barcelona – irgendeinen organischen Bezug zur heimatlichen Scholle, zur „Fanmeile“ oder zum Genius Loci hat.

Im Grunde ist die Beziehung zwischen Klubs und Fans so arbiträr wie nach dem Sprachwissenschaftler de Saussure die sprachlichen Zeichen. Allein der Trikot-Tausch nach dem Spiel ist die wahre Metapher einer hoch bezahlten Söldnergemeinschaft, deren jeweilige Zusammensetzung ausschließlich die finanzielle Ausstattung der Vereine bzw. der Einbürgerungspraxis widerspiegelt. Nationale und lokale Bindungen sind im Profi-Fußball Konstruktionen, die hartnäckig behauptet werden müssen, wenn nicht die Identitätsstiftung zwischen Spielern und Fans irreparable Schäden hinnehmen soll.

Die aufwändigen technischen Vorkehrungen der neuen Sendeverhältnisse folgen allesamt diesem künstlichen Gemeinschaftsgeist, der keine Solidargemeinschaften, sondern temporäre Mitmach-Gesellschaften entstehen lässt: „Public Viewing“ in der Südkurve virtualisiert das Spiel als Überall-Ereignis in diesem sehr reduzierten Sinne von Gemeinschaft (Mediale Massage). Die Großleinwand lässt die Stadiongemeinde an jedem Ort der Welt entstehen, was wenigstens hier das elektronische Versprechen des globalen Dorfs einlöst, wenn sich der Globus im Übrigen als chaotische Topografie mit politischen, ökonomischen wie religiösen Schräglagen präsentiert. Sport-Fernsehstudios, selbst wie Arenen konstruiert, präsentieren in ihrer Mitte Moderatoren und internationale Gäste, zu denen über Großmonitore Gesprächsteilnehmer in Überlebensgröße - wie etwa die allzuständigen Fußball-Überväter Beckenbauer und Pelé - zugeschaltet werden, um nun Pässe über elektronische Achsen zu schießen, die letztlich nur eine Botschaft haben: Wir sind eine große freundliche Familie, die nationalen Plunder, Mannschaftsgeist und globalen Palaver wie Konfetti über unsere immer besser geschmierten Geldmaschinen streut, die angeblich dem Gemeinwohl und alle übrigen Menschheitsfreuden verpflichtet sind.

Fazit: Nach dem Spiel (ist vor dem Spiel)

Fußball ist als diskursives wie rhetorisches Erlebnisobjekt mindestens so erregend wie das Spielgeschehen selbst. Wir erleben und erleiden eine Weise der Welterschließung, die jeden Teilnehmer zulässt, mithin die Weltgesellschaft, die sich hier als internationale Gemeinschaft durch und durch freundliche Nationen inszeniert. Über Fußball reden heißt so paradox wie folgenlos Weltbürgerschaft und nationales Pathos für 90 Minuten vereinbaren zu können. Der Party-Patriotismus gewährt die etwas andere Freiheit des Denkens, die kein Subsystem der Gesellschaft, keine andere professionelle Branche mehr zulässt.

In der bramarbasierenden Fußballerzählung zum Mitmachen für jedermann wird die Differenz zwischen Profis und Laien scheinbar liquidiert, so höchst monografie- und analyseverdächtig das Feedback zwischen öffentlicher Meinung, Spielverhalten und Trainerentscheidung auch ist. Denn "es gibt nur ein' Rudi Völler", nur elf Freunde auf dem Feld der Ehre, aber Millionen von Bundestrainern. Weder die vorgeblich geschlechtsbedingte Nichtkenntnis der Abseitsregel noch das Delirium schließen einen aus dieser fröhlichen Diskursgemeinschaft aus, was das vorgebliche „Realitätsmodell Fußball“ (Klaus Theweleit) problemlos mit dem Lustprinzip kurzschließt.

Huizinga erkannte in den technisch aufgemotzten Großspektakeln allerdings keine kulturschöpferische Bedeutung mehr. Der Sport sei unfruchtbar, der Spielfaktor abgestorben, auch wenn die temporäre Gesellschaft des globalen Spektakels für Geschäftemacher, Klubs, Spieler und Zuschauer zahlreiche Reize bietet. Das ändert nichts an dem Anachronismus der Scholle, an der Paradoxie global agierender Gladiatoren und lokal definierter Gladiatorenschulen, also sogenannten Vereinen, die in Weltmeisterschaften ihr zukünftiges Rekrutierungspersonal finden. Das Spiel endet längst nicht am Seitenaus oder mit dem Finale. Die größte aller Projektionsflächen ist das Spiel und seine globalgesellschaftliche Verfassung, die alle imaginären Lüste zulässt, die dann im Panini-Sammelalbum oder auf DVD auf die ewige Wiederkehr des Immergleichen warten. Wir haben nie fertig.