"Es wird für uns keinen Frieden geben"

Vergeltung und Kollektivbestrafung als Motor einer permanenten Gewaltspirale: Spielbergs Film "München" ist auf traurige Weise hochaktuell

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Am „Fest der Gesetzesfreude“ tanzen und singen die frommen Juden. Sie danken Gott fröhlich für die „Weisung“ (Tora), denn sie wissen: Gerechtigkeit lernt der Mensch in einem gerechten Gemeinwesen. „Gerechtigkeit und Frieden“, so lautet die Vision der hebräischen Bibel für die ganze Völkerwelt. Die jüdische Religions- und Kulturgeschichte hat zur Idee einer internationalen Gemeinschaft, die auf dem Recht basiert, unverzichtbare Beiträge geleistet. Mit seinem Film „Munich“ (USA 2005) hat der Filmemacher Steven Spielberg nachdrücklich an das jüdische Ideal der Gerechtigkeit erinnert. (Bei uns ist der Titel Ende Juli auch als DVD auszuleihen.) Die von Spielberg gegründete Shoa-Stiftung geht in ihrer Arbeit vom unteilbaren Menschenrecht aus. „Ethnische“ oder religiöse Unterschiede können niemals eine ungleiche Behandlung von Menschen oder zweierlei Rechtsmaßstäbe rechtfertigen.

In Israel zeigen die Regierenden gegenwärtig wenig Achtung vor dem Internationalen Recht. Die israelische Friedensbewegung Gush Shalom und ihr prominenter Sprecher Uri Avneri (Ein einseitiger Krieg) haben bereits Anfang Juli an die Europäer die nachdrückliche Bitte adressiert, keine falsch verstandene „Solidarität mit Israel“ zu üben. Ungewöhnlich deutlich haben dann hierzulande die Nahost-Kommissionen von Pax Christi und Internationalem Versöhnungsbund in einer gemeinsamen Pressemitteilung vom 10.7.2006 Stellung bezogen:

Die Zerstörung von Brücken und der Elektrizitätsversorgung im Gazastreifen, die Inhaftierung demokratisch gewählter palästinensischer Abgeordneter und die Tötung von Zivilisten sind Unrecht und zudem völlig ungeeignete Mittel zur Rettung des entführten israelischen Soldaten Gilat Shalit. Die Inhaftierung und Ermordung politischer Führer der Palästinenser, die Zerstörung der Infrastruktur im Gazasteifen, die Zerstörung von Arbeitsmöglichkeiten und das Abschneiden des Zugangs zu Strom und Wasser stellen Unrechtsmaßnahmen dar und legen die Vermutung nahe, dass ein ganzes Volk für die Wahl einer aus israelischer Sicht ungewollten Regierung bestraft werden soll. Wir verurteilen die israelische Invasion als völkerrechtswidrig und als Schritt zur Eskalation des Nahost-Konfliktes.

Beklagt werden in dieser Erklärung deutsche Rüstungslieferungen, „Doppelstandards in der EU-Nahostpolitik“ und das Schweigen Europas angesichts der israelischen Rechtsbrüche. Eine klare Verurteilung der Missachtung des humanitären Völkerrechts durch Israel, in der das Vorgehen gegen die Palästinenser als „eine verbotene kollektive Bestrafung der Bevölkerung“ charakterisiert wird, kommt bislang lediglich aus der Schweiz.

„Juden tun keinem Unrecht, weil ihre Feinde Unrecht tun“

Vergeltung und Kollektivbestrafung als Motor einer permanenten Gewaltspirale, das war im letzten Jahr auch ein Kinothema von Steven Spielberg. Man hätte erwarten können, dass ein US-amerikanischer Film über die Jagd auf die Münchener PLO-Mörder von israelischen Olympiateilnehmern des Jahres 1972 per se das Kulturkampfparadigma und die offizielle Linie des „Antiterrorkrieges“ stützen würde. Doch mit seinem Titel „Munich“ (Das Blut des Terrors und die Milch der Fiktion) (USA 2005) hat Spielberg einen sehr menschlichen Beitrag vorgelegt, der solche Erwartungen nicht notwendig bedient. Einige Kritiker in den USA bewerteten das fiktionale Werk sogar als israelfeindlich (Spielbergs Mutprobe).

Golda Meir erteilt dem israelischen Geheimdienst höchstpersönlich den Auftrag, die palästinensischen Attentäter weltweit aufzuspüren und zu töten. Der Film „begleitet“ eines von mehreren israelischen Teams, dessen Leiter Avner heißt, bei der Ausführung der Vergeltungsmorde. Nach einer erfolgreichen „Liquidierung“ lädt Avner einen älteren Mossad-Kollegen zur Feier bei einem Glas Wein ein. Dieser entgegnet unter Bezug auf eine jüdische Auslegungstradition zur Bibel: „Ah, die alte Pesach-Geschichte. Die Engel jubeln, weil die Ägypter gerade im Roten Meer ertrunken sind. (...) Und Gott sagte: Was feiert Ihr? Ich habe soeben eine Vielzahl meiner Kinder umgebracht.“

In diesem Drehbuchzitat stehen „Ägypter“ gleichsam für „Palästinenser“. Es bezieht sich auf mehrere Rabbiner-Worte im „Talmud Babli“ . Die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten steht im Mittelpunkt der jüdischen Liturgie. Zu Erinnerung daran, dass diese Befreiung auf Seiten der Ägypter Leid und Tod gebracht hat, wird nur ein „halbes Hallel“ rezitiert und ein Tropfen aus den Weinbechern versprengt.

Die jüngeren Teammitglieder im Film wissen nun, was sich die Engel vom Untergang der Ägypter versprechen: Die Menschen sollen verstehen, worum es Gott geht. Ein besonders unbekümmertes Teammitglied will auch genau wissen, worum es Gott eigentlich geht: „Keiner verarscht die Juden!“

Spielberg zeigt einfühlsam israelische Mentalitäten und Grundhaltungen, so etwa das ernst genommene Ethos der Brüderlichkeit und die Bereitschaft der Alten aus Europa, für einen Ort, an dem Juden ungefährdet leben können, alles zu geben. Doch Palästinenser und Muslime werden aus der Empathie des Regisseurs nicht ausgeschlossen. Eines der ersten Opfer der geheimen Vergeltungsoperation des Mossad ist ein schöngeistiger, liebenswert erscheinender Intellektueller. Der Vorsatz, Unschuldige bzw. Unbeteiligte zu schonen, erweist sich im Verlauf der israelischen Aktionen zunehmend als Farce. Es bestehen auch Zweifel, ob alle Getöteten wirklich zu den Münchener Attentätern gehören. Die mit Vollständigkeitswahn durchgeführten Liquidierungsaktionen stürzen den Bombenbauer des israelischen Teams schließlich in eine existentielle Identitätskrise:

All das Blut fällt auf uns zurück. Wir sind Juden, Avner. Juden tun keinem Unrecht, weil ihre Feinde Unrecht tun. (...) Wenn man tausend Jahre Hass gelitten hat, kann man nicht anständig sein. Aber dafür sollten wir gerecht sein. Das ist etwas Schönes, das ist jüdisch. Das wurde mir beigebracht. Das war ich, und jetzt verliere ich es. Wenn ich das verliere, dann, dann – ganz viel: Das ist meine Seele.

Am Ende ist selbst der junge Teamchef Avner, der mit seiner Familie inzwischen in den USA ein neues Zuhause gefunden hat, von seinem Handeln nicht mehr überzeugt:

Was haben wir eigentlich erreicht? Alle, die wir umgebracht haben, wurden durch Andere, Schlimmere ersetzt. (...) Glauben Sie, was Sie wollen; es wird für uns keinen Frieden geben.

Nach diesem Bekenntnis und Avners Weigerung, nach Israel zurückzukehren, lehnt der ehemalige Mossad-Vorgesetzte die Einladung ab, gemeinsam mit Avner „das Brot zu brechen“. Die Tischgemeinschaft mit liberalen US-amerikanischen Juden, die an eine gewaltsame Lösung des Palästina-Konflikts nicht mehr glauben, ist aufgekündigt.

Jenseits der Mauern

Seit 1972 ist viel geschehen. Die Tötung von Unschuldigen ist – auf beiden Seiten – immer mehr enttabuisiert worden. Die Hamas hat – anders als die PLO – das Existenzrecht des Staates Israel nicht anerkannt. Allerdings fragen auch viele Palästinenser, die nicht zu den Anhängern der Hamas zählen: „Warum soll ein militärischer Gigant wie Israel von uns Anerkennung einfordern können, während er uns seinerseits einen eigenständigen, lebensfähigen Staat nicht zugesteht?“ Ist es aussichtslos, die im demokratischen Verfahren gewählten Hamas-Politiker im gemeinsamen Gespräch an das Konzept einer Zweistaatenlösung heranzuführen? Entsprechende Unternehmungen im politischen Spektrum der Palästinenser müssten hierzulande zumindest wahrgenommen werden. Es blieben auch nach einer Klärung dieser Frage genügend Aporien, die mit der Gründung Israels zusammenhängen und für die niemand eine zufriedenstellende Lösung weiß. Millionen Palästinenser mussten aus dem Gebiet des heutigen Israels flüchten, was die UNO bereits 1948 als Unrecht bezeichnet hat. Würden alle Flüchtlingsfamilien heute in ihre alte Heimat zurückkehren, würde das faktisch aufgrund neuer Mehrheitsverhältnisse ein Ende des Staates Israel bedeuten.

Die von Israel seit 2003 gebaute Mauer ist nach einem Gutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 9. Juli 2004 zu einem beträchtlichen Teil völkerrechtswidrig. Sie schlängelt sich durch palästinensische Gebiete, versperrt den Zugang zu Brunnen oder Feldern und soll am Ende 759 km lang sein. Ein undurchdringbarer Schutzwall kann dieses Bauwerk, das auf Seiten der Palästinenser viel Hoffnungslosigkeit verbreitet hat, nicht sein. Vor über zwanzig Jahren versuchte der Film „Me’ Achorei Hasoragim/Beyond The Walls“ (Israel 1984) von Uri Barbash „jenseits der Mauern“ Menschen zusammenzuführen. In „Beyond The Walls“ überwinden die beiden Häftlingsgruppen (Israelis und Araber) in einem israelischen Gefängnis ihren blutigen Krieg gegeneinander, um gegen das überordnete Gewaltsystem gemeinsam mit gewaltfreien Mitteln zu rebellieren: Juden und Palästinenser durchschauen, dass die Gefängnisleitung den Krieg der beiden Gruppen entfacht und für ihre Interessen instrumentalisiert. Danach verweigern sie dem System jegliches Komplizentum.

Der Film zeigt den Strafvollzug als Kriegssystem und im übertragenen Sinn den Krieg als Gefängnis für die Menschen. Die bemerkenswerte Anregung des Drehbuchs besteht darin, die eigentliche Ursache des Blutvergießens jenseits der unmittelbar konfrontierten Kriegsparteien zu suchen. Die Nahost-Politik der USA hat zur gegenwärtigen Krise sehr viel beigetragen, und Washingtons Irankriegspläne sind wohl kaum geeignet, die Angst in Israel kleiner werden zu lassen.

Interessegeleitete Zurückhaltung in der Beurteilung der aktuellen israelischen Regierungspolitik ist für das Land ein schlechter Dienst. Wer kann gegenwärtig schon sagen, welche weiteren Eskalationen dem israelischen Einmarsch in den Libanon nachfolgen? Nach den Erfahrungen eines halben Jahrhunderts wäre es an der Zeit zu erkennen: Jedes militärische Stärkekonzept von „Sicherheit“ in der Region ist eine Illusion, und jeder Vermittler, der den Palästinensern nicht zuhört, kann auch den Menschen in Israel nicht helfen.

Filme

Abgeordnete hinter Gittern, Frankreich 2006, Dokumentarfilm von Shimon Dotan (Ausstrahlung Arte-TV, 27.6.2006).

Me’ Achorei Hasoragim / Beyond The Walls (Jenseits der Mauern), Israel 1984, Regie: Uri Barbash, Drehbuch: Beni Barbash, Uri Barbash, Eran Pries.

Munich (München), USA 2005, Regie: Steven Spielberg, Drehbuch: Tony Kushner, Charles Randolph, Eric Roth.