Kampagnen-Wikis für eine internetgestützte Politik

Wikipedia-Gründervater Jimmy Wales will nun auch die Politik revolutionieren

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Im Leitbild des am 4. Juli gestarteten "Kampagnen-Wikis", das es auch in einer deutschen Ausgabe gibt, fordert er den "Beginn einer Ära internetgestützter, partizipatorischer Politik" als Alternative zur "Rundfunk-Politik", die man nur als "dumm, dumm, dumm" bezeichnen könne. Dazu setzt er auf ein simples Rezept: Wikis und Blogs.

Bild: Kampagnen-Wiki

Die freie Enzyklopädie Wikipedia hat quantitativ längst alle traditionellen Nachschlagewerke hinter sich gelassen, und auch andere Projekte der übergeordneten Wikimedia-Stiftung können sich durchaus sehen lassen. So enthält etwa das freie Medienarchiv Wikimedia Commons mittlerweile über 680.000 Bilder, Töne und andere Mediendateien; die Quellensammlung Wikisource versucht sich an ersten größeren Digitalisierungsprojekten und der deutsche Wikimedia-Verein bemüht sich mit Projekten wie der Wikipedia-Academcy um mehr wissenschaftliche Beteiligung und Anerkennung.

Doch Wikimedia-Präsident Jimmy Wales ist ruhelos. Schon vor knapp zwei Jahren gründete der Wiki-Guru gemeinsam mit Angela Beesley, einer Wikipedianerin, einen kommerziellen Hosting-Dienst für Wiki-Communities, Wikia. Im März 2006 erhielt das Unternehmen eine Finanzierung in Höhe von 4 Millionen Dollar. Bisher ist Wikia vor allem durch nerdige Wissensdatenbanken wie Memory Alpha (Raumschiff Enterprise), Wookieepedia (Krieg der Sterne) oder Wikifur (anthropomorphe Tierwesen) aufgefallen. Die Gratis-Wikis, deren Inhalte wie Wikipedia unter der GNU FDL lizenziert sind, finanzieren sich durch Google-Werbung.

Am 4. Juli veröffentlichte Jimmy Wales dann sein Manifest für eine partizipatorische Politik. Darin bezeichnet er den durch Rundfunkmedien geprägten politischen Diskurs als "dumm, dumm, dumm" und fordert einen Paradigmenwechsel: "Wer auch immer Du bist, und woran auch immer Du glaubst - Du kannst mit mir den aufrichtigen Wunsch teilen, einen Prozess zu starten, in dem es um Inhalte, um Substanz und Gedanken geht, nicht nur um Erscheinung und Image." Das neugegründete "Kampagnen-Wikia" solle hierfür eine zentrale Wissensbasis werden. Freilich hilft es auch dabei, Wikia ein wenig bekannter zu machen.

Als Wikipedia-Vater, internationaler Wiki-Missionar und Netzwerker fiel es Wales nicht schwer, Aufmerksamkeit für seine neue Idee zu finden. Sein Aufruf am amerikanischen Unabhängigkeitstag löste eine große Resonanz in der politischen Blogosphäre und auch in klassischen Medien aus. Schnell füllte sich im Wiki eine Liste interessierter Blogger. Über 600 Menschen trugen sich in der Mailing-Liste des Projekts ein. Seit nunmehr fast zwei Wochen versuchen die Teilnehmer vor allem eine Frage zu beantworten: Warum sind wir eigentlich hier?

Vage Visionen

Wales vermerkt dazu in seinem Manifest lakonisch: "Ich weiß nicht, wie Politik gesünder gestaltet werden kann. Aber ich glaube, dass Ihr es könnt." Im englischen Wiki entstanden unter dieser vagen Devise zunächst vor allem Seiten über typische Themen der US-Politik: eine auszufüllende FAQ übersoziale Sicherungssysteme, gemischte Kommentare zum Thema Patriotismus oder eine strukturiertere Diskussion über Amerikas Nahostpolitik. Bei anderen Themen, etwa dem US-Dauerbrenner Homo-Ehe, versucht sich die Community an eher übersichtsartigen Darstellungen der verschiedenen Positionen.

Dabei zeigt sich schnell, dass ein Wiki eben nicht alles kann: Die Diskussionen sind ungeordnet und lassen Funktionen typischer Forensysteme vermissen. Wikia setzt darüber hinaus eine Art Pseudoforum auf Wiki-Basis ein, das jedoch ebenfalls nicht den Komfort einer Forenlösung wie phpBB bietet. Auf der Mailing-Liste argumentiert Wales dann auch, dass es gerade nicht um Diskussionen gehen solle, denn Wikis seien mehr als nur ein "merkwürdig programmiertes Webforum". Stattdessen fordert er auch für das Kampagnen-Wiki den von Wikipedia berühmten neutralen Standpunkt ein.

Damit eröffnete der Chefenzyklopädist eine weitere Diskussion: Wenn das Kampagnen-Wiki kein Forum und neutral geschrieben sein soll, was unterscheidet es dann noch von Wikipedia? Schließlich finden sich dort zu allen Themen der US-Politik bereits ausführliche Artikel. Zum Thema Homo-Ehe allein gibt es in der englischen Ausgabe neben einem ausführlichen Hauptartikel zahlreiche Unterartikel etwa über den rechtlichen Status in verschiedenen Ländern. Typischerweise sind Artikel zu komplexen Themen in Haupt- und Unterartikel untergliedert, so dass der Leser die Detailstufe gemäß seinen Interessen selbst wählen kann.

Neben der offenen Sinnfrage muss sich die Wiki-Gemeinschaft auch entscheiden, wie sie mit Extremisten umgehen will, die bereits im Wiki Fuß gefasst haben, etwa Pädophilie-Aktivisten oder einer obskuren Nazi-Sekte. Jimmy Wales sieht der Zukunft trotz allem gelassen entgegen: "Ich gehe davon aus, dass diese Website die ersten zwei Jahre sehr viel Spaß machen wird, und danach weiterhin viel Spaß und langsam ein großer, großer Einfluss folgen wird."

Die Geschichte der Wikipedia gibt ihm durchaus Recht. Schließlich ist auch die freie Enzyklopädie ein Projekt, das in einem gewissen kreativen Chaos entstand und mittlerweile nach mancher Statistik mehr Besucher verzeichnet als etwa America Online. Andererseits gab es in der Anfangszeit der Wikipedia ja noch den zweiten Gründervater, Larry Sanger, der bis zum Februar 2002 die philosophische Leitfigur zumindest der englischsprachigen Ausgabe der Enzyklopädie war. Wikipedia selbst ist hervor gegangen aus dem weit konservativeren Nupedia-Projekt, was das Selbstverständnis des Projekts als Enzyklopädie (vgl. Was Wikipedia nicht ist) wesentlich beeinflusst hat.

Insofern ist das Kampagnen-Wiki ein spannendes Experiment in Selbstorganisation. Es könnte sich durchaus zu einer nützlichen Ressource etwa für Kampagnen-Manager entwickeln, die eine Übersicht der gängigen Werkzeuge partizipatorischer Politik benötigen. Dazu zählen neben Blogs und Wikis auch Fundraising-Software, Forensysteme, Mailing-Listen und Event-Management. Auch für eine übersichtsartige Darstellung aktueller politischer Themen, eingebettet in den Kontext von Parteien und anstehenden Wahlen, könnte das Wiki sich zu einer sinnvollen Ergänzung zur Wikipedia mausern. Deren enzyklopädischer Anspruch steht einer mit vielen externen Links versehenen, stichwortartigen oder tabellarischen Struktur oft im Wege. Denkbar ist schließlich, dass das Wiki als Sprungbrett für zielorientierte Kampagnen zu bestimmten Themen dienen wird, die dann wiederum eigene Wikis und Blogs einsetzen.

Ein Lichtblick für Wales' jüngstes Projekt ist die konstant hohe Aktivität im Wiki, und auch die Einrichtung von Ablegern auf Deutsch, Spanisch, Portugiesisch und Französisch könnte helfen, Wikia als zentrale politische Wiki-Plattform zu etablieren. Ganz neu ist die Idee politischer Wikis nämlich nicht. So wird das pro-demokratische US-Weblog Daily Kos schon seit langem durch eine dKosopedia begleitet, und mit SourceWatch gibt es eine stattliche Wiki-Datenbank über PR-Firmen, Think Tanks und Lobbyisten. Wikocracy, Wikitution und Wiki Democracy versuchen sich an Recht und Verfassung. Eines aber fehlt all diesen Initiativen: Jimmy Wales.