Brauchen Kinder Noten?

Neuauflage einer Grundsatzdiskussion

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Über den Sinn und Unsinn von Schulnoten ist bereits so oft und kontrovers gestritten worden, dass sich längst irgendein Sommerloch erbarmt haben und das leidige Thema mitsamt den sich ähnelnden Argumenten verschluckt haben müsste. Doch die Zeugnisverteilung garantiert die alljährliche Auferstehung, und so kommt auch 2006 nicht an der Frage vorbei, ob den Schülerinnen und Schülern nebst ihren rechtschaffen verunsicherten Eltern in deutschen Landen besser mit traditionellen Ziffernnoten oder mit alternativen Beurteilungsverfahren gedient wäre.

Stein des Anstoßes ist diesmal eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes, die von der Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität Siegen unter Leitung des Erziehungswissenschaftlers Hans Brügelmann durchgeführt wurde. Darin bestreiten die Forscher den Aussagewert und pädagogischen Nutzen von Ziffernnoten, die bis dato die mit Abstand häufigste Form formeller Leistungsbewertung darstellen, sieht man einmal von den Waldorfschulen ab, die schon lange bis zur Oberstufe keine Notenzeugnisse vergeben.

Noten sind nicht in der behaupteten Weise für das Lernen nützlich und sie sind erst recht nicht nötig. Sie betonen einseitig die Bewertungsfunktion - können aber auch diese wegen ihrer mangelnden Aussagekraft, Vergleichbarkeit und Objektivität nicht angemessen erfüllen. Es gibt deshalb keinen Grund, auf ihnen zu beharren, zumal sie darüber hinaus etliche unerwünschte Nebenwirkungen haben.

Arbeitsgruppe Primarstufe der Universität Siegen

An ihrer Stelle fordern die Wissenschaftler die Entwicklung alternativer Bewertungsmaßstäbe und –verfahren, die allerdings Auswirkungen auf das gesamte Schulsystem und die Ausbildung der Lehrenden hätten.

Ziffernoten sind zu ersetzen durch differenziertere Formen der Dokumentation und der Bewertung von Leistungen. Rückmeldung und Bewertung sind klar zu trennen. Beschreibungen sollen den Leistungsstand bezogen auf konkrete Lernziele und die individuelle Entwicklung darstellen. Das lernförderliche Potenzial differenzierter Rückmeldungen wird in der Praxis aber nur dann zur Geltung gebracht werden können, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden: vor allem durch eine Verringerung des Selektionsdrucks im Bildungssystem und durch eine fachliche Qualifizierung der LehrerInnen.

Arbeitsgruppe Primarstufe der Universität Siegen

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft plädierte daraufhin einmal mehr für „Ermutigung statt Notenschock“. Die stellvertretende GEW-Vorsitzende Marianne Demmer forderte den verstärkten Einsatz von Verbalnoten, Test- oder Ziffernpunkten. Schließlich könnten auch so Leistungsfortschritte und Lernschwächen dokumentiert und Kindern sowie Eltern individuelle Lösungsstrategien vermittelt werden.

Besonders junge Kinder reagieren sehr sensibel auf Entmutigungen durch Notenschocks. Im schlimmsten Fall nehmen die Schüler die Noten für bare Münze – und entwickeln sich wie vorgegeben: Wer eine ‚fünf’ bekommt, macht sich danach selbst zum Fünfer-Kandidaten. Bei Lernproblemen helfen Noten nicht - schon gar nicht, wenn sie als Ausleseinstrument zum Einsortieren in die verschiedenen Schulformen dienen. Ziffernnoten vertragen sich nicht mit individueller Förderung.

Marianne Demmer

Fünf Mark von Mama und Papa

Für das traditionsbewusste Bildungsbürgertum war der Bogen nun überspannt. Jörg Lau, der seine rebellischen Jugendjahre bei der „taz“ derzeit in den Redaktionsräumen der „ZEIT“ abbüßt, holte Ende Juni in Deutschlands größter Wochenzeitung zum Gegenschlag aus. Unter dem apodiktischen Titel Kinder wollen Noten verteidigte Lau das bisherige System der schulischen Leistungsbewertung. Schließlich böte die Zeugnisvergabe nicht nur „Stoff für wiederkehrende Albträume“, sondern für die Angestrengten, Ehrgeizigen und Disziplinierten auch einen „Augenblick narzisstischen Selbstgenusses“. Die eigene Tochter und deren Mitschüler finden es folgerichtig „super“, dass sie ab der dritten Klasse endlich Noten bekommen, und Lau selbst erinnert sich gern an die frühen 70er, da eindeutig bezifferte Erfolge seine „Freude am Lernen“ bestärkten. Und nicht nur das.

Ich bekam für jede Eins fünf Mark, eine stattliche Summe, und der Triumph, mit dem Klassenarbeitsheft oder dem Zeugnis bei meinen stolzen Eltern abkassieren zu gehen, wird mir immer unvergesslich bleiben.

Jörg Lau

Für Schülerinnen und Schüler sind Noten, so glaubt Jörg Lau, der Beweis, dass Leistung zählt. Sie sind stolz darauf, wenn sie Mitschüler übertreffen können und brauchen den permanenten Vergleich für eine gedeihliche Entwicklung. Sein Kollege Reinhard Kahl war in derselben Zeitung zwei Wochen zuvor deutlich skeptischer, doch seit Lau sich von den linken Verschwörungstheoretikern öffentlich distanziert hat, unter denen ein „apolitischer, zutiefst zynischer Paranoiker“ wie Michael Moore sein Unwesen treibe, schätzt er offenbar auch in der Bildungspolitik die klaren Fronten und ein übersichtliches Schwarz-Weiß. Von dem Vorschlag, die Zahlenkolonnen durch ausführliche Berichtszeugnisse zu ersetzen, will er folgerichtig nichts wissen. Verbale Zeugnisse seien nicht präzise genug, und der gemeine Lehrkörper könne durch das immer gefährliche Internet überdies verleitet werden, sich nicht nur auf die eigenen Formulierungskünste zu verlassen. (Tatsächlich wird beispielsweise unter zeugnismaster.de eine Softwarelösung angeboten, die schreibmüden Lehrern verspricht, die Grundschul-Berichtszeugnisse „kinderleicht und in Null Komma Nix“ zu erstellen. Das Basispaket kostet 19 Euro zuzüglich 3 Euro Versandkosten.)

Hans Brügelmann hat mittlerweile eine Replik auf Laus Artikel verfasst, den die "ZEIT" in der nächsten Ausgabe veröffentlichen wird. Die Argumente des Siegener Professors sind mindestens bedenkenswert. Brügelmann verweist nicht ganz zu Unrecht darauf, dass die Expertise der Arbeitsgruppe auf mehreren hundert wissenschaftlichen Studien und nicht auf der Meinung seiner Tochter oder persönlichen Erfahrungen basiert. Laus lernfreudiger Nachwuchs, der endlich wissen will, „wie gut man ist“, verkennt nach Meinung des Erziehungswissenschaftlers ebenso wie der Herr Papa, dass Leistungsausschnitte immer wieder zu „Urteilen über den ganzen Menschen“ ausgeweitet werden.

Wenn in Deutschland ein Viertel der Schüler ohne ausreichende Basiskompetenzen entlassen wird, dann liegt das nach Brügelmanns Einschätzung eben auch daran, dass sie bereits mit Erfahrungs- und Kompetenzunterschieden von drei bis vier Entwicklungsjahren eingeschult worden sind. Noten können unter diesen Voraussetzungen keine Entwicklungsmöglichkeiten beschreiben, die jedoch notwendig wären, um den betroffenen Schülern und Eltern einen Ausweg aus der Bildungsmisere zu zeigen. Sie dokumentieren Ist-Zustände oder täuschen eine „diagnostische Scheinpräzision“ nur vor und mutieren schlimmstenfalls zur „self-fulfilling prophecy“, die den betroffenen Schüler demoralisiert, indem sie die vermeintlich negative Beurteilung seiner Umwelt zu bestätigen scheint. Verbale Zeugnisse sind im Vergleich nicht objektiver, laut Brügelmann jedoch vielseitiger einsetzbar.

Die Chance von Berichten liegt aber darin, dass sie können, was mit Noten nicht gelingen kann: Konkret beschreiben und damit erkennbar machen, wo genau die Stärken und Schwächen in einem Lernbereich liegen, und - nicht minder wichtig -, wie die Leistungen sich entwickeln, d. h. was der einzelne Schüler dazugelernt hat und was seine nächsten Lernaufgaben sind.

Hans Brügelmann

Der Erziehungswissenschaftler legt Wert auf die Feststellung, dass moderne und erfolgreiche Schulen, die bei Untersuchungen wie PISA, TIMSS oder IGLU positiv abgeschnitten haben, keine reinen Leistungszentren sind. Sie vermitteln ihren Schülern auch wesentliche Aspekte der Persönlichkeitsbildung und tragen im Idealfall dazu bei, soziales und solidarisches Verhalten zu schulen.

Es geht vor allem um das Verhältnis von Fremd- und Selbstbeurteilung. Schule muss die Fähigkeit fördern, aus realistischer Selbsteinschätzung Folgerungen für die Entwicklung des eigenen Könnens zu ziehen. „Pädagogische Leistungskultur“ nennt der Grundschulverband diesen Anspruch an eine gute Schule (...). Die hierarchische Schule der Kaiserzeit passt nicht mehr in eine demokratische Gesellschaft. Sie ist politisch überholt.

Hans Brügelmann

Klassenverträge und gläserne Noten

Auch im benachbarten Österreich ist die Diskussion um Schulnoten gerade wieder aufgeflammt. Der ehemalige Landesschulratspräsident für Oberösterreich, Johannes Riedl, hat vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass 38 Prozent aller Schülerinnen und Schüler Angst vor Noten haben und sich die schulische Leistungsbewertung mittlerweile zu einem regelrechten „Fehlersuchsystem“ entwickelt hat. Kinder würden „tendenziell“ anhand ihrer Schwächen identifiziert, anschließend einer Leistungsskala zugeordnet und also unter Bedingungen lernen und arbeiten müssen, die sich kaum ein Erwachsener gefallen ließe.

Die österreichische Schülerunion moniert derweil, dass die Notenvergabe weder transparent noch landesweit einheitlich geregelt ist. Es sei ohne weiteres möglich, für die gleiche Leistung an der einen Schule mit „befriedigend“ und an einer anderen mit „nicht genügend“ bewertet zu werden. Die Schülerunion fordert deshalb die Einführung einer „gläsernen Note“: Zu Beginn eines Schuljahres sollen sich Lehrer und Schüler auf einen Klassenvertrag einigen, in dem exakt festgelegt wird, wie sich die Note am Ende des Jahres zusammensetzt. Darüber hinaus wünschen sich die Schülervertreter Unterrichtsskripte, um eine gemeinsame Grundinformation zu gewährleisten.

Schule ohne Noten und Fächer-Unterricht

Ihre Altersgenossen in Hamburg-Altona würden ein solches Unterrichtskonzept vermutlich schon wieder als rückschrittlich empfinden. An der Max-Brauer-Gesamtschule, die von 1.200 Schülerinnen und Schülern aus 30 Nationen besucht wird, erprobt man seit Mitte vergangenen Jahres ein vielbeachtetes Konzept, das nicht nur auf Noten, sondern auch auf den gewohnten Fächer-Unterricht verzichtet.

In Lernbüros beschäftigen sich die Schüler mit Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen und verschiedenen Arbeitstechniken, entscheiden aber eigenständig, wann sie sich mit welchem Wissensgebiet auseinandersetzen wollen. Damit sie selbst einschätzen können, auf welchem Leistungsstand sie sich aktuell befinden, werden Punkte auf sogenannten Kompetenzrastern gesammelt. Darüber hinaus orientieren sich die Schüler an Checklisten und Wochenplänen, die mit den Klassenlehrern möglichst einmal in der Woche abgestimmt werden. Die Eltern können sich auf drei Sprechtagen im Jahr und zusätzlich durch Portfolio–Mappen und Lernentwicklungsberichte über den Leistungsstand ihrer Kinder informieren. # Die Max-Brauer-Gesamtschule ist einer von 18 Kandidaten, die aus 481 Bewerbungen für den Deutschen Schulpreis 2006 nominiert wurden. Die staatliche Jenaplan-Schule in Jena ist auch für den Deutschen Schulpreis nominiert. Hier werden die vielerorts obligatorischen Noten eins bis sechs erst ab der siebten Klasse vergeben, weil nicht nur die Lernergebnisse im Mittelpunkt der Betrachtung stehen sollen, sondern auch das Lern- und Arbeitsverhalten sowie die Leistungsbereitschaft unter Berücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit. Den Schülerinnen und Schülern traut man zu, den Bewertungsprozess mit Hilfe von Gesprächen und Selbstreflexionen von Jahrgang zu Jahrgang aktiver mitzugestalten.

Blumenkinder mit Ich-Kompetenzen

Ebenfalls preisverdächtig ist ein Bildungsinstitut mit dem schönen Namen Grundschule Harmonie aus dem nordrhein-westfälischen Eitorf. An der Grenze zu Rheinland-Pfalz tragen die Klassen eigenwillige Namen wie „Fledermäuse“, „Blumenkinder“ oder „Harmoniegeister“, die wichtigsten Angelegenheiten werden im „Kreis“ verhandelt, einmal pro Halbjahr schätzen die Kinder ihre Sach-, Sozial- und Ich-Kompetenzen selbst ein und besprechen das weitere Vorgehen mit Eltern und Lehrern. Kein Wunder also, dass die Beschlüsse des Kinderparlaments, in das jede Klasse zwei Delegierte entsendet, die sich dort mit dem „Kids-Manager“ verständigen müssen, den gleichen Stellenwert haben wie die Entscheidungen der Lehrerkonferenz. Wie das Lernparadies aussehen könnte, ist auf den Internetseiten nachzulesen, die einen beispielhaften Schultag im März 2006 beschreiben.

Überall sieht man selbst lernende Kinder, jahrgangs- und klassen- übergreifend, alleine oder in Gruppen, auf dem Flur, in den Klassen, im Lehrerzimmer oder wo sonst immer Platz oder Atmosphäre herrscht. LehrerInnen arbeiten mit einzelnen Kindern oder mit Gruppen, man sieht sie Lerngespräche führen oder etwas vermitteln. Andere Kinder lernen mit Studentinnen, die auch Themen anbieten wie „Ernährung“, „Wir binden Bücher aus unseren eigenen Geschichten“ oder „Wir gründen Betriebe, um Waffeln zu verkaufen“. Eine andere Gruppe arbeitet mit einer Lehramtsanwärterin aus London, die bei uns für einen Monat einen Teil ihrer Ausbildung absolviert. Sie bereiten für die nächste Woche eine Führung durch die Schule auf Englisch vor. Andere Kinder setzen ihren Text in der Druckerei, eine Mutter liest aus einem türkischen Buch vor. Einige Kinder gehen ein paar Meter bis zur nächsten Kirche, weil der Jugendreferent mit seiner Steuergruppe (Kinder unserer Schule) einen Gottesdienst gestaltet.

Kinder einer Klasse nehmen über das Internet, mit Webcam und dem Programm „Skype“, Kontakt zu der Partnerklasse in Klagenfurt auf und halten einen Vortrag über „Spinnen“. Im Forum stehen Kinder an ihrem Infostand und verkaufen selbst gebastelte Lesezeichen, deren Erlös an ein nahes Tierheim geht. Andere üben Tänze, schreiben ihre Geschichten, erarbeiten ihre Themen im Netz oder mit Büchern, sitzen an der Schulzeitung, lösen Sudoku-Rätsel oder besuchen London City mit Google-Earth. Wieder andere arbeiten in ihrem Mathe-Übungsheft oder Rechtschreibtrainer.

Grundschule Harmonie

Bisweilen klingen diese Konzepte weniger nach pädagogischer Überzeugung als nach angestrengter Selbstfindung im Rahmen esoterischer Feldstudien. Doch zur Suche nach neuen Unterrichtsformen und Bewertungssystemen gibt es keine Alternative. Sie müssen ermutigen, motivieren und Schüler mit schneller Auffassungsgabe weiter fördern, gleichzeitig aber lernschwachen Kindern Anschlussmöglichkeiten bieten und auch noch dafür Sorge tragen, dass soziales Verhalten nicht von einer rücksichtslosen Ellenbogenmentalität unterminiert wird. Auf dem Weg zu einer grundlegenden Modernisierung des deutschen Schulsystems kann man Fehler machen – die Behauptung, es sei doch eigentlich alles in Ordnung, ist allerdings sicher der schwerwiegendste.