"Die Nerven liegen blank"

In weniger als drei Wochen wurde im Nahen Osten die Uhr um 20 Jahre zurück gedreht: Israelische Soldaten sind wieder in Gaza und im Libanon - vermutlich werden sie dort länger bleiben

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In den vergangenen beiden Tagen bombardierte die israelische Luftwaffe Stellungen und Ausbildungslager der militanten libanesischen Widerstandsbewegung Hisbollah überall im Libanon, aber auch einen Stadtteil von Beirut, der als Hochburg der Hisbollah gilt, den Flughafen der libanesischen Hauptstadt, der nun geschlossen ist, Brücken, die Zufahrtsstraßen in den Süden des Landes und die Häfen des Libanon. Mindestens 60 Menschen wurden getötet. Die israelische Marine richtete derweil eine Seeblockade ein.

Auf diese Weise, so Sprecher des Militärs, solle einerseits verhindert werden, dass die beiden am Mittwoch entführten Soldaten außer Landes, möglicherweise in den Iran, geschafft werden. Andererseits wolle man damit den Nachschub der Hisbollah unterbinden. Kämpfer der Organisation feuerten derweil Katjuscha-Raketen ab, deren Reichweite immer größer wird: Erstmals schlugen sie im Zentrum der Großstadt Haifa, und in der 20 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt liegenden Kleinstadt Naharija ein; eine 40jährige Frau kam dabei am Donnerstag Morgen ums Leben.

Im Gazastreifen geht derweil „Operation Sommerregen“ unvermindert weiter: In der Nacht zum Freitag feuerten Kampfhubschrauber Raketen auf das Gebäude des palästinensischen Außenministeriums ab, das dabei schwer beschädigt wurde. Erneut wurden auch Ziele der radikalislamischen Hamas und des Islamischen Dschihad angegriffen. Palästinensische Kämpfer feuerten wieder Kassam-Raketen auf die israelische Stadt Sderot. Wie lange die Operationen noch weiter gehen werden, kann im Moment niemand sagen: Das, sagte Verteidigungsminister Amir Peretz am Freitagmittag, hänge davon ab, wie lange die öffentliche Meinung in Israel mitmache, und auch davon, welche Schritte die libanesische Regierung nun unternehmen wird.

Am Freitagmittag war die Atmosphäre im Norden Israels bis zum Zerreißen gespannt: Sonst notorisch friedliche Menschen reagierten gereizt auf jede Kleinigkeit. Immer wieder wurden die Bewohner der Städte und Dörfer in der Nähe der libanesischen Grenze per Sirene dazu aufgefordert, sich in die Luftschutzräumer ihrer Häuser und Wohnungen zu begeben. „Die Nerven hier liegen blank“, sagte Ehud Goldman, Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Naharija, einem eigentlich ziemlich idyllischen Küstenstädtchen, das 20 Kilometer von der Grenze entfernt liegt: „Im Moment läuft hier nichts mehr: Wir kommen nicht zum Arbeiten, nicht zum Schlafen, es gibt keine Entspannung – ich weiß nicht, wie lange das noch so gehen soll.“

Ein Satz, der zur Zeit im Norden des Landes oft zu hören ist. Wie zum Beispiel von der 32jährigen Avivit Ma'oz, die am Donnerstag Morgen erschüttert hinter einer Polizeiabsperrung stand und beobachtete, wie Sanitäter und Sicherheitsbeamte die Trümmer eines Gebäudes durchsuchten: Wenige Stunden zuvor war hier eine vom Südlibanon aus abgefeuerte Katjuscha-Rakete eingeschlagen. Eine 40jährige Frau war dabei gestorben; der Lärm der Detonation war überall in der Stadt zu hören gewesen und hatte selbst hartgesottenen Gemütern das Gefühl gegeben, dass es jeden hätte treffen können.

Es war das erste Mal dass eine der Katjuscha-Raketen, eine ursprünglich in der Sowjetunion entwickelte, mittlerweile meist modifizierte Boden-Boden-Rakete, eine Distanz von mehr als 20 Kilometern überwand, aber nicht das einzige Mal, dass eine von ihnen auf den Norden Israels abgefeuert wurde. Während sich nach der Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen alle Augen auf den Raketenbeschuss der Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft richteten, litten die Bewohner Nordisraels monatelang still unter den immer weiter reichenden Katjuschas, die Kämpfer der Hisbollah auf Galiläa abfeuerten: „Wir haben die Regierung schon seit Monaten darum gebeten, uns zu helfen – aber wir haben nicht einmal eine Antwort bekommen“, sagte Ma'oz: „Das ist doch kein Leben: Als die Truppen im Oktober 2000 aus dem Libanon abgezogen sind, haben wir alle geglaubt, dass wir endlich Ruhe haben werden, immerhin haben doch sogar die Vereinten Nationen festgestellt, dass der Abzug vollständig war. Tatsächlich war es eine Weile lang still gewesen – und dann kam plötzlich wieder eine nach der anderen und machte das Leben hier zur Hölle.“

Immer wieder kommentierten israelische Medien in den vergangenen Tagen, dass der Abzug aus dem Libanon, aus dem Gazastreifen Fehler gewesen seien, die nun wieder gut gemacht werden müssten. Nur die sonst ziemlich konservative Zeitung Ma'ariv ließ Soldaten von ihren grauenvollen Erfahrungen berichten, die sie während ihrer Libanon-Einsätze in den 90er Jahren gemacht haben und schickte dem einen Kommentar nach, indem vor einer Neuauflage des Abenteuers Libanon gewarnt wurde:

Es ist ein Irrglaube zu denken, dass der Libanon-Krieg für Sicherheit im Norden gesorgt hat. Er hat die Hisbollah auf der Bildfläche erscheinen lassen und ihr einen Grund geliefert, die Bevölkerung Israels heftiger anzugreifen, als es die PLO jemals zuvor getan hatte. Außerdem hat der Libanon-Krieg Wunden in unserem Land erzeugt, die bis heute nicht vollständig verheilt sind. Es muss andere Wege geben, das Problem aus der Welt zu räumen, und einer ist, der Hisbollah ihre Legitimation zu nehmen und die Scheba'a-Farmen an den zu übergeben, der sie unbedingt haben will.

Streitpunkt: die Scheba'a-Farmen

Bei den Scheba'a-Farmen handelt es sich um ein ungefähr 14 mal 2,5 Kilometer großes, sehr fruchtbares Gebiet im Dreiländereck Israel-Libanon-Syrien. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte Israel den Landstrich von Syrien. Die Hisbollah behauptet dennoch, dass es sich dabei um einen Teil des Libanon handelt und der israelische Abzug deshalb nicht komplett ist: „Es handelt sich dabei um eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit“, sagt ein Sprecher der Vereinten Nationen in New York: „Wir wurden nach dem Abzug der israelischen Armee darum gebeten, den genauen Verlauf der Grenze am 14.Mai 1978, also an jenem Tag, an dem die erste israelische Offensive im Südlibanon begann, festzustellen. Die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien ist aber bis heute nicht klar festgestellt, weil Syrien die Unabhängigkeit des Nachbarlandes nicht anerkennt. Es ist gut möglich, dass damals syrische Truppen auf libanesischem Gebiet operierten und libanesische Beamte zivile Funktionen auf syrischem Territorium ausgeübt haben“, erläutert der UN-Sprecher.

So hatte die libanesische Regierung während der Grenzfestsetzung Besitztitel von Landbesitzern im Gebiet der Scheba'a-Farmen vorgelegt, die libanesische Stempel tragen, um den Anspruch Libanons zu unterstreichen. „Wegen der beschriebenen Situation war das aber kein eindeutiger Beweis“, so der Sprecher: „Deshalb haben sich unsere Mitarbeiter mehr als 90 Landkarten aus der Zeit von vor 1978 angesehen, die alle die Scheba'a-Farmen als Teil Syriens zeigten – bis auf eine aus dem Jahr 1966.“ Eine Überprüfung dieser Karte habe ergeben, dass es sich dabei eine Fälschung neueren Datums handelt, und dabei noch nicht einmal eine besonders gute: „Es ging wohl darum, dieses eine kleine Fünkchen Zweifel zu erzeugen, das gewissen Kräften die Legitimation verschafft, ihren bewaffneten Kampf fortzusetzen. Von wem sie genau kam, ist bis heute unbekannt.“

So betrachten Israel und der größte Teil des Rests der Welt die Scheba'a-Farmen als Teil Syriens, das sich selbst allerdings zweideutig verhält: Nachdem Damaskus jahrelang die Scheba'a-Farmen beansprucht hatte, erklärten Regierungsvertreter in den vergangenen Monaten mehrmals, das Gebiet sei libanesisch. Mitglieder der israelischen Regierung hatten darauf hin angedeutet, dass Jerusalem in diesem Fall zu einem Abzug bereit sein könnte. Doch eine offizielle Abtretung des syrischen Besitzanspruches an die Libanesen in Form eines Briefwechsels zwischen Damaskus und Beirut, wie er von den Vereinten Nationen gefordert wird, blieb bis heute aus – aus gutem Grund, wie Mitarbeiter der UNO sowie der amerikanischen und israelischen Regierungen glauben: „Syrien hat keinerlei Interesse daran, für Klarheit zu sorgen“, sagt Amos Weisz, Libanon-Experte beim öffentlich-rechtlichen israelischen Fernsehsender Kanal 2:

Das Land erkennt den Libanon bis heute nicht an und hielt den Libanon lange Zeit besetzt. Nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri und den darauf folgenden Massendemonstrationen musste Damaskus allerdings seine Truppen abziehen. Syriens einzige verbliebene Machtbasis ist die Hisbollah: Die libanesische Regierung hat es nach dem israelischen Abzug nicht gewagt, Truppen in den Süden zu schicken, um das fragile Machtgefüge im von jahrelangem Bürgerkrieg gezeichneten Libanon nicht zu gefährden, weshalb die Organisation dort schalten und walten kann, wie sie will.

Doch mit der zunehmenden Stabilisierung des Zedernstaats und dem zunehmenden Nationalbewusstsein wurde in der Öffentlichkeit der Ruf nach einer Entwaffnung der Hisbollah (Palästinische Flüchtlinge im Libanon in der Klemme), aber auch der palästinensischen Milizen, die nach wie vor ungehindert innerhalb und außerhalb der Flüchtlingslager sagen, was Sache ist, immer lauter. Weisz:

Als dann die Hamas auch noch einen israelischen Soldaten entführte und die Armee wieder in den Gazastreifen einrückte und der Druck auf den syrischen Präsidenten zunahm, Druck auf den in Damaskus lebenden Hamas-Chef Khaled Maschal auszuüben, immer stärker wurde, war die Zeit für die Hisbollah gekommen, die Lage im Norden Israels mit einer großangelegten Operation ins Licht der Öffentlichkeit zurückzuholen. Die Strategie des Verbreitens von Angst und Schrecken durch willkürliche und relativ ungezielte Raketenangriffe ist einer gewollten Eskalation gewichen, bei der die israelische Reaktion vorhersehbar war.

Amos Weisz

Denn auf diese Weise werde nicht nur die Aufmerksamkeit von Damaskus abgelenkt, sondern auch noch gleich eine Schwächung Beiruts und, durch den teuren, aufreibenden Militäreinsatz Israels bewirkt.

Dennoch sind Israels Regierung und Generalstab von der Notwendigkeit der Offensive überzeugt: „Wir haben lange genug zugesehen“, sagt ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums in Tel Aviv: „Die Gefahr für unsere Bürger hat ein Ausmaß erreicht, das nicht mehr durch Zurückhaltung zu kontrollieren ist.“ Er glaubt nicht daran, dass eine Übergabe der Scheba'a-Farmen etwas ändern würde: „Vor einem Jahr war ich noch davon überzeugt, dass es nur noch daran hängt. Aber wir haben in den vergangenen Wochen gesehen, dass es um ganz andere Dinge geht. Wir dürfen auf keinen Fall das Interesse der syrischen Regierung an einer starken Hisbollah unterschätzen.“

Viele Beobachter stimmen ihm zu: „Durch die Verknüpfung der Entführung im Norden mit der Verschleppung des Soldaten in den Gazastreifen hat die Hisbollah ein Signal gegeben, dass sie ihre Selbstdefinition ändert, weg vom libanesischen Befreiungskampf, hin zu einer pro-palästinensischen Sache“, sagt Avi Leitner vom Fernsehsender Kanal 1. Und Gabriel Ochajon vom staatlichen Rundfunk fügt hinzu: „Vermutlich werden die immer was finden, um sich selbst zu legitimieren.“

So ließ Verteidigungsminister Amir Peretz am Freitagmittag durchblicken, dass das israelische Engagement im Libanon keine kurze Sache werden könnte: „Wir werden so lange bleiben, wie die Öffentlichkeit hinter uns steht, und so lange die libanesische Regierung nichts unternimmt, um für Ordnung in ihrem Land zu sorgen.“

Im Norden Israels packte derweil, wer konnte, seine Sachen, setzte sich in Auto, Bus oder Bahn und machte sich auf den Weg Richtung Süden – darunter auch Avivit Ma'oz und ihre Familie: „Ich habe die Nase voll“, sagte sie am Donnerstagmittag, während sie eine schwere Tasche in den Kofferrum wuchtete. Wann sie zurückkommen werden? „Keine Ahnung. Das ist doch schon lange kein Leben mehr hier.“