Recht auf Notwehr?

Moralphilosophische Überlegungen zum gegenwärtigen Krieg im Nahen Osten

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Es liegt etwas Beunruhigendes in den Stellungnahmen, die wir in den letzten zwei Wochen zum Krieg zwischen Israel und dem Libanon lesen konnten. Das Beunruhigende lässt sich an einzelnen Beiträgen festmachen, wie dem von Amos Oz, der befindet, dass Israel „in erster Linie“ die Hizbollah angreife und nicht Zivilisten (wie die Hizbollah es tut). Es lässt sich aber auch an Reaktionen auf Äußerungen etwa der Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul festmachen, die die Bombardierung von Zivilisten und zivilen Einrichtungen als „völkerrechtlich völlig inakzeptabel“ bezeichnet hatte und dafür fast einvernehmlich scharf gerügt wurde. Wie also kommt es, dass zwei entscheidende Prinzipien der Theorie des Gerechten Krieges – das Gebot, Zivilisten nicht anzugreifen, und das Gebot der Verhältnismäßigkeit – auch von im Übrigen bedachtsam argumentierenden Verteidigern Israels so eilig beiseite geräumt werden? Zu welchen moralisch erschreckenden Resultaten führt es denn, von der israelischen Armee zu verlangen, verhältnismäßig zu reagieren und nur Kombattanten anzugreifen, dass man solche Forderungen nicht stellen darf? Und wie könnten die so Erschrockenen die Aufhebung solcher Maßstäbe rechtfertigen?

Das meiste, was zur Verteidigung Israels gesagt wurde und wird, kann man ohne moralische Bedenken unterschreiben. Ja, es ist richtig, dass Israel das Recht hat, sich gegen Angriffe der Hizbollah zu verteidigen. Ja, es ist richtig, dass es die Entführung israelischer Soldaten durch die Hizbollah war, die die gegenwärtige Krise auslöste. Die Hizbollah, nicht Israel ist der Aggressor. Es ist ebenfalls richtig, dass Israel nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, seine Bürger zu verteidigen. Ebenso hätte die libanesische Regierung nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, seine eigene politische Souveränität gegen die Hizbollah zu verteidigen, diese zu entwaffnen und – da sie selbst zu schwach ist – Hilfe aus dem Ausland hierfür in Anspruch zu nehmen. Ja, der libanesischen Regierung ist Versagen vorzuwerfen.

Selbstverständlich ist es auch richtig, dass auf der anderen Seite die Argumentation der Hizbollah zur Rechtfertigung ihrer Angriffe haltlos ist. Die Hizbollah verteidigt sich nicht gegen Israel, und das nicht nur deshalb nicht, weil Israel kein libanesisches Gebiet mehr besetzt. Die Hizbollah ist zudem weder legitime Repräsentantin der Libanesen – nicht einmal derer, die mit ihr sympathisieren – noch der Palästinenser. Sie hat keinerlei Rechte gegen Israel vorzuweisen. Zudem bereitet es keinerlei Schwierigkeiten, das Vorgehen der Hizbollah – in bello – als moralisch ungerechtfertigt zurückzuweisen, also das ausschließlich auf Zivilisten gerichtete, völlig dem Zufall überlassene Terrorbombardement israelischer Städte und Dörfer.

Umstrittener ist die Frage, welche Form und welches Ausmaß die israelische Selbstverteidigung gegen die Hizbollah annehmen darf. Hier kann es kaum absolute Klarheit geben. Machen wir – um des Arguments willen – die größtmöglichen Zugeständnisse an Israel, so erscheint es zusätzlich zu dem oben Gesagten gerechtfertigt, dass Israel für seinen Krieg gegen die Hizbollah die territoriale Integrität des Libanon verletzt (auch wenn Israel selbst bisher bestritten hat, überhaupt einen Krieg gegen den Libanon zu führen). Schließlich ist der Libanon durch seine Unterlassung, selbst gegen die Hizbollah vorzugehen, für die gegenwärtige Situation zu einem erheblichen Teil mitverantwortlich. Zudem kann gerechtfertigt werden, dass die israelische Armee sich über die Befreiung der entführten Soldaten hinaus – also das Zurückschlagen des Angriffs im unmittelbaren Sinne – eine Schwächung der Hizbollah zum Ziel gemacht hat. „Das Ziel des Krieges ist ein besserer Frieden“, schrieb der englische Militärhistoriker Liddell Hart. Sogar die Bombardierung von Brücken, Straßen, des Hafens und des Flughafens kann dann als erlaubtes Vorgehen gegen militärische Ziele gerechtfertigt werden, ebenso wie die Bombardierung von Wohngegenden, in denen sich militärische Einrichtungen der Hizbollah befinden. Die moralische Grundlage hierfür bietet die auf Thomas von Aquin zurückgehende Doktrin der „doppelten Wirkung“, die besagt, dass eine Handlung mit zwei Wirkungen – einer guten und einer schlechten – gerechtfertigt ist, solange die gute Wirkung intendiert ist und die schlechte bloß einen vorhersehbaren, aber nicht vermeidbaren Nebeneffekt darstellt. Die gute Wirkung muss dabei allerdings die schlechte Wirkung aufwiegen.

Hierin liegt aber auch schon die Crux der Beurteilung der Gerechtigkeit dieses Krieges. Denn wieviel Gutes müssen ein Krieg oder eine einzelne Aktion im Krieg hervorbringen, um die vorhersehbaren zivilen Opfer gemäß der Doktrin der „doppelten Wirkung“ (so sie denn überhaupt zu rechtfertigen ist) aufzuwiegen? Vieles wird davon abhängen, wie schnell Israel diesen Krieg wieder beenden kann, und ob mit Erfolg oder nicht. Gelingt es Israel, die Hizbollah sehr bald dauerhaft zu schwächen oder sogar, wie Amos Oz hofft, zu „zerschlagen“ - dann vielleicht würde dieser Erfolg all das Übel, dass dieser Krieg bereits gebracht hat und noch bringen wird, aufwiegen.

Doch schon jetzt scheint unwahrscheinlich, dass diese Rechnung moralisch aufgehen kann, angesichts von über 400 zivilen Opfern im Libanon und etwa 20 in Israel, über 1500 Verletzten in beiden Staaten und hunderttausenden libanesischer Flüchtlinge. Hinzu kommt die Zerstörung von in erster Linie ziviler Infrastruktur, von Elektrizitätskraftwerken und Wasserversorgung. Wie Michael Walzer bemerkt, sind Strom und Wasser wie Nahrung: auch die Armee braucht sie, aber dennoch ist es nicht gerechtfertigt, sie mit dem Hinweis auf die militärische Nutzung zu zerstören. Und selbst wenn die Rechnung noch aufgehen kann, so kann sie erst in der Zukunft abgeschlossen werden.

Woher also – nochmals - nehmen die Kritiker von Frau Wieczorek-Zeul die Sicherheit, ihre Verurteilung der zivilen Opfer als „antiisraelische Propaganda“ abzutun? Wie kommt Amos Oz zu der Einschätzung, Israels tue alles, um die Hizbollah zu treffen und Zivilisten zu schonen, und wie kommt Thomas Schmid von der FAS – nur ein Beispiel – dazu, ihm zustimmend die Europäer zu belehren, diesen Unterschied im Vorgehen Israels und der Hizbollah ebenfalls zu sehen?

Das sind keine rhetorischen Fragen. Es erscheint tatsächlich möglich, die genannten Positionen moralphilosophisch zu stützen. Man kann dafür argumentieren, dass die Forderung an die israelische Armee, noch vorsichtiger vorzugehen, als moralisch nicht vertretbar und – wenn schon nicht antiisraelisch, dann vielleicht zu kurz gedacht – zurückgewiesen werden muss (eine entsprechende Forderung zur Schonung israelischer Zivilisten an die Hizbollah würde wohl ohnehin wenig Sinn ergeben). Allerdings müssen dafür starke Annahmen gemacht werden. Da ist erstens die Annahme, dass Israel keine andere Wahl hatte. Israel konnte es sich nicht aussuchen, ob und wie es diesen Krieg führt; es wurde zu diesem Krieg gezwungen. Eine begrenzte Reaktion oder gar die Verhandlung mit der Hizbollah – auf die Forderungen Hassan Nasrallahs nach einem Gefangenenaustausch einzugehen – wären demnach keine echten Optionen gewesen. Warum nicht? Weil die Hizbollah in diesem Fall auch in Zukunft israelische Städte und Dörfer mit Raketen beschossen, weiterhin Soldaten angegriffen und entführt hätte. Weil die Hizbollah weiterhin eine Gefahr für Israel dargestellt hätte. Diese Argumentation jedoch schlägt – beim besten Willen – fehl. Das Ziel des Krieges ist ein besserer Frieden, durchaus – aber eben kein „absoluter“ Frieden, keine absolute Sicherheit. „Die Schlüsselbegriffe sind alle relativ“, schreibt Michael Walzer in Gibt es den gerechten Krieg?, „nicht Sicherheit, sondern nur 'größere’ Sicherheit.“ Keine Araber – kein Terror, lautet eine berühmt-berüchtigte Losung der israelischen Rechten. Auch das ist kein gültiges Argument zur Vernichtung des arabischen Volkes.

Rechtfertigt der „äußerste Notfall“ den Angriff auf Zivilisten?

Was aber, wenn die Gefahr, die von der Hizbollah ausgeht, hinreichend groß ist? Mit dieser Zusatzannahme wird das Argument schlüssig. Es handelt sich um das – höchst umstrittene – Konzept des „äußersten Notfalls“, welches wiederum auf Michael Walzer zurückgeht und unter anderem besagt, dass ein Volk, welches von Vernichtung oder Versklavung bedroht ist, zu seiner Verteidigung auch solche Mittel anwenden kann, die normalerweise unzulässig sind. Walzers Beispiel ist das britische Terrorbombardement gegen deutsche Städte angesichts der Gefahr eines Siegs des Nationalsozialismus. Dieser hätte die Welt zu einer Welt gemacht, „in der ganze Völker versklavt und niedergemetzelt werden“. Es erscheint zumindest nicht abwegig – wenn man andererseits auch nicht unbedenklich zustimmen möchte –, den Sieg des militanten Islamismus ebenso zu behandeln. Könnte er nicht zu einer Welt führen, regiert von einer menschenverachtenden, totalitären Doktrin? Wenn die Gefahr, die von der Hizbollah ausgeht, so groß ist, dass sie die Existenz des jüdischen Staates und mit ihm das Überleben und die Freiheit des jüdischen Volkes tatsächlich gefährdet, dann bedeutete sie tatsächlich einen „äußersten Notfall“ für die gesamte Welt, die das Überschreiten von Grenzen rechtfertigte.

Aber deutete der casus belli des gegenwärtigen Krieges, die Entführung zweier israelischer Soldaten, auf einen „äußersten Notfall“ hin? Sicherlich nicht. Auch wenn man das (gewiss menschenverachtende) gegenwärtige Bombardement der Hizbollah auf israelische Zivilisten hinzuzählt, finden sich keine Anzeichen für einen „äußersten Notfall“ (zudem bleibt ja noch zu beweisen, dass dieses Bombardement durch eine andere Strategie Israels nicht hätte verhindert werden können). Der „äußerste Notfall“ kann, so scheint es, nur in einem zukünftigen, aber unmittelbar bevorstehenden Angriff gesucht werden, für den sich in der Gegenwart die Anzeichen mehren. Ein Anzeichen für einen äußersten Notfalls ist sicherlich die erklärte Absicht der Hizbollah, Israel zu zerstören. Nimmt man nun zusätzlich an, dass die Hizbollah die Fähigkeit dazu hat, diese Absicht auch und in unmittelbarer Zukunft in die Tat umzusetzen, so muss von einem „äußersten Notfall“ gesprochen werden. Die Zulässigkeit präemptiver Maßnahmen ist zwar moralisch und völkerrechtlich äußerst umstritten. Andererseits, schreibt der israelische Juraprofessor Emanuel Gross, ist das Völkerrecht sicherlich nicht als Selbstmord-Pakt gedacht. Dasselbe gilt für moralische Konventionen.

Zählen die israelischen Zivilisten im „äußersten Notfall“ also mehr als die libanesischen? Wohl kaum. Aber – und hierin liegt eine weitere zu machende Annahme – Israel hat gegenüber seiner eigenen Bevölkerung stärkere Pflichten als gegenüber der libanesischen Bevölkerung: an erster Stelle die Pflicht, seine eigene Existenz zu sichern, um die Freiheit und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger schützen zu können. Zum Vorliegen eines „äußersten Notfall“ kämen nun als weitere Voraussetzungen für einen gerechtfertigten Angriff auf Zivilisten die Erfüllung weiterer Kriterien legitimer Selbstverteidigung. So müsste der Angriff notwendig sein und Aussicht auf Erfolg haben. Das also sind die drei starken Annahmen, die gemacht werden müssen, um Angriffe Israels auf die libanesische Zivilbevölkerung zu rechtfertigen:

Wenn ein unbegrenzter Angriff der Hizbollah unmittelbar bevorstand, als Israel sich zur Bombardierung ziviler Ziele entschloss, ein Angriff, der das Ziel gehabt hätte und in der Lage gewesen wäre, den Staat Israel zu vernichten, und wenn ein Präemptivschlag zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit gewesen wäre, dieser Vernichtung zu entgehen, und wenn ein solches Vorgehen zu diesem Zeitpunkt Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, dann sind die Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele, die Israel unternommen hat und weiterhin unternimmt, moralisch nicht „völlig inakzeptabel“ (sondern vielmehr gerechtfertigt). Ich selbst nehme nicht an, dass diese drei Bedingungen erfüllt sind. Ich denke jedoch nicht, dass Verteidiger der israelischen Strategie gegen die Hizbollah – angesichts der hohen Anzahl ziviler Opfer dieser Strategie – ihre Position verteidigen können, ohne diese drei Bedingungen als erfüllt anzusehen.