Die Rückkehr zur Großfamilie?

"Polyamouröse Familien": Eine Alternative zu "Swingen", "Fremdgehen" oder "LAGs"?

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Ist der Mensch für die Monogamie geschaffen? Anscheinend nicht wirklich, denn trotz bester Vorsätze sind sich 2/3 der Paare nicht dauerhaft sexuell treu. Wenn der Rausch der neuen Liebe in eine solide Partnerschaft übergeht, tauchen auch in den besten Beziehungen nach einigen Jahren "Kirschen in Nachbars Garten“ auf. Wie dramatisch die daraus resultierenden Komplikationen werden, hängt davon ab, wie die Beteiligten mit der Versuchung umgehen. In Kalifornien haben einige Familien nun die moderne Version der Hippie-Kommune entwickelt.

Angeblich ist es ja schon in der Biologie festgelegt: Männer wollen ihren Samen möglichst weit verteilen, viele Kinder in die Welt setzen und sich nicht weiter um diese kümmern müssen. Frauen dagegen schlafen nur mit dem Mann, mit dem sie zusammenbleiben wollen und der ihre Kinder ernähren soll. Das klingt logisch und wird auch von allen Feministinnen sofort unterschrieben. Nur stimmt es nicht: Auch Frauen können „untreu“ werden oder überhaupt nicht das Verlangen nach einer monogamen Beziehungen haben.

Die Bedürfnisse der Menschen sind hier unterschiedlich: Während die einen sich überhaupt keine dauerhafte Beziehung mit ein und demselben Partner vorstellen können und das für sie die personifizierte Langeweile darstellt, die anderen dagegen auch heute noch Sex vor der Ehe oder gar neben der Ehe als völlig unmoralisch ablehnen, denken sich die meisten „wenn ich nur den oder die Richtige kennen lerne, dann werde ich schon treu sein bis an mein Lebensende“. Doch dann ist es plötzlich "passiert", nicht in der 118. Minute, sondern im „verflixten siebenten Jahr“, das natürlich auch das fünfte oder zehnte sein kann, und einer der Partner ist doch mit jemand anders zusammengekommen. Und darüber entweder selbst sehr verblüfft, wenn er sich für "moralisch gefestigter" gehalten hatte, oder es gibt nach einem Geständnis oder der Entdeckung großen Ärger. Oft genug bedeutet dies das Ende der ursprünglichen Beziehung, insbesondere, wenn der Seitensprung auch noch in der eigenen Wohnung stattfand.

Andere Männer oder Frauen gehen über Jahre fremd, ohne dass ihre Partner dies bemerken (oder bemerken wollen). Wieder andere haben so ihre Abmachungen, was noch erlaubt ist und was nicht („solange es nur safer Sex ist, ist es mir egal, aber eine andere lieben so wie mich, dir etwas einfangen, ihr ein Kind machen oder sie gar hier einziehen lassen darfst du nicht!") und manche gehen gar gemeinsam auf Swinger-Streifzüge, weil es ihnen „alleine zu zweit“ zu langweilig geworden ist.

Wieder andere zählen sich zu der Rubrik "ich bin doch monogam, ich habe ja nie mehr als eine gleichzeitig im Bett“. Gemeinhin wird dies "serielle Monogamie" genannt: Ist eine Beziehung langweilig geworden, so trennt man sich und sucht sich neue Partner, was dann auch als „LAG" – Lebensabschnittgefährte/in – verklausuliert wird. Vom „lebenslangen Zusammenhalten und miteinander alt werden“ ist hier dann allerdings nichts mehr übrig.

“Die ethische Schlampe – ein Führer zu unendlichen sexuellen Möglichkeiten“ – die „Bibel der Polys“ wirbt in sehr verlockenden Worten…

Vielen ist es jedoch absolut nicht recht, nur wegen der gelegentlichen Lust auf andere Haut und andere Gedanken ihren bisherigen Partner und ihre ganze Lebensplanung über Bord werfen zu müssen. Neben den bereits erwähnten stillen Abmachungen in vielen Beziehungen gibt es natürlich die spektakulären Varianten wie Dreierbeziehungen oder Kommunen, die aber auch nur in Ausnahmefällen praxistauglich sind. Mätressen wiederum sind berühmten Persönlichkeiten vorbehalten und für diese oft auch mehr Belastung als Vergnügen. Der Traum eines jeden Mannes, die Vielweiberei, die Polygamie, der Harem, ist wiederum nur im Islam und einigen abgelegenen Inseln legal und auch dort nur für reiche Männer finanzierbar, weshalb er in der Praxis auf Könige, Sultane und andere Herrscher beschränkt ist. Ein normaler Mann kann dagegen vielleicht gerade noch zwei Frauen versorgen, bevor ihm Geld und Zeit ausgehen und für die meisten Frauen ist eine derartige Situation in unserer westlichen Gesellschaft ebenfalls nicht denkbar. Folglich endet es meistens in einem offiziellen Partner – typisch: Ehefrau oder Ehemann – und einem beziehungsweise einer Geliebten, der/die üblicherweise anonym bleiben muss und sich folglich als Partner zweiter Klasse fühlt, der an den Feiertagen wie Weihnachten, beim Familienbesuch oder bei gesellschaftlichen Ereignissen alleine zuhause sitzen muss.

Die oder den Geliebte(n) anstelle der Heimlichtuerei einfach in die Familie einzubeziehen schaffen nur wenige Freidenker, obwohl es sicher nicht die einfachste, aber wohl die ehrlichste Version ist. Folgerichtig haben die amerikanischen Autorinnen Dossie Easton und Catherine Liszt ihr 1997 erschienenes Buch auch "Die ethische Schlampe" (The ethical slut) genannt, dass sich zur Bibel dieses neuen polyamory (kurz auch nur „poly“) genannten Lebensstils entwickelt hat und von den bereits über 50.000 Exemplare verkauft wurden. Während die US-Autoren aus dem BDSM-Umfeld stammen, ist Poly in Deutschland bisher durch das Buch "Mehr als eine Liebe. Polyamouröse Beziehungen" von Laura Méritt, Traude Bührmann und Nadja Boris Schefzig eher im lesbischen und schwulen Umfeld ein Begriff.

Im aktuellen New Scientist hat eine Reporterin in Kalifornien Menschen getroffen, die nach diesem Vorbild mehrere Partner haben und mit diesen als Großfamilie unter einem Dach zusammenleben. Wer wann bei wem schläft, wird dann entweder per Kalender oder nach Lust und Laune festgelegt – dazu hat jeder sein eigenes Schlafzimmer und kann mit dem Partner seiner Wahl, aber auch alleine schlafen, wenn er eine nicht durch Schnarchen gestörte Nacht erleben will. „Flotte Dreier“ oder „Vierer“ sind dagegen im Kontrast zu den Phantasien vieler Menschen hier eher rar – die Intimität geht verloren, von den verschärften Platz- und Schnarchproblemen ganz zu schweigen.

Das deutsche Buch zur Polyamourösität hat sogar ein Autorinnentrio…

Im Gegensatz zur Scheidungsfamilien wachsen die Kinder in der Großfamilie geregelt auf und gerade weil alle ihre Freiheiten ausleben können, besteht kein Grund mehr, seine Partner wegen anderer zu verlassen. Auch die Gefahr der Übertragung von Krankheiten ist so besser in den Griff zu kriegen als bei Heimlichtuerei.

Wer allerdings besonders oft neue Partner hinzunimmt, wird irgendwann doch das Harems-Finanzierungs-Problem kriegen oder zumindest ein Schloss mieten müssen, auch wenn alle Beteiligten ihren Anteil der Miete beitragen. Doch auch sehr kontaktfreudige Menschen können sich ja nicht auf beliebig viele Liebesbeziehungen konzentrieren und natürlich ist Eifersucht auch in derartigen Lebensgemeinschaften ein Thema. In der vom New Scientist besuchten Familie in Kalifornien ließ sich die Frage, wer denn nun mit wem schläft und wie oft, jedenfalls nur noch mit einem Diagramm beantworten, obwohl durchaus auch Personen in der Familie sind, die nur einen einzigen, festen Partner unter den Anwesenden haben und auch nur diesen haben wollen.

Für Psychologen und Evolutionsforscher ist das Konzept der Polyamourösität sehr interessant, weil sie hier "in freier Wildbahn" beobachten können, was passiert, wenn Menschen ihren Trieb, mehr als einen Partner zu haben, nicht mehr unterdrücken müssen. Dabei bleiben langjährige Beziehungen bestehen, ohne ihre Romantik zu verlieren und in Routine zu erstarren. Die Paare bleiben also nicht zusammen, weil die Gesellschaft dies erwartet, sondern weil sie sich wirklich lieben oder/und verbunden fühlen. Allerdings kann sich auch das entwickeln, was viele Großstadtsingles nicht als Ergänzung zu einer Liebesbeziehung, sondern als Ersatz heute praktizieren: einen Partner zum Reden, einen fürs Bett, einen zum Ausgehen...die neue Oberflächlichkeit.

Die Grenzen der Beziehungen definieren auch die „Polys“ nach eigenem, persönlichen Bedarf: Wilde Orgien sind selten angesagt, neue Partner werden den anderen ganz offiziell vorgestellt und meist gilt die Regel: Einfach ohne Vorwarnung bei anderen zu übernachten und damit die regulären Partner zu irritieren, ist nicht drin. Eigentlich ist es also auch nicht anderes als die bisher schon üblichen geheimen Absprachen zwischen Eheleuten, nur etwas offizieller und mit der Option, dass die "Hausfreunde" mit einziehen können.

Wer allerdings nun glaubt, dass Männer auf diese Art besonders gut ihre Gene verteilen können, hat sich getäuscht: Wenn sie eine Frau nicht mehr exklusiv haben, strengen sie sich auch nicht mehr so sehr an, um sie zu schützen und zu unterstützen. Von der Fortpflanzung her bringt der neue Lebensstil also keinerlei Vorteile, es ist ein reiner Luxus.

Auch wenn „Polyamory“ wie die moderne Variante der „Freien Liebe" der 68er klingt, ist auch sie nicht die Universallösung und sicherlich nicht für jeden geeignet. Besser als der Lebensstil, aufgrund der Gefühle alle drei Jahre den Partner zu wechseln und so nie eine wirklich langfristige Beziehung aufbauen und den anderen richtig kennenzulernen, ist sie jedoch wohl allemal. Das Vertrauen innerhalb der neuen Großfamilien sei jedenfalls deutlich höher als in monogamen Beziehungen, so die Interviewten, da kein Grund für Schwindeleien und Heimlichkeiten mehr besteht. Lediglich die üblichen schon von unerotischen Wohngemeinschaften bekannten Probleme („Wer macht hier endlich einmal den Abwasch und wieso bringt verdammt noch mal nie jemand von euch den Müll raus?!?") dürften sich auch unter polyamourösen Gemeinschaften häufen…