Berühmt für 36 Stunden

Die Halbwertszeit von Artikeln in Online-Medien folgt einem allgemeinen Muster und hängt weniger von der Popularität, sondern von der Präsentation und den Verhaltensmustern der Besucher ab

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Wissenschaft ist keineswegs als solche innovativ. Die Ergebnisse wissenschaftlichen Forschens bestätigen mitunter, was man intuitiv schon weiß. Aber sie können die Erkenntnisse durch ihre Methodik auf eine andere, etwas objektiviere Ebene heben. Wenn nun Physiker festgestellt haben, dass die Lebens- bzw. Verfallszeit einer Nachricht gerade einmal durchschnittlich 36 Stunden beträgt, so ist das selbst eine der Nachrichten, die wenig erstaunlich ist, dafür aber Vermutungen bestärkt. Die Wissenschaftler spielen aber auch auf Warhols bekannten Spruch aus dem 1968 an, dass in Zukunft jeder 15 Minuten Ruhm erreichen werde. Ein bisschen länger sei es schon, allerdings schaffen es natürlich bei weitem nicht alle Nachrichten, größere Aufmerksamkeit zu finden.

Albert-László Barabási von der University of Notre Dame und seine Kollegen aus den USA und Ungarn haben in ihrer 2005 erstellten Studie Fifteen Minutes of Fame, die jetzt in der Phys. Rev. E (73 066132) erschienen ist, die Dynamik untersucht, die die Besuche einer Nachrichtenseite im Web – die ungarische origo.hu - auszeichnet, um darüber Eigenschaften von komplexen Netzwerken zu eruieren. Normalerweise würden bislang nur Netzwerke untersucht, die sich relativ langsam verändern, während das Web täglich und stündlich Änderungen unterzogen ist und gegenüber dem 24-stündigen Schneckentempo von Zeitungen durch einen fortwährenden Umarbeitungsprozess ausgezeichnet ist.

Für die Wissenschaftler gibt es bei einer Nachrichtenseite stabile Elemente (Knoten), die das „Skelett“ bilden. Mit dieser Struktur des Portals sind zeitweise die Artikel verbunden, die zuerst auf der Eingangsseite und den jeweiligen Rubriken angezeigt und dann allmählich von neueren Artikeln verdrängt werden. Mit dem fortlaufenden Alterungs- oder Aktualisierungsprozess findet man schließlich den Artikel nicht mehr in den stabilen Knoten, sondern letztendlich nur noch – abgelöst vom „Skelett“ - über die Suchmaschine. Aufgrund dieser Dynamik sind die einzelnen Nachrichten selbst durch einen zeitlich sehr beschränkten Besucherstrom gekennzeichnet.

Das „Skelett“ des Nachrichtenportals origo.hu

Die der Analyse zugrunde liegende ungarische Newssite ist das größte Nachrichten- und Unterhaltungsportal des Landes und bietet neben Nachrichten und Berichten auch Foren, Downloads, freie Email-Accounts oder eine Suchmaschine an. 2002, als die datenschutzrechtlich womöglich nicht einwandfreie Analyse der von 250.000 Besuchern an einem Tag hinterlassenen Cookies mit ihrer Surfgeschichte durchgeführt wurde, erzielte das Portal 6,5 Millionen Pageimpressions. An diesem einen Tag wurden 3.908 neue Dokumente veröffentlicht.

Die Seiten, die fest zum „Skelett“, der festen Struktur, gehören, erhalten ein relatives konstantes Muster an Aufrufen, so dass die Zahl der Besucher linear zunimmt. Die Dokumente, die dem aktuellen Fluss unterliegen, werden hingegen nach ihrer ersten Publikation am häufigsten besucht, dann nimmt der Besucherstrom wieder ab. Nach wenigen Tagen wird ein Höhepunkt erreicht. Nach den sich daraus ergebenden Mustern haben die Wissenschaftler die besuchten Websites unterscheiden können. Im Zentrum des „Skeletts“ steht die Eingangsseite, die natürlich am meisten besucht wird, die anderen Seiten – in diesem Fall 933 - gehen wie die Zweige eines Baumes in durchschnittlich zwei Schritten vom Stamm ab. Es gibt also ein klares Zentrum und einige wenige stark vernetze Knoten.

Die Nachrichten erzielen mit 28% ihren höchsten Besuch am ersten Tag, am zweiten Tag sind es noch 7%. Bis zum vierten Tag erzielen sie noch einen kleinen, aber relativ konstanten Besucherstrom. Da die Artikel dann meist archiviert werden, resultieren die langfristigen Besucherzahlen aus Links von der Suchmaschine aus Links von anderen Artikeln des Portals bzw. aus dem Web. Die Abnahme der Aufrufe nach der Veröffentlichung erfolgt nicht exponentiell, was nach den Wissenschaftlern mit einem allgemeinen Merkmal des menschlichen Verhaltens zu tun hat, nämlich dass eine Periode der Aktivität (Besuch der Website und Aufrufen von Nachrichten) von einer Phase der Inaktivität abgelöst wird, und dass Nachrichten von denselben Besuchern nur einmal gelesen werden.

Natürlich unterscheiden sich die Artikel in ihrer Lebensdauer, was die Berechnung ihrer Halbwertszeit zeigt. Allgemein unterliegt die Halbwertszeit einem Potenzgesetz (power law), was heißt, dass einige Beiträge überdurchschnittlich oft aufgerufen werden, während die meisten übrigen auf wenig Interesse stoßen. Die durchschnittliche Halbwertszeit aller Nachrichtenartikel liegt bei 36 Stunden, danach nimmt der Besuch drastisch ab, was kaum etwas mit den Inhalten, sondern vor allem etwas mit den Surfgewohnheiten und den Besuchsmustern zu tun habe. Weil das Besuchsmuster für das Portal aber nicht gleichmäßig ist, die Artikel sich aber nur für kurze Zeit auf der Eingangsseite befinden, entgeht den Besuchern so ein erheblicher Teil der Nachrichten. So würde ein durchschnittlicher Nutzer des ungarischen Portals nur 53 Prozent der Nachrichtenartikel auf der Eingangsseite überhaupt sehen können, insgesamt ruft er 7% auf, was noch nicht heißt, dass er sie auch wirklich liest. Daher hängt die Quote eines Artikels nicht nur von seiner Popularität (oder der seines Titels in allererster Linie) ab, sondern auch von seinem Vorhandensein auf der Eingangsseite oder den wichtigsten Knoten. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass diese „geringe Nachrichtenpenetration“ charakteristisch für alle Webmedien ist. Man könne sie aber nur schwer quantifizieren, weil es keine geeigneten Instrumente gebe, um das Lesemuster von einzelnen Besuchern zu verfolgen.

Wenn wir einm Artikel nicht ausgesetzt sind, wenn sie sich an prominenter Stelle befindet, ist es unwahrscheinlich, dass wir überhaupt wissen, wonach wir suchen sollen. Der sich beschleunigende Nachrichtenzyklus lässt mehrere wichtige Fragen entstehen: Wie lange ist eine News ohne gezielte Suche zugänglich? Was zeichnet die Dynamik der Zugänglichkeit von News aus?

Ihre Analyse sei ein erster Schritt hin zu einem besseren Verständnis der Informationsdynamik vor allem für Websites, erklären die Wissenschaftler. Sie glauben, dass solche quantitativen Analysen durchaus auch auf andere Bereiche, beispielsweise auf kommerzielle Portale, die Waren anbieten, übertragbar seien. Man könnte also womöglich die Portale mit einem genaueren Wissen über das Benutzerverhalten besser gestalten und organisieren.