Mythenbildung

Auf beiden Seiten sind die palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen Symbole

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Die „Operation Sommerregen“ des israelischen Militärs ist auch am Ende ihrer zweiten Woche mit unverminderter Härte weiter gegangen: Die Luftwaffe beschoss am Wochenende erneut zahlreiche Ziele im Gazastreifen, darunter wieder Einrichtungen der palästinensischen Regierung sowie Lagerhäuser und Metallwerkstätten, die nach Angaben des Militärs zum Bau der Kassam-Raketen benutzt werden könnten, mit denen die israelischen Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft bereits seit Monaten beschossen werden. Das Heer rückte derweil auf Gaza-Stadt vor, stoppte den Vorstoß allerdings einen halben Kilometer vor der Stadtgrenze: Die Soldaten sollen im Norden des Landstrichs nach Tunneln suchen, durch die Menschen, Waffen und Sprengstoff nach Israel hinein geschmuggelt werden können. Dabei stoßen sie jedoch mittlerweile auf die heftige Gegenwehr durch palästinensische Kämpfer, bei der diese allerdings so gut wie immer den Kürzeren ziehen: Bis Sonntagmittag wurden rund 50 Palästinenser getötet. Ob sich darunter auch Zivilisten befinden, ist ebenso unklar wie die genaue Zahl der Opfer. Ein israelischer Soldat kam bereits am vergangenen Donnerstag durch eigenes Feuer ums Leben. Auch in der politischen Arena hat sich einiges getan: Der palästinensische Ministerpräsident Ismail Haniyeh von der Hamas rief beide Seiten zum Waffenstillstand auf, was Israels Regierung allerdings ablehnt. Avi Dichter, Minister für innere Sicherheit, erklärte indes am Freitagmorgen, im Gegenzug für ein Ende des Kassam-Beschusses könne er sich auch die Freilassung von palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen vorstellen – ein Vorschlag, der auf der palästinensischen Seite neue Hoffnung geweckt hat und in Israel weitgehend auf Ablehnung stößt.

Blick auf den Hof des Militärgefängisses in Meggido. Foto: KSI-Feldman

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen was“, sagt der Polizist, zieht einen Bilderstapel aus der Schublade und wirft sie auf den Tisch. „Da sehen Sie, was diese Frau angerichtet hat.“ Die Aufnahmen zeigen eine Hauptstraße in Jerusalem, ein Schlachtfeld aus zersplitterten Schaufensterscheiben zwischen abgerissenen Armen und Beinen, zerfetzten Leibern, und Gesichtern, in denen sich die Personen, zu denen sie einst gehörten, nicht mehr erkennen lassen: „In jedem Land der Welt würde man das Mord nennen, und jeder, der dem Täter bei der Ausführung seiner Tat hilft, würde sich in jedem Land der Welt mitschuldig machen“, sagt der Beamte, dessen Name nicht genannt werden darf: „Nur bei uns können diese Leute darauf hoffen, irgendwann wieder frei herumzulaufen, ganz gleich, ob sie nach ihrer Freilassung eine Gefahr darstellen oder nicht.“

Kahira Sa'adi, Mutter von vier Kindern und jene Frau, die am 21. März 2002 einen Selbstmordattentäter in das Stadtzentrum von Jerusalem fuhr, wo er drei Menschen mit sich in den Tod riss, ist eine der palästinensischen Häftlinge in israelischen Gefängnissen, deren Entlassung die radikalislamische Hamas als Gegenleistung für die Freilassung des in den Gazastreifen entführten Soldaten Gilad Schalit fordert: Für die Einen sind Leute wie sie Bestien, Mörder. Für die Anderen sind sie Helden und ihre Taten legitime Mittel des Widerstandes gegen Israel.

So wie für Abbas Chamdan, einem Verwandten von ihr, der in Ramallah lebt: „Für uns ist sie eine Märtyrerin“, sagt er, „ich hoffe, dass sie bald wieder mit ihrer Familie und vor allem mit ihren Kindern vereint sein wird. Sie hat doch nichts weiter getan, als für ihr Land zu kämpfen. Israel tötet jeden Tag Frauen und Kinder – wer also sind die Verbrecher? Wir haben heute die historische Chance, wenigstens einen Teil des Unrechts wieder gut zu machen.“

Seit Schalit vor zwei Wochen nach einem Überfall palästinensischer Extremisten auf eine israelischen Armeeposten über die Grenze in den Gazastreifen entführt wurde, hegen viele Palästinenser die Hoffnung auf eine Freilassung der Gefangenen. Zumindest die Frauen, Kinder und Jugendlichen, die in israelischen Gefängnissen einsitzen, sollten als Gegenleistung freigelassen werden. In den Tagen nach der Entführung stellten Meinungsforscher in den palästinensischen Gebieten Zustimmungsquoten von über 80 Prozent fest, während sich Israels Regierung bis heute sperrt: Nicht nur, dass es legale und moralische Probleme mit einem solchen Schritt gäbe, heißt es aus dem Büro von Premierminister Ehud Olmert - es wäre auch ein deutliches Signal an die Extremisten, dass sich solchen Aktionen lohnen, und eine Aufwertung der Hamas bei einer gleichzeitigen Schwächung von Präsident Machmud Abbas. Das Ergebnis war „Operation Sommerregen“, die zwei Tage nach der Entführung begann und auch am Wochenende unvermindert weiter ging.

Neue Nahrung erhielten die Hoffnungen auf eine baldige Massenfreilassung durch eine Äußerung des Ministers für innere Sicherheit, Avi Dichter, am Freitagmorgen: Er könne sich vorstellen, dass Israel als Gegenleistung für eine Einstellung des Beschusses israelischer Städte und Dörfer in der Nähe des Gazastreifens palästinensische Häftlinge freilasse. Und Noam Schalit, der Vater des entführten Soldaten, fordert mittlerweile ganz offen einen Gefangenenaustausch und ist damit mittlerweile eine Art „Staatsfeind Nummer Eins“ geworden. Almagor, eine Lobbyorganisation von Anschlagsopfern oder ihrer Angehörigen, hat eine Kampagne gegen einen Gefangenenaustausch gestartet. In Tausenden von Leserbriefen und Beiträgen in Internetforen wird Schalit schon einmal vorab die Schuld für den nächsten Anschlag zugeschoben. „Für Generationen wurden Eltern in den härtesten vorstellbaren Situationen vor die Medien geschleppt, um dort mit den Augen zu rollen und die Stärke zu finden zu sagen: ,Wir sind sicher, dass die Regierung alles tut was sie kann“, schrieb die Schriftstellerin Efrat Roman Ascher in der Freitagsausgabe der Zeitung Jedioth Ahronoth. „Aber Noam Schalit ist eines Tages aufgewacht und hat nicht nur festgestellt, dass er mit dem Alptraum fertig werden muss, dass sein Sohn entführt worden ist, sondern dass er selber auch noch zum Feind des Volks geworden ist.“

Die zwei Rechtssysteme Israels

Längst sind auf beiden Seiten die Gefangenen zu Symbolen geworden. In Israel stehen die palästinensischen Häftlinge für Bombenanschläge, Messerattacken auf Israelis, für Angst und Schrecken. Auf der palästinensischen Seite hingegen sind sie Symbole des Kampfes gegen die israelische Besatzung von Westjordanland und Gazastreifen, für den sie selbstlos bereit waren, für lange, manchmal unbestimmte Zeit ins Gefängnis zu gehen. Die Verhörmethoden seien brutal, die Haftbedingungen mörderisch, erzählt man sich, und bewundert die Ausdauer dieser Männer und Frauen.

In Israel existieren zwei Rechts- und Gefängnissysteme nebeneinander her. Neben dem herkömmlichen System im israelischen Staatgebiet, bei dem nach westlichen Maßstäben von Richtern geurteilt wird und Verurteilte Haftbedingungen erhalten, die regelmäßig überprüft werden, gilt in jenen Teilen der palästinensischen Gebiete, die sich unter israelischer Kontrolle befinden, das Militärrecht: Auch hier haben die Angeklagten Verteidiger, doch die Ansprüche an die Beweisführung sind im Vergleich zum normalen Rechtssystem weniger hoch; oft werden den Verteidigern vorliegende Beweise oder Zeugen unter dem Verweis der Geheimdienste auf die Notwendigkeit zur Geheimhaltung vorenthalten.

Häftlinge in Sicherheitsverwahrung im Militärgefängnis in Meggido. Foto: KSI-Feldman

„Jemanden vor einem Militärgericht zu verteidigen ist ein bisschen wie im Dunkeln im Trüben zu fischen“, sagt der Anwalt Khaled Shweiki: „Ich weiß selten, was abläuft und kann meine Mandaten deshalb oft nicht adäquat verteidigen.“ Über die Haftbedingungen in den Militärgefängnissen ist nur bekannt, was ehemalige Häftlinge erzählen; mehrmals wurde das Gesehene in einer solchen Einrichtung von Wehrdienstleistenden in den vergangenen Jahren als Verweigerungsgrund angeführt: Soldaten hätten willkürlich Tränengaskanister in Zellen geworfen, Häftlingen über längere Zeiträume Essen und Trinken verweigert. Immer wieder würden Beamte des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth zudem Verhörmethoden anwenden, die schon vor Jahren vom Obersten Gerichtshof als Folter und damit illegal eingestuft worden waren. Das Verteidigungsministerium wollte sich zu diesen Vorwürfen nicht äußern und verwies darauf, dass auch Häftlinge in Militärgefängnissen „nach den für das israelische Gefängnissystem geltenden Richtlinien geführt werden.“ Jeder gemeldete Vorfall werde gewissenhaft geprüft. Allerdings heißt es aus der Militärstaatsanwaltschaft, dass seit dem Beginn der zweiten Intifada kein einziger Fall eines Übergriffs auf Häftlinge von Militärgefängnissen zur Anklage gebracht wurde: „Meist gibt es keine Beweise und keine Zeugen“, sagt ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft.

Ungenügend sind die Beweise auch oft in den Verfahren gegen Palästinenser: In solchen Fällen wird dann die sogenannte „Verwaltungshaft“, die israelische Version der Sicherungsverwahrung, angewandt. Sie könne ein paar Monate oder mehrere Jahre dauern, sagt Noam Hofstatter von der Menschenrechtsorganisation BeTselem, die Kriterien seien meist völlig undurchsichtig und hätten mit rechtsstaatlichen Maßstäben nichts zu tun: „Zu Grunde liegt immer die Ansicht, dass jemand etwas getan hat und es wieder tun könne, was man allerdings nicht beweisen kann. Deshalb sperrt man die Leute vorsichtshalber mal ohne Verfahren ein.“

Berichte von willkürlichen Verhaftungswellen der israelischen Armee in den palästinensischen Gebieten gelten als weitere Beispiele für die Ruchlosigkeit der israelischen Armee: Vor allem in der Anfangszeit der zweiten Intifada wurden immer wieder auch Kinder festgenommen, die Steine geworfen hatten, und dann für mehrere Tage festgehalten. Immer wieder wurden bei der Fahndung nach Attentätern und Funktionären verschiedener palästinensischer Gruppen Männer zu Hunderten verhört.

Häftling schaut durch Zellentür im Militärgefängnis in Meggido. Foto: KSI-Feldman

Mangel an Differenzierung

Das sogenannte Dokument der Gefangenen, in dem eine Gruppe von inhaftierten Funktionären von Hamas und der Fatah-Fraktion von Präsident Abbas unter anderem die Gründung eines palästinensischen Staates innerhalb der Waffenstillstandslinien von 1949 vorschlägt, hat zudem ein Übriges getan, um den Status der Gefangenen in den palästinensischen Gebieten zusätzlich aufzuwerten.

„Auf beiden Seiten werden kräftig Mythen gebildet“, sagt der britische Soziologe Gerald McMahon: „Den Mythos vom blutrünstigen Araber, vom brutalen israelischen Staat, von den unschuldigen Frauen und Kindern, von der noblen Hingabe und Kompromissbereitschaft der Gefangenen für eine gute Sache. Was wahr ist und was nicht, sei dahin gestellt. Worauf es ankommt, ist der Mangel an Differenzierung, der dahinter steckt: Jeder Palästinenser, der im Gefängnis sitzt, wird von den Israelis zum Terroristen und von den Palästinensern zum Freiheitskämpfern gemacht. Weswegen er oder sie einsitzt, spielt dabei kaum noch eine Rolle.“

So ist die Zahl von 10.378 Gefangenen, die vom palästinensischen Informationsministerium angegeben wird, die Gesamtzahl von palästinensischen Häftlingen in israelischen Gefängnissen. Von ihnen wurden nach Angaben des israelischen Justizministeriums 1954 Insassen wegen sogenannter „politisch motivierter Straftatbestände“ verurteilt, der Rest sitzt wegen aller möglichen herkömmlichen Tatbestände ein: von Diebstahl über Drogenhandel bis hin zu Totschlag und Mord. 231 säßen in Untersuchungshaft; in 794 Fällen wurde Verwaltungshaft angeordnet. In 91 Fällen handele es sich dabei um Minderjährige, von denen allerdings keiner jünger als 15 sei: „Solche Entscheidungen werden nur getroffen, wenn es unbedingt sein muss, und regelmäßig überprüft“, sagt eine Sprecherin des Justizministeriums. Zur Zeit befänden sich insgesamt 391 minderjährige Palästinenser in Haft: „Davon werden 158 mit einer politisch motivierten Tat in Verbindung gebracht.“

Auch auf der palästinensischen Seite gibt es Widerspruch gegen einen Gefangenenaustausch ohne Einzelfallprüfung, und zwar von der Kriminalpolizei: „Einfach nur Leute freizulassen, weil sie Frauen oder Jugendliche sind, ist nicht hilfreich“, sagt ein Beamter in Nablus: „Wir haben genug Probleme, wir brauchen nicht auch noch Diebe und Rauschgiftschmuggler, die frei herumlaufen. Wenn diejenigen freikommen, die sich für die palästinensische Sache eingesetzt haben, würde uns das alle hier sehr freuen. Aber alle Anderen sollten die Israelis behalten – oder uns ein paar Gefängnisse bauen.“