Der vergessene Krieg

Im Gazastreifen geht der Konflikt zwischen der israelischen Armee und palästinensischen Kämpfern weiter, aber kaum noch jemand spricht davon

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Laufe der vergangenen Woche griff die israelische Luftwaffe nahezu ununterbrochen Bürogebäude, Lagerhäuser und Ausbildungslager an, die der radikalislamischen Hamas und dem Islamischen Dschihad zugerechnet werden. Auch die Wohnhäuser von mehreren Hamas-Funktionären wurden zum Ziel. Die Armee lieferte sich derweil zwei Tage lang im Flüchtlingslager Mughazi in der Nähe von Gaza-Stadt schwere Gefechte mit palästinensischen Kämpfern, während die außerhalb des Landstrichs stationierte Artillerie weiterhin unermüdlich grenznahe Gebiete mit Granaten beschoss – allerdings so gut wie vergeblich: Der bereits seit Monaten andauernde Beschuss der israelischen Städte und Dörfer in der Nachbarschaft zum Gazastreifen mit Kassam-Raketen ging dennoch weiter. In der Stadt Nablus im Westjordanland wurden bei einer Operation der Armee sechs Palästinenser getötet. Wie viele Menschen insgesamt im Laufe der vergangenen Tage ums Leben kamen, ist ebenso unklar wie die Zahl der getöteten Zivilisten, sicher ist aber, dass es mehr waren, als in den voran gegangenen Wochen von „Operation Sommerregen“ zusammen. In den Medien wird darüber so gut wie nicht berichtet: Die meisten Reporter sind nach Norden gezogen – ein Systemfehler, sagen Medienwissenschaftler.

Das Licht war eingeschaltet, die Kamera lief schon, der Reporter wartete nur noch darauf, dass sich die Moderatorin im Sendezentrum in der Heimat ihm zuwenden würde: „Und nun begrüße ich unseren Korrespondenten in Gaza...“

„Stattdessen hatte ich plötzlich die Regie im Ohr“, erinnert sich der Kollege: „Packt' zusammen“, hat der Mann gesagt, „zur Mittagszeit müsst ihr im Norden sein.“ Da wusste ich, dass Gaza endgültig Schnee von gestern ist.“ Das war vor eineinhalb Wochen: In den Morgenstunden hatte die Hisbollah einen israelischen Armeeposten an der libanesischen Grenze überfallen, zwei Soldaten entführt, mehrere ihrer Kameraden getötet, und damit eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die dazu geführt hat, dass heute kaum noch jemand von den Entwicklungen in und um Gaza herum spricht – wie auch. Innerhalb von Stunden erreichten die Ereignisse weiter nördlich, was israelische Bombardements und Einschüchterungsversuche durch palästinensische Extremisten nicht schafften: Das Journalistenkorps zog in Richtung Norden, bescherte der dortigen Hotelindustrie einen unerwarteten Boom und vergaß, dass es einen Landstrich namens Gazastreifen gibt.

„So ist das Leben“, sagt der Kollege: „Großer Krieg toppt kleinen Krieg, ob es mir gefällt oder nicht. Letzten Endes muss ich das tun, was meine Heimatredaktion verlangt, auch wenn ich selber gerne andere Wertigkeiten setzen würde. Wenn ich könnte, würde ich länger, besser recherchieren, Querverbindungen herstellen, tiefer in die Materie gehen. Aber dafür bleibt heutzutage so gut wie keine Zeit mehr: Mit dem Ergebnis, dass die Hisbollah erreicht hat, was sie wollte: Sie hat die Gunst der Stunde genutzt, um unter dem Vorwand, mit ihrer Operation die Palästinenser unterstützen zu wollen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen.“ Denn das habe es der militant-radikalislamischen Organisation, der nach dem gescheiterten Nationalen Dialog (Regierungsbildung im Libanon) die Entwaffnung durch die Regierung und der Verlust ihres Einflusses im Süden des Libanon drohte, ermöglicht, sich der Unterstützung der Palästinenser in den Flüchtlingslagern im Libanon zu versichern und damit ihre Position innerhalb des Landes zu stärken: „Und wir haben kräftig dabei mitgemacht.“

Es sei eine Situation, an der eigentlich niemand wirklich Schuld sei: Nicht die Reporter, die das tun, was die Auftraggeber wollen, weil sie ja davon leben müssen. Nicht die Redaktionen, die ein Ereignis in den Vordergrund stellen, weil es jeder andere auch tut. Und auch nicht das Publikum, dessen Bewusstsein von den Medien geformt wird: „Letzten Endes ist das gesamte System schuld“, sagt die amerikanische Medienwissenschaftlerin Julie Harris, die sich mit der internationalen Nahostberichterstattung befasst: „Die Themenauswahl verläuft heutzutage nahezu automatisch: Es wird berichtet, weil es alle anderen auch tun, selbst wenn dies den eigenen Klickraten, Zuschauer- und Hörerquoten oder Auflagenzahlen schadet.“ Sie führt das Beispiel der Clinton-Affäre) an: „Damals haben viele Medien festgestellt, dass sich das Publikum eigentlich nicht mehr für ihre monatelange Berichterstattung interessierte. Dennoch wurde weiter berichtet, weil niemand der Erste sein wollte, der damit aufhört. Ähnlich ist es heute: Es gibt kaum eine Redaktion, die mal einen Moment innehält und sich fragt, ob die eigene Berichterstattung wirklich richtig und sinnvoll ist – dazu ist das Produkt Information heutzutage viel zu schnell und viel zu kurzlebig: Es gilt 24 Stunden am Tag Nachrichtensender und Internetportale zu füllen und mit immer weniger Personal eine Zeitung voll zu schreiben. Man kann heutzutage rund um die Uhr Medien konsumieren und ist dennoch weniger informiert als vor zehn Jahren.“

Im Nahostkonflikt nehmen die Medien heutzutage einen hohen Stellenwert ein

Wir haben hier in Israel eine relativ große Zahl von Internetportalen, die teilweise von Zeitungen wie HaAretz, Jedioth Ahronoth oder der Jerusalem Post, Radio- und Fernsehsendern, aber auch von Serviceprovidern betrieben werden, und die, um das Publikum zu binden, ständig aktualisiert werden. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile nahezu rund um die Uhr Informationen als ,Breaking News“ verkauft werden, die zum Einen gar Keine sind, und zum Anderen dem Leser keinerlei Einordnung bieten. Um die Sache am Laufen zu halten, vermelden die Journalisten ihren aktuellen Recherchestand quasi in Echtzeit, ganz gleich ob die Informationen akurat sind, oder ob sie in ein paar Minuten, Stunden oder Tagen noch relevant sein werden. Ich habe mittlerweile von vielen Menschen gehört, dass sie sich davon regelrecht verwirrt fühlen. Mehr Information bedeutet nicht unbedingt auch bessere Information.

Ravit Jisraeli, Chefin vom Dienst beim israelischen Fernsehsender Kanal 1

Medienwissenschaftlerin Harris sieht dadurch Beeinflussungsversuchen Tür und Tor geöffnet:

Im Nahostkonflikt nehmen die Medien heutzutage einen hohen Stellenwert ein. Die Konfliktparteien tun Dinge, nur um damit in der internationalen Öffentlichkeit Punkte zu sammeln und es gibt kaum jemanden, der mal hinter die Kulissen schaut, weil dafür einfach keine Zeit da ist, weil Zeit meist Geld bedeutet: Die nächste Geschichte wartet ja schon.

So würden auf beiden Seiten höhere oder niedrigere Opferzahlen in den Raum geworfen, Pressetouren veranstaltet, Straßenschlachten und humanitäre Gesten inszeniert und die Medien vermeldeten all dies pflichtschuldigst:

Es geht darum, selbst möglichst gut auszusehen und die andere Seite möglichst schlecht dastehen zu lassen, denn das bedeutet internationale Unterstützung, die sich wiederum in Geld, Intervention oder Wählerstimmen ausdrückt, weil die Medien die öffentliche Meinung formen, der sich Politiker in aller Welt nicht verschließen können.

Wie zum Beispiel im Fall des Vorfalls am Strand von Gaza, bei dem sieben Mitglieder einer palästinensischen Familie getötet wurden: Wer dafür verantwortlich war, die israelische Armee (Israelisches Militär bombardiert palästinensische Familie beim Picknick) oder palästinensische Extremisten (Es war keine Granate), ist bis heute nicht abschließend geklärt. Aber längst geht es auch gar nicht mehr darum: „Die Angelegenheit unterschied sich von Anfang an in Nichts von vielen anderen Vorfällen im Gazastreifen in den vergangenen Wochen“, sagt Sarit Goldblatt vom israelischen Rundfunksender Reschet Beth: „Die Palästinenser haben den Vorfall ausgenutzt, um die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu bringen und das konnte die israelische Regierung auf keinen Fall zulassen. Also hat man eine militärinterne Untersuchung angeordnet, die im besten Fall zweifelhaft war, und damit das kleine Fünkchen Zweifel erzeugt, dass den Palästinensern den Wind aus den Segeln genommen hat. Ich glaube nicht, dass es dabei wirklich darum gegangen ist, wer Schuld an der Sache hatte, denn wenn sich Militär und Regierung wirklich darum kümmern würden, müssten sie im Moment Untersuchungen am laufenden Band anberaumen.“

Aber um sie zu beeinflussen, müssen die Medien erst einmal da sein. In Gaza sind sie es nicht mehr: Nur noch ein paar Korrespondenten internationaler Nachrichtensender sind dageblieben und kämpfen mit den Kollegen in Nord-Israel und dem Süd-Libanon um Sendezeit: „Die meiste Zeit sitzen wir im Moment im Hotel und warten darauf, dass wir mal wieder ran dürfen“, erläutert ein Mitarbeiter der BBC, während es draußen, irgendwo in Gaza, mal wieder laut kracht und eine Korrespondent des Senders zum x-ten Mal innerhalb von wenigen Stunden die Geschichte von der Evakuierung britischer Staatsbürger aus dem Libanon wiederholt: „Ich weiß, dass die Geschichte wichtig ist“, sagt der BBC-Mann, „aber einmal hätte sie gereicht – es warten doch auch noch andere Themen, auch von hier.“

Die Abwesenheit der Medien hat aber auch dazu geführt, dass jetzt auf beiden Seiten erbitterter be- und geschossen wird, als dies je zuvor der Fall war: In dieser Woche kamen im Gazastreifen mehr Menschen ums Leben als in den vorangegangene Wochen von „Operation Sommerregen“ zusammen; nie war der Beschuss der israelischen Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft des Landstrichs heftiger. Die humanitäre Lage spitzt sich derweil zu: Schon seit mehr als Woche wurden keine Güter mehr geliefert, weil anders als in den Anfangswochen der Kontrollpunkt Karni, über den der Güterverkehr zwischen Israel und dem Gazastreifen abgewickelt wird, nicht einmal mehr sporadisch für die notwendigsten Güter geöffnet wird. Dass man sich von der Welt verlassen fühle, ist eine Äußerung, die auf beiden Seiten der Grenze in den vergangenen beiden Tagen immer wieder zu hören gewesen war: „Da die Konfliktparteien die öffentliche Meinung nicht mehr zu fürchten brauchen, ist die letzte Hemmschwelle gefallen“, sagt Medienwissenschaftlerin Harris: „Medien und die Öffentlichkeit, die sie erzeugen, wirken auch als Regulativ.“