"Ciao, voyou!"

Die französische Rechte hat Schwierigkeiten mit der Nationalmannschaft, die "zu großen Teilen aus Söldnern" bestehe

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Nein, nicht alle Franzosen sind über den Ausgang des Endspiels der Fußball-WM vom Sonntag traurig. Halb Frankreich diskutiert seit Tagen erregt über den Platzverweis für Star-Torschützen Zinedine Zidane, 10 Minuten vor Ende der zweiten Verlängerung. Gestern Abend hat der nunmehr pensionierte Sportler sich erstmals dazu erklärt. Aber manche Franzosen, obwohl just als Nationalisten bekannt, freuen sich geradezu über die Niederlage. Ihre Diagnose: Zu viele „Minderwertige“ waren in dieser Nationalmannschaft. Den Begriff würden sie so nicht verwenden, aber sinngemäß ist genau dies gemeint; denn von „Ausländern“ etwa lässt sich nun wirklich kaum sprechen. Ob schwarze Franzosen aus den Übersee-Départements (DOM), in Frankreich geborene Kinder von Einwanderern oder Linke - sie alle gehören zweifellos zur Nation im traditionellen französischen Sinne, zur Nation aller ihrer Staatsbürger unabhängig von Herkunft und Abstammung dazu. Aber das hindert Einige nicht daran, gleichwohl nicht von ihnen repräsentiert werden zu wollen, ja sich hämisch über ihr Scheitern kurz vor dem Ziel zu freuen.

“Ciao, voyou!“ (Tschüs, Ganove!) hatte die rechtsextreme Wochenzeitung Minute an diesem Mittwoch auf ihr Titelblatt geschrieben – und hatte es nicht freundlich gemeint. Damit meinte das Blatt den nunmehr pensionierten Nationalspieler Zinedine Zidane. Der scheidende französische Mannschaftsführer habe seine Herkunft aus einer Vorstadt (Banlieue) nicht ablegen können, heißt es im Hinblick auf seinen Kopfstoß kurz vor Spielende gegen den italienischen Spieler Marco Materazzi. In Wirklichkeit stammt Zidane gar nicht aus einer Banlieue, sondern aus einem ärmeren Viertel innerhalb von Marseille, La Castellane: Die Mittelmeermetropole kennt, anders als andere französische Großstädte wie Paris und Lyon, nicht die strikte Trennung zwischen „eigentlicher“ Stadt im Zentrum und Banlieue als Peripherie um sie herum, sondern die Unterschichtsbezirke liegen innerhalb des Stadtgebiets. (Viele Beobachter sind sogar der Auffassung, diese unterschiedliche Struktur habe in Marseille während der Vorstadt-Unruhen vom vorigen November größere Ausschreitungen verhindert, im Gegensatz zu den Banlieues von Paris und Lyon.)

Ein ungenannt bleibender Funktionär des rechtsextremen Front National (FN) wird in der Mittwochsausgabe der Tageszeitung Libération mit den Worten zitiert: „Die Römer haben Gallier besiegt, die nicht wirklich Galliern ähneln.“ Es ist in Frankreich seit einigen Jahren üblich, umgangssprachlich oder spaßend die Herkunftsfranzosen als „Gallier“ zu bezeichnen, was einen ironischen oder selbstironischen Zug hat.

Ein ehemaliger Parteifreund von ihm verbreitet solcherlei Vorstellungen öffentlich unter seinem vollen Namen: Bernard Antony, der bis vor kurzem den katholisch-fundamentalistischen Flügel innerhalb des FN anführte und wegen innerparteilicher Querelen derzeit seine Mitgliedschaft ruhen lässt. Seine Anhänger sind in der auflagenschwachen, rechtsextrem-katholischen Tageszeitung Présent sehr präsent. Antony, der als Verehrer des früheren spanischen Diktators Francesco Franco gilt und das öffentliche Leben gern einer dem Katholizismus entsprungenen Zwangsmoral unterordnen würde, benutzte früher das Autorenpseudonym Romain Marie (Römisch Marie), um seinen römisch-katholischen Anspruch besonders zu betonen. An „römische Größe“ fühlt er sich im Moment zurück erinnert : „Man wird den Sieg (der italienischen Mannschaft) im Circus Maximus feiern, wie in den besten Epochen des Reiches. Es wird nur Zidane der Afrikaner fehlen, in Ketten gelegt wie dereinst Vercengetorix der Gallier.“ Ansonsten, so fügt Bernard Antony in seiner Erklärung hinzu, fühle er sich nicht „von irgendeinem Sportpatriotismus (berührt), der eine zu großen Teilen aus Söldnern bestehenden Mannschaft gilt, die man die Bleus nennt. Ich sehe also nicht mit totaler Zerknirschung auf den italienischen Sieg.“

Diese Zitate belegen anschaulich, dass die Rechtsextremen sich in Wirklichkeit nicht so sehr auf die Nation beziehen – jedenfalls nicht jene im französischen republikanischen Sinne, dem ja ansatzweise ein universalistischer Anspruch zugrunde liegt -, sondern viel mehr auf die Idee einer Rassennation, einer Gemeinschaft der angeblich „Höherwertigen“. Schon ihre historischen Vorläufer zogen es vor, angesichts einer „Mischlingsrepublik“ und der in den späten 30er Jahren amtierenden Linksregierung lieber die Kollaboration mit dem stärkeren Nazideutschland vorzubereiten, schon vor dem Eintritt der militärischen Niederlage. In jüngerer Zeit hat die extreme Rechte sich zwar vor allem als „national“ oder „nationalistisch“ bezeichnet, da der Ausdruck des Rassismus, wird er explizit als Begriff benutzt, in breiten Kreisen eher verpönt ist. Aber in Situationen wie der jetzigen kommt ihre Präfenz für die „Rasse“ statt für die Nation, die von Herkunft und Hautfarbe ihrer Staatsbürger abstrahiert, klar zum Vorschein.

Nicht die erste Pöbelei

Schon im Juni 1996 hatte FN-Parteichef Jean-Marie Le Pen während der damaligen Europameisterschaft erklärt, er halte es für „künstlich, dass man Leute aus dem Ausland kommen lässt und sie ‘französische Nationalmannschaft’ tauft“. Damals hatte er sich noch nicht unmittelbar über ihre Hautfarbe ereifert, sondern darüber, dass die meisten Spieler angeblich nicht die Marseillaise trällern mochten, also „zum Großteil nicht die Nationalhymne singen oder sie offenbar nicht beherrschen“. Dieses Jahr hatte er wieder zu poltern begonnen: Am 26. Juni gab Le Pen ein Kommuniqué heraus, in dem er sich darüber auslässt, dass die Franzosen sich nicht zugunsten ihrer Nationalelf mobilisierten, „weil (sie) sich durch Mannschaft nicht völlig vertreten sehen“. Denn, so fuhr Le Pen fort, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, „der Trainer hat den Anteil farbiger Spieler übertrieben, vielleicht hätte er auf diesem Gebiet mehr Maß walten lassen sollen, vielleicht sind seine ideologischen Vorlieben mit ihm durchgegangen“. Der französische Nationaltrainer Raymond Domenech ist als konsequenter Linker bekannt; seine Vorfahren waren katalonische Franco-Gegner, die nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs (1936-39) nach Frankreich hatten fliehen müssen. Domenech dankte im übrigen dem dienstältesten Politiker der Fünften Republik – Le Pen saß zum ersten Mal 1956 im französischen Parlament – und Präsidentschaftskandidaten für seine Äußerungen, indem er Jean-Marie Le Pen kurzerhand öffentlich als „Volldeppen“ bezeichnete. Und hinzufügte: „Es gibt zu viele Idioten in der Politik, ihn vor allem.“

Am 5. Juli hatte die rechtsextreme Wochenzeitung Minute nachgelegt und, den Vorstoß Le Pens unterstützend, von ihrem Titel herab gefragt: „Gibt es zu viele Schwarze in der Mannschaft Frankreichs?“ Das Blatt gab drei Gründe an, warum angeblich ein Problem mit den Bleus bestehe: Erstens könnten die Zuschauer am anderen Ende der Welt, die nicht wüssten, „wie ein Franzose aussieht“, glauben, dass die typischen Franzosen schwarz seien. Zum Zweiten könnte die Weißen sich beim Anblick der Mannschaft diskriminiert fühlen, da sie nicht glauben könnten, dass auch sie es zu Fußballstars bringen können, sondern man dafür einer Minderheit angehören müsse. Und drittens gebe es eine politische Instrumentalisierung, da man 1998 infolge des damaligen WM-Siegs der Bleus in den Medien (und auf den Straßen) „La France black, blanc, beur“ gefeiert habe, also das Frankreich der Schwarzen, der Weißen und der Arabischstämmigen.

Keine Grundlage in der Realität

In Wirklichkeit war die diesjährige französische Nationalauswahl keineswegs eine „Ausländermannschaft“, wie manche Stimmen den Eindruck zu erwecken versuchten. Von 23 Spielern, die nach Deutschland fuhren, sind sieben in Frankreich geborene Söhne französischer Vorfahren. Ein achter, David Trézéguet, kam zwar in Argentinien auf die Welt, aber seine Familie war wiederum einige Jahrzehnte aus Frankreich dorthin ausgewandert. Insofern handelt es sich in gewissem Sinne um einen französischen Familienhintergrund, mit spezifisch baskischen und jüdischen Wurzeln. Fünf weitere Spieler sind Überseefranzosen, d.h. französische Staatsbürger wie etwa Thierry Henry oder Lilian Thuram, deren Familien aus den Übersee-Départements (von den Antilleninseln Guadeloupe und La Martinique und aus Französisch-Guyana) stammen, die aber in zwei Fällen selbst im europäischen Frankreich auf die Welt kamen. Sieben Spieler stammen zwar aus Einwandererfamilien, sind aber alle in Frankreich geboren und nach dem dort vorwiegend geltenden ius soli (Bodenrecht) fraglos französische Staatsbürger. Das gilt für Zidane ebenso wie etwa für die schwarzen Spieler Alou Diarra oder Eric Abidal. Schließlich sind nur drei Spieler im Ausland geboren, wie etwa der Mittelfeldspieler Claude Makélélé, der im damaligen Zaire – der heutigen Demokratischen Republik Kongo – das Licht der Welt erblickte. Aber keiner von ihnen ist ein „frisch Eingebürgerter“, sondern alle haben seit langen Jahren die französische Staatsangehörigkeit individuell erworben.

Den Vorwurf, es handele sich um eine „Söldnermannschaft“, die man künstlich rund um den Globus zusammengestellt habe, muss man daher als Fantasievorwurf abstempeln. In einem Teil der Gesellschaft mag diese Diagnose noch mit einem Fragezeichen versehen werden, da die Hautfarbe nun einmal sichtbarer ist als die Staatsbürgerschaft. Aus der Ferne betrachtet mag ein schwarzer Überseefranzose von den Antilleninseln einem afrikanischstämmigen Einwandererkinder ähneln. In Wirklichkeit gibt es aber gar keine oder so gut wie keine „rein schwarzen“ Bewohner auf den Antillen, da die gesamte Bevölkerung dort sich längst vermischt hat – ganz am Anfang aufgrund von Vergewaltigungen schwarzer Sklavinnen durch ihre „Herren“ oder den weißen Bewohnern der Inseln, später durch freiwillig eingegangene Beziehungen, auf jeden Fall dauert das Ganze seit Jahrhunderten. Aus der Nähe betrachtet unterschieden sich auch viele Antillais einerseits und der Großteil der Afrikaner andererseits vom physischen Aussehen erkennbar. Aber in den Augen eines Europäers, der unachtsam bleibt, mag vielleicht einzig die – im Vergleich zu ihm selbst – dunklere Hautfarbe ins Auge stechen.

Richtig ist, dass der Anteil der Menschen mit (etwas) dunklerer Hautfarbe in der französischen Nationalmannschaft größer ist, als er ihrem Prozentanteil an der Gesamtbevölkerung entsprechen dürfte. Dies kann aber nur im Zusammenhang mit der sonstigen Repräsentation dieser Bevölkerungsgruppe auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen betrachtet werden: In zahlreichen, vor allem besseren Jobs und Stellungen sind diese Menschen schlichtweg krass unterrepräsentiert. Für einen Dunkelhäutigen oder ein Einwandererkind bleibt es eben vielfach schwerer als für einen hellhäutigen Franzosen (oder auch Europäer aus einem anderen EU-Land), eine qualifizierte Position zu erlangen - auch wenn in den letzten Jahren manche Bemühungen um Verbesserungen existiert und vereinzelt auch gewirkt haben, zu deren spektakulärsten vielleicht die im März erfolgte Einsetzung eines „farbigen“ Antillenfranzosen als Nachrichtensprecher in den 20-Uhr-Nachrichten beim ersten Fernsehkanal zählt. Eine Sportkarriere ist vielleicht noch immer jene gesellschaftliche Perspektive, die – für jene, die die notwendigen Voraussetzungen dafür mitbringen – mit am wenigsten durch Diskriminierungen verbaut wird. Eine gewisse „Überrepräsentanz“ in diesem Bereich ist daher allenfalls der schwache Schatten, den die „Unterrepräsentanz“ derselben Gruppen in vielen anderen Bereichen wirft.

Daher sind Kritiken, die erstere zu skandalisieren versuchen, über letztere aber schweigen, unqualifizierte Vorwürfe, ob sie nun von der extremen Rechten oder von anderer Seite kommen. Im vergangenen November hatte etwa auch der ehemals linke, jetzt „antitotalitäre“ Intellektuelle Alain Finkielkraut sich zu der Äußerung hinreißen lassen, die Nationalmannschaft Frankreichs sei „nicht mehr black-blanc-beur, sondern längst black-black-black“ (schwarz-schwarz-schwarz) und mache Frankreich „international zum Gespött“. Hinter dieser Schmähkritik steckte vor allem die tief sitzende Enttäuschung des Mannes, der in den siebziger Jahren einmal glühender Maoist und damit Sympathisant eines als revolutionär geltenden Dritte-Welt-Nationalismus gewesen war, gegenüber jenen Nachfahren der Kolonisierten und der eingewanderten Proletarier, die er früher einmal für die besseren Menschen gehalten hatte. Die rechtsextreme Kritik speist sich freilich aus anderen Quellen.

Auch italienischer Ex-Minister hetzt mit

Einer durfte nicht fehlen, um seinen Senf zu den in Frankreich anschwellenden Polemiken dazu zu geben. Der ehemalige „Reformminister“ der rechtsradikal-regionalistischen Lege Nord im abgewählten Kabinett von Silvio Berlusconi, Roberto Calderoli, derzeit immerhin Vizepräsident des italienischen Senats, kommentierte den Ausgang des Endspiels Italien/Frankreich auf seine ureigene Art. Eine Mannschaft aus Piemontesen und Kalabresen, so meinte der auf regionale und (angeblich) rassistische Eigenheiten spezialisierte Politiker, mit „italienischer Identität“ habe über die eines Frankreich siegen können, „das seine eigene Identität aufgeopfert hat, indem es Schwarze, Islamisten und Kommunisten aufgestellt hat“.

Nach Anhaltspunkten in der Realität muss man bei einem Provokateur wie Calderoli gar nicht erst suchen. Von keinem der Spieler ist bekannt, dass er auch nur entfernte Sympathien für den Islamismus hätte. Zur moslemischen Konfession zugehörig ist wahrscheinlich Zidane – der allerdings Kayble ist, also zur algerischen Berberminderheit gehört, die weitaus eher laizistische als religiöse Neigungen hat –, aber mit Bestimmtheit ein „weißer“ Spieler: Franck Ribery. Der 23jährige Ribery ist zum Islam konvertiert und mit einer maghrebinischstämmigen Frau verheiratet, die allerdings kein Kopftuch trägt, sondern blond gefärbte Haare. Der aus Boulogne-sur-Mer in der industriellen Krisenregion Nord-Pas de Calais stammende Spieler repräsentiert jenen Teil der weißen Unterschicht im ehemaligen französischen Kohle- und Stahlrevier, der in den letzten 20 Jahren einen rasanten sozialen Abstieg zusammen mit den Arbeitsimmigranten in dieser Region erlebt hat. Ein Teil dieses „white trash“, der vom wohlhabenden Teil der Mehrheitsgesellschaft sozial und lebensweltlich weiter entfernt ist als von seinen eigenen Nachbarn mit Migrationshintergrund, hat sich auch auf der Ebene der kulturellen und (zum Teil) der religiösen Werte an die Einwanderer angenähert. Dieses Phänomen trifft man vor allem im Nord-Pas de Calais an, da diese Region durch ihr sehr schnelles Umkippen in eine Krisenregion – infolge des Abbaus der Stahlindustrie – nicht so stark die „Entmischung“ aus „einheimischer“ Unterschicht und Migrationsbevölkerung erlebt hat wie anderswo. In anderen Regionen – wie teilweise im Gürtel rund um Paris - konnten die Weißen noch rechtzeitig wegziehen, wenn der soziale Absturz einer Region oder Ortschaft drohte, und leichter anderswo Arbeitsplätze finden als die Migranten, die in einer Verarmungsspirale gefangen wurden.

Am Dienstag legte der Rechtsaußenpolitiker nochmals nach. Ganz im Sinne seiner Äußerungen vom Vortag sagte Calderoli: „Es ist nicht mein Fehler, wenn Barthez lieber die ‘Internationale’ singt als die ‘Marseillaise’, und wenn einige Spieler Mekka gegenüber Bethlehem vorziehen.“ Ob seine Behauptung über die Vorliebe von Barthez für die „Internationale“ zutrifft, ist ungewiss. Fest steht bisher nur, dass Jean-Marie Le Pen sich im Juni dieses Jahres bereits darüber ereifert hatte, dass der Mann die französische Nationalhymne nicht mitsinge. Ob dies aber darauf zurückzuführen ist, dass der Mann andere eindeutige politisch-musikalische Vorlieben hat - oder aber an mangelndem „Bock“ oder an dem ihm manchmal nachgesagten griesgrämig-einzelgängerischen Temperament, ist nicht geklärt.

Frankreich hält zu Zidane

Unklar ist auch, ob eventuell Aussprüche, die von ähnlichem Geiste zeugen, seitens des Spielers Marco Materazzi zum Ausbruch Zinedine Zidanes kurz vor dem Spielende geführt haben. Zunächst war am Montag und Dienstag in Frankreich in breiten Kreisen darüber spekuliert worden, was wohl die vorher gefallene Äußerung Materazzis gewesen sei, die Zidane zu dem Kopfstoß gegen den Oberkörper des 1,93 Meter langen Gegners verleitet hat. Das Onlineportal des Wochenmagazins ‘Le Nouvel Observateur’ bot fünf alternative Interpretationen zur Auswahl an, und mancher Beobachter wollte in den Bildmitschnitten von der Szene auf den Lippen des italienischen Spielers lesen können. In Wirklichkeit wusste man dagegen tagelang wenig darüber, was wirklich vorgefallen war.

Der britische Guardian wollte schon am Montag wissen, Materazzi habe Zidane als „Terroristen“ tituliert. Dies wohl nach der Logik, jeder Araber sei ein Terrorist – sicherlich hätte der Beschimpfende sich nicht bei der Kleinigkeit aufgehalten, dass Zidane gar kein Araber, sondern seine Familie nordafrikanisch-berberischer Herkunft ist. Dagegen orakelte Bernard Tapie, der (Skandal umwitterte) ehemalige Chef des Fußballclubs Olympique Marseille, im Fernsehen, es sei „irgend etwas Gravierendes, bestimmt etwas über seine (Zidanes) Mutter“ gewesen. Andernorts war von der Schwester die Rede. Wenn diese Beobachter auch nicht wirklich wussten, was vorgefallen waren, so konnten sie doch benennen, was in mediterranen Gesellschaft – ob in der italienischen oder kabylischen, südfranzösischen oder gar korsischen übrigens – als gravierendster Ehrverstoß gilt, nämlich der abfällige Hinweis (unter Männern) auf die Mutter oder die Schwester des anderen. Am Dienstag verbreitete France Soir die Version, die beide Aspekte kombinierende Bezeichnung „Sohn einer terroristischen Hure“ habe Zidane aus der Fassung gebracht. Die Vereinigung SOS Racisme hat in Paris bereits angekündigt, bei der FIFA Beschwerde gegen Materazzi zu erheben, falls der rassistische Charakter der Beleidigung erwiesen werden könne.

Nachdem Zinedine Zidane sich am Mittwochabend erstmals selbst im französischen Fernsehsender Canal + erklärt hat, ist man im Moment weniger klüger als zuvor. Zidane wollte nur bestätigen, es habe sich um eine schwere Beleidigung „für meine Mutter und meine Schwester“ gehandelt, ohne aber deren Inhalt benennen zu wollen. Damit müssen vorläufig alle Spekulationen offen bleiben. Aber vielleicht ist das sogar besser so?

Der Großteil der französischen Öffentlichkeit scheint Zidane jedenfalls seine unüberlegte – aber spontane, „authentische“ Geste verziehen zu haben. Auch die eher rechte Boulevardzeitung France Soir, die seit 5 Wochen wieder erscheint und offener denn je auf Populismus setzt, verteidigte Zidane, auch als Opfer (vermuteter) rassistischer Anwürfe. „Wir haben Dich verstanden, Zizou!“ titelte das Blatt am Dienstag über Zidanes Kopfstoß gegen Materazzi. Aber wahrscheinlich war der Immigrantensohn Zidane in diesem Falle aus Sicht der Boulevardzeitung einfach zuerst der Franzose und Frankreichs Torschütze, und erst dann „der Araber“. Besser für ihn, als wenn es umgekehrt wäre...

Viele Immigrantenkinder wollten tatsächlich beides in Zidane erblicken. Und wirklich waren die Feiern während der letzten Tage der WM in der vergangenen Woche auch stark, aber nicht allein, von der massiven Präsenz von Einwandererkindern – auf den Straßen, in den Cafés, bei den Autokorsos – geprägt. Diese forderten in gewisser Weise symbolisch ihre eigene Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft ein, die eine doch ziemlich gemischt zusammengesetzte Truppe als ihre Nationalmannschaft feierte. Viele Einwandererkinder und vor allem auch Schwarze waren blau-weiß-rot geschminkt, aber man konnte zugleich auch sehr viele junge Leute mit mehr als nur einer Fahne sehen. Oft hingen etwa die französische und die algerische Fahne gemeinsam aus einem Autofenster, oder die Flagge Algeriens wurde als Halstuch über einem blauen Frankreich-T-Shirt getragen. Ihre Träger oder – häufiger – ihre Trägerinnen sahen darin auch jene von Zidanes Herkunftsland, das auch das Herkunftsland ihrer eigenen Familie ist, auf das sie sich aber nicht ausschließlich und in der Regel nicht in Abwendung von Frankreich beziehen möchten. Aber auch marokkanische, tunesische und (trotz Gegnerschaft im Halbfinale) portugiesische Fahnen waren häufig zu sehen.

Manchmal fielen die Bezüge bei den enthusiastischen jungen Leuten etwas verwirrend aus. Eine schwer angetrunkene Gruppe junger Männer aus einer Banlieue rief in der Nacht nach dem Halbfinale auf den Champs-Elysées „Fick Frankreich“ (weil es den Arabern keinen Platz einräume) und „Es lebe Zidane“, wedelte dazu aber gleichzeitig eifrig mit einer französischen Fahne. Am Sonntag dann blieben die Fahnen zu Hause. Ob es ohne Zidanes Ausraster anders ausgegangen wäre? Man wird es nie wissen.