Schutz des menschlichen Lebens

Wie lässt sich ein Verbot der Forschung an embryonalen Stammzellen mit der Eillieferung von Bomben an Israel und dem Hinauszögern eines schnellen Waffenstillstandes verbinden?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Moral und Interessen sind nicht nur auf politischer Ebene schwer zu versöhnen. Ein Kompromiss, um die kognitive Dissonanz zu überbrücken, besteht oft darin, ähnliche Sachverhalte unterschiedlich zu definieren, um mit zweierlei Maß messen zu können. In Konfliktsituationen, in denen zwischen Freund und Feind unterschieden wird, können die Widersprüche bekanntlich besonders extrem werden, weil Differenzierungen nicht mehr gefragt sind. Gegenüber Feinden – oder wen man dafür hält – ist plötzlich vieles erlaubt und geboten, was im normalen Miteinanderleben verpönt und strafbar ist. Das ist ein altes Dilemma, das beim Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon gerade wieder deutlich im Fall der US-Regierung sichtbar wurde, die einerseits eilig neue „Präzisionsbomben“ nach Israel liefert und die Rufe nach einer schnellen Waffenruhe blockiert, während US-Präsident Bush gleichzeitig das Überschreiten der „moralischen Linie“ mit einem Veto gegen ein Gesetz verhindern will, das die Forschung an embryonalen Stammzellen mit öffentlichen Geldern ermöglicht hätte.

President George W. Bush holds 14-month-old Trey Jones of Cypress, Texas, following his remarks about stem cell research policy legislation in the East Room of the White House Wednesday, July 19, 2006. "Each of these children was adopted while still an embryo, and has been blessed with the chance to grow up in a loving family," said the President of children sharing the stage with him. Foto: Weißes Haus

Auf der einen Seite wird aus politischen Gründen, die man billigen kann oder nicht, in Kauf genommen, dass weitere Zivilisten auf beiden Seiten getötet und verletzt werden, dass Hunderttausende von Menschen auf beiden Seiten fliehen müssen, dass ein immenser Schaden der Infrastruktur auf beiden Seiten verursacht wird, der das Leben der Menschen beeinträchtigt. Zudem liefert man mit Steuergeldern entwickelte und gebaute Raketen, deren einziges Ziel es ist, gezielt Menschen zu töten, in das Krisengebiet, während man eine gezielte Forschung an embryonalen Stammzellen aus Achtung vor dem Leben verbietet, weil damit der Tod von menschlichen Embryonen aus wenigen Zellen, die in aller Regel bei der künstlichen Befruchtung als überzählige zurückbleiben, einhergeht.

Bush will mit seinem Veto, wie er sagte, einen Konflikt zwischen Ethik und Wissenschaft verhindern, „der nur beiden und der ganzen Nation Schaden zufügen kann“. Amerika müsse der Versuchung widerstreben, mit dem Fortschritt der Wissenschaften „das Leben zu manipulieren und die menschliche Würde zu verletzen“. Amerika sei auf dem Prinzip gegründet worden, dass alle Menschen gleichgestellt seien und „von unserem Schöpfer das Recht auf Leben“ verliehen bekommen hätten. Um seine Position zu veranschaulichen, trat Bush mit Kindern auf, die durch In-Vitro-Fertilisation entstanden sind, aber zunächst nicht gebraucht wurden und später adoptiert wurden, um sie vor ihrer Vernichtung zu bewahren. Das soll demonstrieren, dass aus solchen eingefrorenen Embryos, die man für die Stammzellenforschung verwendet, werden sie in den Uterus eingesetzt, gesunde Kinder werden können. Der moralische Anspruch, den Bush für die USA einfordert, ist hoch und so fundamental, dass die Diskrepanz zu anderen Entscheidungen derselben Regierung, die sonst unter „realpolitischen“, also weitgehend ethikfreien Kriterien getroffen werden, deutlich sichtbar wird (das Dilemma betrifft natürlich keineswegs nur die USA):

These boys and girls are not spare parts. They remind us of what is lost when embryos are destroyed in the name of research. They remind us that we all begin our lives as a small collection of cells. And they remind us that in our zeal for new treatments and cures, America must never abandon our fundamental morals.

US-Präsident Bush

Zur fundamentalen Moral, „nicht unschuldiges Leben zu töten“, scheint aber nicht zu zählen, dass in kriegerischen Einsätzen wie im Irak oder Afghanistan auch das Leben von „unschuldigen“ Erwachsenen und Kindern nach ihrer Geburt geopfert wird, die schon ein wenig mehr als ein Zellhaufen sind. Im Irak sterben an einem von den USA begonnenen und damit auch zu verantwortendem Krieg täglich weit über 100 Zivilisten. Natürlich lässt sich ein Leben nicht gegen ein anderes verrechnen, aber der Unterschied zwischen der verpönten wissenschaftlichen Benutzung weniger tiefgefrorener Embryos, die durch künstliche Befruchtung entstanden sind und potenziell zu Menschen werden könnten, wenn sie adoptiert würden, und der zugelassenen alltäglichen Tötung und Verstümmelung von Menschen, die bereits leben und Schmerzen spüren, grenzt, wenn man keine Zwei-Welten-Theorie mit zweierlei Maß für das Recht auf Leben erstellt, schon an Zynismus.

Zur fundamentalen Moral, die Bush für die USA für verbindlich hält, gehört offenbar auch nicht, dass die menschliche Würde für Menschen, die man nur zum Feind erklärt, nicht wichtig genommen werden muss. Und dazu gehört auch nicht, dass möglichst schnell in militärische Konflikte, die die US-Regierung durchaus beeinflussen und mäßigen könnte, eingegriffen wird. Man stellt sich zwischen Wissenschaft und dem unschuldigen Leben und blockiert Versuche, eine schnelle Waffenruhe zu erreichen, was weitere Menschenleben kostet, um durch die Eillieferung von „Präzisionsraketen“ der einen Konfliktpartei noch die Möglichkeit zu gewähren, zuvor noch strategische Ziele zu erreichen (die zumindest die Vertreibung von Zehntausenden von nicht direkt am Konflikt beteiligten Menschen und die Zerstörung von deren Häusern beinhaltet).

Die schon 2004 mit Blick auf Iran und Syrien vereinbarte Lieferung von Tausenden von satelliten- und lasergesteuerten Präzisionsraketen (Strategische Aufwertung), die nun schnell und heimlich bewerkstelligt werden sollte, bevor die New York Times Kenntnis davon erhalten hat, könnte aber auch die Situation in der Region erneut zuspitzen. Israel, gedeckt durch die USA, die eine Resolution des UN-Sicherheitsrates blockierte, zerstört mit Luftangriffen Flughäfen, Häfen und Verbindungswege auch aus dem Grund, um dadurch die heimliche Lieferung von Waffen vor allem aus dem Iran in den Libanon zu verhindern, während Israel gleichzeitig still und heimlich von den USA mit Waffen versorgt wird. Möglicherweise als Kompensation der Einseitigkeit wurden schnell Waffenlieferungen in Höhe von über 6 Milliarden Dollar an Saudi-Arabien gebilligt.

Allein 23 Tonnen an Sprengstoff wurden in Form von Bomben auf einen Bunker in Beirut abgeworfen. Man vermutete, dass sich hier die Führung der Hisbollah zurückgezogen hatte. Der Angriff scheint aber wirkungslos gewesen zu sein. Überhaupt haben die bisherigen Angriffe außer toten und verletzten Zivilisten und großen Zerstörungen der Hisbollah und ihrem Waffenarsenal wenig Schaden zugefügt. Selbst im Pentagon scheint man gegenüber israelischen Erfolgsmeldungen skeptisch zu sein. Israel will das Bombardement noch zwei oder drei Wochen fortsetzen und das auf libanesischer Seite evakuierte Grenzgebiet mit Bodentruppen sichern. UN-Generalsekretär Kofi Annan warnt vor einer „humanitären Katastrophe“, wenn die Gewalt nicht eingestellt wird. Erneut kritisierte er die Hisbollah und Israel, das „exzessive und unangemessene Gewalt“ einsetze.