Cool und frei auf schwankendem Grund

Prekärer Mythos: "Pirates of the Caribbean" und die Erinnerung an das fast vergessene Genre des Piratenfilms im westlichen Kino

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Nichts Geringeres als die Wiedergeburt eines totgesagten Genres gelang dem damals noch nicht übermäßig bekannten Gore Verbinski ("The Mexican") im Jahr 2003 mit "Pirates of the Caribbean - The Curse of the Black Pearl" (dt. "Fluch der Karibik").

Das Geheimnis dieses Überraschungserfolgs war die von Ironie und (post-)modernem Relativismus geprägte Grundhaltung des Films: Munter mixte er altmodische Motive und moderne Erzählweise, kombinierte Versatzstücke des "Mantel & Degen"-Genres mit Elementen des Teenie-Horror und benutzte das Image seines Stars Johnny Depp geschickt zur Etablierung eines weichen, dandyhaften, donquichottesken, zugleich ausdrucksstarken wie komischen Helden. Zudem belebte der Film die anarchische Figur des Freibeuters wieder zu neuem Leben. Jetzt kommt die Fortsetzung des Films ins Kino und ungeachtet des nun fehlenden Überraschungseffekts kontrastiert wieder ein wohltuender grundsätzlicher Unernst und die Frechheit des Films mit dem allgemeinen Kinotrend in Zeiten, in denen in Hollywood moralisierende Message-Movies wieder neu in Mode gekommen sind.

Bilder: Walt Disney Pictures

Mit einer Hochzeit, die keine ist, beginnt es fast wie in "Kill Bill", auch hier kommt ein Schurke und verdirbt der Braut das Glück. Will Turner (Orlando Bloom) und Elizabeth Swann (Keira Knightley), die im ersten Teil der "Pirates of the Caribbean"-Franchise die romantische Handlungskomponente garantierten, wollen in Port Royal heiraten, doch wird diese Absicht wüst unterbrochen, als ein gewisser Gibbs im Dienst der "East-India-Company", begleitet von königlichen Truppen und uninteressiert an etwaigen Einwänden, und kämen sie auch vom Gouverneur selbst, die beiden verhaften lässt.

Schnell ist klar: Kapitalismus verdirbt die Romantik, und ihr Repräsentant Gibbs ist der Schurke im Spiel; er sucht einen magischen Kompass, der sich im Besitz von Captain Sparrow (Johnny Depp) befindet und unermessliche Reichtümer verspricht. Mit Hilfe von Turner will er den Kompass finden. Das ist der Kern der Handlung von der Fortsetzung "Pirates of the Caribbean - Dead Mans Chest", der zeitgleich mit einem dritten Teil gedreht wurde, der im kommenden Jahr in die Kinos gebracht wird.

A pirate's life is a wonderful life
You'll find adventure and sport
But live every minute
For all that is in it
The life of a pirate is short (aus Steven Spielbergs "Hook" ).

Piraten könnten auch die romantische "idee fixe" eines jungen Mädchens sein

Piraten waren schon immer eine besondere Form von Helden. Kinder an Karneval wollen nicht Räuber sein, sondern Seeräuber, Freibeuter mit wildem Bart, Augenklappe, blitzendem Degen in der Hand und einem wilden Schal um ihren Kopf geschwungen. Gibt es eine abenteuerlichere Figur als den Piraten? Auch in den Abenteuergeschichten, die das Kino uns älter gewordenen Kindern erzählt, nehmen Piraten eine besondere Stellung ein: Sie gehören zur seltenen - auch selten gewordenen - Gattung des heldenhaften, das heißt des "positiv besetzten" Gangsters, des Gangsterhelden.

Blicken wir noch einmal zurück auf Teil eins: Da steht ein Mann auf dem Mastkorb seines Schiffs und gleitet langsam in den Hafen der Karibikstadt Port Royal. Von oben herab blickt Johnny Depp als Piratenkapitän Jack Sparrow von der Leinwand auf uns und die Welt, cool, überlegen und scheinbar unberührbar, dabei ausgestattet mit einigen wichtigen Attributen aller Filmpiraten: Zotteligem langen Haar, braungebrannter Haut, klarem Blick und dem Mut, alles auf eine Karte zu setzen. Erst allmählich, während Sparrow an den Gerippen gehenkter Piraten vorbei fährt, erkennt man, wie klein und schäbig das Schiff eigentlich ist, und dass dieser Kapitän sein einziges Besatzungsmitglied ist. Als das Boot dann just am Landungspier im karibischen Wasser versinkt, hat Sparrow nur noch sich selbst - und seinen Stolz. Ein großer erster Auftritt.

So ironisch diese Szene kurz nach Beginn von Gore Verbinskis ironischem Piratenfilm ist, so postmodern die ganze Johnny-Depp-Figur eines Bohemien-Piraten, so sehr war dieser Moment mit seinem doppelten memento mori auch ein melancholischer Abgesang auf ein ganzes Genre, das offenbar erst einmal symbolisch versenkt werden musste, um dann während des Films auf gewisse Art wiederaufzuerstehen.

Die ersten 15 Minuten waren damals nichts als ein Kampf mit Mythen: Piraten, wird erzählt, könnten auch die romantische "idee fixe" eines jungen Mädchens sein, das offenbar zu viele Piratengeschichten gelesen hat und sich eine Begegnung mit den Freibeutern herbeischwärmt. Als sie sich bald darauf in der Nebellandschaft einer gothic tale tatsächlich ereignet, ist sie gepaart mit Schauer und Schrecken - doch alles ist ein Traum, wie man bald erfährt, zum Auftakt des Tages, an dem Johnny Depps Captain Sparrow landen und das nunmehr erwachsene Mädchen von Piraten entführt werden wird, die auch mehr romantisches Gespinst als Realität sind...

Seit drei Jahrzehnten waren Piraten im Kino nahezu vergessen. Es hatte kaum noch Piratenfilme gegeben und noch länger keine erfolgreichen. Zuletzt hatte man nur noch von mehr oder weniger gigantischen Flops gehört: Ob Polanskis "Pirates" (1986), Spielbergs "Hood" (1991) oder "Cutthroat Island" (1995) von Renny Harlin. Der Piratenfilm schien niemanden mehr zu interessieren: ein Zombie-Genre, nicht tot und nicht lebendig, unzerstörbar, unberechenbar und immer gut, um seine Macher ins Verderben zu reißen - was schon selbst wieder ein romantisches, insofern ganz passendes Motiv ist.

Partisanen im Spektakel

Es war ein Mal, da schien der Piratenfilms perfekt zu funktionieren: Ein romantischer Mythos von Freiheit und Abenteuer, strenger ritualisiert und stilisierter zwar als andere Hollywoodfilme, aber doch darin die grandiose Verkörperung von Unabhängigkeit, vom antiautoritären Aufstand gegen Ungerechtigkeit, Vereinnahmung, mitunter Schwerkraft.

Im Kino ist Piraterie die glamouröseste Form des Verbrechens, mehr Traumspiel als historische Realität. Mit der hatten Piratenfilme schon seit Douglas Fairbanks bis heute maßstabsetzendem Auftritt in "The Black Pirat" (1926) kaum zu tun. Warum sollten sie auch? Immer ging es, vielleicht noch mehr, als in anderen Period Pictures der Filmindustrie, um das Überschreiten der Wirklichkeit, den Eintritt in eine Welt des Phantastischen, des verschwenderischen Spektakels.

Gerade weil Fairbanks, bekanntlich Produzent seiner eigenen Filme, das schon ganz früh begriffen hatte, ist "The Black Pirat" so gut: Wenn Fairbanks leichtfüßig an der Schiffswand emporklettert, Fechtduelle mit seinen Feinden austrägt, zeigt, wie einer ganz allein ein Schiff kapern kann und dann scheinbar schwerelos durch die Wanten klettert und an einem Segel heruntergleitet, in der er zuvor ein Messer gesteckt hat, dann ist die Handlung nur Folie und Vorwand für die Auftritte des Stars.

Erst Henry Kings "The Black Swan" von 1942 war wieder so ehrlich und wild wie "The Black Pirat". In diesem Film erst könnte man sagen, kommen die Kino-Piraten ganz zu sich selbst. Denn zwar würde man ganz allgemein die Piratenstories dem "Mantel & Degen-Film" zurechnen - allerdings handelt es sich um eine sehr besondere Form. Im Unterschied zu den gefallenen Edelleuten, den Zorros und Robin Hoods und ebenso zu den im Grunde genommen bürgerlichen oder kleinadeligen Aufsteigern, die das, was sie tun, fast immer im Dienste irgendeines Königs tun, wie die "Drei Musketiere", sind Piraten, wenn das Kino sie wirklich als solche ernst nimmt, Figuren, die tatsächlich unangepasst, gesetzlos und anarchistisch sind - es ist nicht irgendeine Form von versteckter Bürgerlichkeit, die noch hinter dem Abenteurertum steckt.

In diesem Sinn handelt es sich bei "Captain Blood" und "The Sea Hawk", den beiden Filmen, die Michael Curtiz mit Errol Flynn drehte, trotz ihrer Klasse kaum um "richtige" Piratenfilme - zu stark dominiert das Bestreben, die Moralität des Helden über alle Zweifel nachzuweisen und ihn als Vorkämpfer oder Verteidiger von Staatlichkeit zu zeigen.

Doch in diesem speziellen Typ des Piratenfilms, in dem die Piraten gar keine Piraten sind, sondern eher Partisanen, außerordentliche Kämpfer eines größeren Kampfverbandes, ist die "anständige" Motivation, die der Kriminalität der Hauptfigur unterlegt wird, andererseits auch immer nicht mehr als eine Ausrede, um im puritanischen Hollywoodfilm einen Gangster als Gangster zeigen zu dürfen. Auch bei Curtiz/Flynn gibt es diese ursprüngliche Lust an Abenteurertum und Grenzüberschreitung, die das Piratengenre auszeichnet, nur gedämpfter, unreiner. Denn Abenteuerdrang bleibt für Hollywood eine gefährliche Lust und Bedrohung, die durch die Umstände - Liebe, patriotische Pflicht - gebändigt und dem Abenteurer ausgetrieben werden muss.

Piraterie ist jeder ungesetzliche Akt der Gewalttätigkeit, Freiheitsberaubung oder Plünderung, der zu privaten Zwecken von der Besatzung oder den Fahrgästen eines privaten Schiffes oder privaten Flugzeuges gegen ein anderes Schiff oder Flugzeug oder dort an Bord befindliche Personen oder Güter begangen wird: a) auf offenem Meere, b) an einem außerhalb der Hoheitsgewalt eines Staates gelegenen Orte.

UNO-Abkommen über die Hohe See; 1958

Rebels with a cause

Fast alle Piraten bleiben Rebellen "with a cause" - und wenn es Rache ist wie in "Captain Blood", in dem ein moralischer Bürger durchs Piratendasein die narzisstische Kränkung rächt, die ihm die Gesellschaft einst antat, und dabei nichts mehr begehrt als Anerkennung durch diese. Und so sind viele Piratengeschichten prekär, eigentlich Masken für etwas anderes: Das kann der Krieg sein wie in "The Sea Hawk", der im Kampf zwischen Spaniern und Engländern den realen Krieg zwischen Faschismus und freier Welt verarbeitet. Die Spanische Armada stand hier unverkennbar auch für die aktuelle Bedrohung, die aus Deutschland und Japan kam.

Das kann auch der Klassenkampf sein, wie in "The Black Swan", in dem ein Proletarier auf die bessere Gesellschaft trifft, in der der Versuch der politisch-sozialen Versöhnung der Schichten - symbolisiert in der Figur eines Piraten, der zum Gouverneur ernannt wird - an den Umständen, aber auch an inneren Zwängen scheitert. Überhaupt haben Piratenfilme oft einen überraschend klaren Blick für soziale und wirtschaftliche Zwänge, und immer sind die Film-Piraten auch Menschen, die sich aus einem ökonomischen System herausbewegen, sich einen eigene parasitäre Wirtschaft aufbauen. Mit bürgerlich-kapitalistischer Ökonomie haben Piraten nichts am Hut, ebenso wenig allerdings mit dem Mitleidsethos eines Robin Hood oder Zorro.

In ihrer "Ökonomie der Verschwendung" (Georges Bataille), der schnellen Verausgabung - zu fast jedem Piratenfilm gehört bekanntlich das Gelage unter ihresgleichen, gehört saufen, spielen und huren - zelebrieren die Piraten ein starkes Gegenbild zum Kapitalismus, eine Utopie des wilden Lebens, des Verbrauchs im Jetzt und Hier. Zwar sind andererseits die Motive des Anhäufens von Reichtümern, der geborgenen oder an fernem Ort versteckten Schatzkiste, die Utopie vom besonders großen Raub, alles auch eine mehr oder weniger offene Utopie eben dieses Kapitalismus - die von der größten anzunehmenden Akkumulation.

Aber der Pirat ist auch in seinem schwarzen und bösen Formen nie ein klassischer Kapitalist. Er lässt sein Kapital nicht arbeiten, sondern arbeitet selber, er ist Beutemacher, aber kein Ausbeuter. Manchmal sind sie natürlich reine Verbrecher. Zu den Piratenmythen des Kinos gehört auch der grausam-brutale, rein negative Pirat. Als solcher hat er selbst Hitchcock interessiert, der mit "Jamaica Inn" einen der besten solcher Filme gedreht hat, der aber eben eher ein hard-boiled Gangsterstück ist, kein wirklicher Piratenfilm. Zu dem gehörte "even on this dark side - romance", wie es treffenderweise bereits im Vorspann zu "The Black Pirate" heißt.

Der Ausdruck Piraterie bezeichnet im allgemeinen eine absichtliche Verletzung des Urheberrechts in kommerziellem Ausmaß. Mit Bezug auf die Musikindustrie bezieht er sich auf unerlaubtes Kopieren.

IFPI, International Federation of the Phonographic Industry

Ökonomie der Verschwendung

Piraterie ist eine glamouröse Form des Verbrechens und eine notwendige Einrichtung der Evolution. "Die Piraten von heute werden morgen die sein, die im Recht sind." betont der französische Philosoph Michel Serres, Mitglied der academie francaise im TP-Interview: Der Pirat des Wissens ist ein guter Pirat. Das gilt auch für aktuelle und weniger romantische Aspekte des Piraterie-Komplexes, für die aktuellen Verwandlungen der Ökonomie der Verschwendung. Denn so inaktuell Piraten auf der Kino-Leinwand lange waren, so aktuell sind sie als neue Schurken der Medien-Industrie. Aber sind Piraten wirklich so schlimm?

Bestimmt sind sie nicht so schlimm, wie die Industrie der Öffentlichkeit weismachen will. Keiner, noch nicht einmal die Film-Verleiher selbst im privaten Gespräch, glauben den apokalyptischen Szenarien ihrer Verbände, nach denen jährlich allein in Deutschland vier Milliarden Euro Verlust durch Rechte-, Film- und Videopiraterie entstehen. Auch aus Sicht der Verleiher ist das tatsächliche Bild viel differenzierter. In Asien etwa beteiligt sich die Industrie selber an Schwarzkopien und gibt ihre eigenen Piraten-Label heraus - aus schlichten ökonomischen Gründen. Denn wer kann in China schon DVDs zu 20 US-Dollar erwerben? Aber billiger kann man offiziell nicht verkaufen, ohne sich in Zeiten des Internets die eigenen Preise kaputt zu machen. Da wird ein eigenes Piraten-Label mit Qualitätskontrolle und Rückgabegarantie zum besten Ausweg - für Produzent wie Kunden.

Medienrechtler wie Christlieb Klages, einer der wichtigsten deutschen Filmjuristen, unter anderem Dozent an der Berliner dffb und Autor zahlreicher Bücher zu filmrechtlichen Fragen, übt scharfe Kritik an der Doppelmoral der Industrie: "Das wäre, wie wenn Sie Ihren Porsche draußen vor der Tür parken, den Schlüssel stecken lassen, und sich dann empören: 'Sauerei, schon wieder ist jemand weggefahren, in Deutschland wird Eigentum überhaupt nicht geschützt.'" Klages kritisiert die "Kriminalisierung von privaten Usern" durch eine Industrie, die seit Jahren die Digitalisierung des Produktionsprozesses, der Distribution und der Auswertung vorantreibt, zum Teil mit erheblichen Kosten für die Kinobetreiber, die an den Vorteilen dieser technischen Revolution kräftig verdient, aber deren Kosten auf die Allgemeinheit abwälzen will. "Schwarzkopierer hat es schon immer gegeben. Das ist nichts Neues", betonte Klages, "Nur ist die Technik einfacher und billiger geworden - weil die Industrie diese Technik wollte."

peirates: Seeräuber; von peiráomai: versuchen, sich daranmachen, sich bemühen, streben, unternehmen, wagen; etwas versuchen oder erproben, prüfen, untersuchen oder ausforschen; sich oder sein Glück in etwas versuchen; einen Angriff wagen, den Kampf mit jemandem aufnehmen; in Versuchung führen; sich um die Gunst von jemandem bemühen; um eine Geliebte werben; aus Erfahrung lernen.

Lexikoneintrag

Grenzgänger zwischen Norm und Übertretung

Immer jedenfalls erzählen Piratenfilme in der einen oder anderen Weise von der - und sei es erzwungenen - Flucht aus bürgerlichen Zwängen, aus den inneren Widersprüchen einer Gesellschaft hinein in ein bedingungsloses Leben jenseits staatlicher Gebietshoheit, ein Dasein als Grenzgänger zwischen Norm und Übertretung. Piraten sind nicht automatisch Outlaws, denn historisch wie im Kino agieren viele von ihnen mithilfe eines königlichen Freibriefs. Die bestimmte Form von Freiheit, die der Pirat symbolisiert, ist eine, die in der Willkür liegt, die sich nicht an Regeln halten muss, also nicht eindeutig keine Gefangenen macht.

Eine Freiheit, die raubt und plündert, oder großzügig bleibt, wie sie gerade möchte - im Zwischenreich, in dem sich Legitimes und Illegitimes verbindet, und die gerade in ihrer Unberechenbarkeit auch eine bestimmte Form von revolutionärer Bedrohung der festen gesellschaftlichen Verhältnisse verkörpert. Die Freiheit der maritimen Existenz ist die Freiheit der Anti-Uniformität und der Nichtverortung. Es handelt sich auch um eine positiv aufgefasste Heimatlosigkeit, den Aufbruch ins unbekannte Terrain, dem Heimat immer der Ort ist, an dem man sich selber gerade befindet. Der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Zuschauer in diesem Typus, mehr als in anderen Abenteurerfiguren auch ein Peter-Pan-Syndrom ausleben dürfen, also den Traum, ein Kind bleiben zu können. Aber vielleicht ist jede Romantik eigentlich dieser Traum.

Dandy des Meeres

Auf seine Weise ist der Pirat des Kinos ein Dandy, der übers Meer flaniert, ziellos, neugierig, getrieben unter Umständen. An seiner Ruhelosigkeit, seiner ständigen, etwas zwanghaft wirkenden Mobilität erkennt man ihn. Ohne Ziel bewegt er sich um so ungebundener übers Meer. Mal ist es reine Lust, mal ist er auf der Flucht, mal ist es das innere "weiter, weiter", das ihn von Ort zu Ort treibt, in einem Alltag aus Rauben und Verprassen. Trotzdem ist der Filmpirat oft ein versteckter Aristokrat, der mit der aristokratischen Waffe des Degens kämpft, einen starken Ehrbegriff besitzt - diese "Piratenehre" wird immer sehr stark strapaziert.

Auch seine stilisierte Kleidung, ob das jetzt die Augenklappe ist, das Tuch um dem Kopf, die bunten Farben, der teilweise nackte Oberkörper - dieses Exotische, das Piraten oft haben -, oder der im Fall der Heldenfiguren immer sehr gepflegte Schnurrbart verkörpern ein dandyhaftes Moment, eine bestimmte Schönheit, die karnevalesk wirkt und bei aller Ausstrahlung auf Frauen oft auch bi- oder oder homosexuelle Elemente birgt. Noch Johnny Depp in "Pirates of the Caribbean" entspricht genau dieser Form von dandyhafter, bisexuell angehauchter Erotik. Schon immer funktionierten Piratenfilme auch als eine Möglichkeit, um im puritanischen Hollywood-Film nackte Körper zu zeigen, zumindest nackte Oberkörper.

Oft ging die Männerkameradschaft dabei so weit, dass der homosexuelle Subtext offensichtlich war, in anderen Fällen boten Auspeitschungen und Folterszenen Anknüpfungspunkte für sadomasochistische Interessen. Vor allem aber ließ sich in Form des Piratenfilms eine erotische Begegnung zwischen Mann und Frau zu zeigen, in der eine "saubere" wohlerzogene Frau mit einem nackten Männerkörper konfrontiert und möglicherweise gar von ihm angezogen werden konnte, ohne "beschmutzt" zu werden.

Frauen aus gutem Haus

Die Frauen in Piratenfilmen sind meistens Frauen aus gutem Haus. In der Regel Tochter eines Edelmanns, eines Gouverneurs, manchmal des Feindes, die dann stellvertretend erobert werden müssen und zuvor sehr oft einen manchmal braven, manchmal unangenehmen Mann an ihrer Seite haben, der ebenfalls um sie wirbt. Der Piratenkapitän steht dann für die sexuelle Alternative, die Ausrede, bedeutet Ausweg und Rettung. Er ist ein manchmal wilder, manchmal donjuanesker Verführer, aber eben auch einer, der sich am stärksten für sie interessiert, und ein anderes Leben repräsentiert, ein anti-zivilisatorisches Element, den Ausbruch aus der Bürgerlichkeit.

An dieser Stelle ist erwähnenswert, dass es nur ganze vier Hollywood-Filme gibt, in denen ein Pirat eine Frau ist. Jacques Tourneurs "Anne of the Indies" (1951) ist der wichtigste - zugleich zeigt sich im düsteren Ende hier auch die Grenze der Möglichkeiten, die dieser Abenteuerfigur gesetzt ist, sobald sie weiblichen Geschlechts ist: Denn die Piratenkönigin Anne Providence ist zwar stark, brutal und bisweilen zynisch - doch in der Liebe verwundbarer, als es je ein Mann im Kino sein könnte. Sie entpuppt sich als schärfste Waffe gegen die Piratenkönigin. Aus Liebe zu einem überführten Verräter wirft diese erst ihre Prinzipien über Bord, dann reißt sie Schiff und Mannschaft in den Abgrund, schließlich sich selbst in den Tod - eine wahre Romantikerin.

Warum war der Piratenfilm mit seinen Geschichten von einem der auszieht, um sich zu beweisen und sich die Welt zu erobern, zuletzt verschwunden, wenn einmal von seiner Präsenz in reinen Kinderträumen - Pippi Langstrumpf, "Die Schatzinsel", etc. - absieht? Es gibt übrigens auch so gut wie keine Literatur über Piratenfilme; in der Bundesrepublik ist Wolf-Eckart Bühlers 30 Jahre altes Themenheft der "Filmkritik" (10/73) nach wie vor die beste Quelle.

Dass Piratenfilme zu teuer seien, ist eine beliebte Erklärung. Heute zählt dieser ohnehin etwas bequeme Einwand aber längst nicht mehr. Eher schon muss man die schlichte Tatsache festhalten, dass Antibürgerlichkeit in den letzten Jahren im Kino nicht gerade en vogue war. Vielleicht sind diese Figuren tatsächlich zu gefährlich, weil sie zu sinnlich und anarchisch sind.

Seine Hochzeiten erlebte der Piratenfilm zwischen den 20er Jahren und den 50ern. In diesem Jahrzehnt wurden die mit Abstand meisten Piratenfilme gedreht. Ebenso schnell wie dieser Boom brach das Genre dann, weitaus abrupter als andere Formen der "Abenteuerfilme", ab, führte in europäischen B-Produktionen und im Fernsehen der 60er und 70er noch ein Schattendasein, bevor es ganz verschwand.

Nomaden anderer Art

Piratenfilme kommen ungefähr zum gleichen Zeitpunkt aus der Mode, in der ein anderes Genre allmähliche in Mode kommt: nämlich der Science-Fiction-Film. Man kann fragen, ob der Science-Fiction-Film, der ein paar Ähnlichkeiten mit dem Piratenfilm hat, aber auch neue Möglichkeiten bietet, das Genre ersetzt. Wie auch im Western, der zeitgleich, aber aufgrund seiner deutlicheren Gegenwartsbezüge weniger absolut in die Krise gerät, spielt eine irgendwie zu erobernde, unbekannte, freie Landschaft eine wichtige Rolle. Das Meer ist eine Frontier eigener Art. Aber inzwischen ist es eben entmystifiziert.

Darum dürften auch zeitgenössische Piratenthemen - die übrigens kaum zum Kinothema gemacht wurden, obwohl es sie in Lateinamerika und Asien gibt - keine echte Chance haben. Auch die See als das Reich der Freiheit ist längst in ein besetztes Gebiet verwandelt worden. Aus dem offenen, unbekannten Freiraum wurde ein parzelliertes Territorium, von Grenzen durchzogen. Die Geschichten vom abenteuerlichen Leben, die man immer um Piraten herum erzählte, erleben heute Nomaden anderer Art. Wenn sie Lara Croft oder Indiana Jones heißen, ist ihre Freiheit kaum noch subversiv, und wenn sie wie zum Beispiel in "The Beach" tatsächlich eine bestimmte Form von anderem Leben versuchen, bleibt am Ende das Drama des Massentouristen übrig. Die Suche nach dem Abenteuer schlägt fehl, wer aus der Zivilisation auszubrechen versucht, wird bitter bestraft.

Insofern scheint es, als sei das Abenteuer nicht einfach woanders hingewandert, sondern ganz verschwunden. Vielleicht auch, weil "Abenteuer" selbst eine bestimmte bürgerliche oder sogar aristokratische Idee ist, die heute nicht mehr funktioniert, möglicherweise obsolet geworden ist. Die Erinnerung daran leisten immerhin Filme wie "Pirates of the Caribbean", indem sie, auch wo sie feige sind, zeigen, wie sich der prekäre Mythos noch erzählen lässt - und wie nicht. Wir leben in nicht-abenteuerlichen Zeiten.

Aus dem Reich der Toten

Auch in "Pirates of the Caribbean" darf das Abenteuer nicht in wirklicher Wildheit auferstehen. Schon der erste Teil reflektierte das Genre, indem er kaum ein bekanntes Motiv ausließ, aber fast immer einen neuen Kniff fand, der zugleich belegte, dass sich der Film auf angenehme Weise nicht ernst nimmt: Das obligatorische Fecht-Duell wurde beispielsweise mit einem glühenden Säbel ausgetragen, beim Kanonengefecht schoß ein Schiff mangels anderem mit Metallbesteck.

"Pirates of the Caribbean" beginnt wie der erste mit einer - diesmal noch unverhohleneren - Wiederauferstehung. Bei seinem ersten ähnlich furiosen Auftritt befreit Captain Sparrow sich und mit ihm den Piraten-Geist aus einem Sarg, in dem er ins Meer geworfen wurde. Kurz danach suchen ihn verschiedene glibbrig-ekelige Geister heim, und es stellt sich heraus, dass Sparrow gewissermaßen aus dem Reich der Toten gar nicht mehr zurückkommen kann - er befindet sich nämlich in ewiger Schuld bei dem Kraken-Wesen Davy Jones, der direkt der Unterwelt entstiegen ist, und den legendär verfluchten "Fliegenden Holländer" kommandiert. Ist ein anderes Schiff dem Tod geweiht, greift Jones überdies auf die Hilfe einer Riesenkrake zurück, die alles, was sie zu fassen bekommt, in die Tiefe zieht.

Ein wenig Voodoo und viel Rum sind auch noch im Spiel, und so kämpfen Sparrow, Turner und Elisabeth Swann über zweieinhalb Stunden nicht nur wie gewohnt ein wenig gegeneinander, sondern gleichzeitig gegen weltliche wie jenseitige Bedrohungen - mag nicht alles jederzeit rationalen Sinn ergeben, bietet es doch mehr als genug Möglichkeit zu turbulenter, abwechslungsreicher und geistvoller Kinounterhaltung.

Der Geschichte ist ihre Konstruiertheit stärker anzumerken, als dem ersten Teil, der offenkundig aus einer guten Idee geboren, jederzeit "aus einem Guss" wirkte. Diesmal dominierte spürbar die Frage, wie man dies mit Erfolg fortführen konnte, ohne sich einerseits zu stark zu wiederholen, andererseits an Originalität zu verlieren, und die eigene, ironisch-genrereflexive Erzählhaltung aufzugeben.

Die Beibehaltung dieser Haltung gelingt aber vorzüglich: Wiederum geht es nicht um Gut oder Böse und schon gar nicht um die Rettung der Welt und solche Dinge. Auch dieser zweite Teil nimmt sich selbst nicht sonderlich ernst, sein zutiefst romantisches Genre des "Mantel & Degen"- (oder "Swashbuckler"-)Films dagegen sehr wohl. Daher feiert er die Bewegung der Körper seiner Stars als Selbstzweck, zeigt Degengefechte, Kämpfe mit Ungeheuern, Klettern in den Wanten, ihre Sprünge und nicht zuletzt immer wieder turbulente Fluchten vor überlegenen Gegnern - temporeich aber voller Genuß und immer eine Spur "over the top". Hier findet auch Orlando Bloom ganz sein Element, während er - keine ganz neue Einsicht - schauspielerisch mit Depps Ironie und Knightleys instinktiver Lässigkeit nie mithalten kann. Wer das Piraten-Genre liebt, wird diese Herangehensweise unbedingt zu würdigen wissen, zudem viel Szenen mit Anspielungen auf Klassiker des Genres, insbesondere frühe Fairbanks-Filme, gespickt sind.

Ganz über eine gewisse Ziellosigkeit und ein grundsätzliches Mäandern der Handlung kann dies aber nicht hinwegtrösten. Wäre es ein ernsthafter Vorwurf, müsste man Verbinski vorhalten, dass er seine Hauptfiguren zu sehr liebt. Die eigentliche Ursache ist aber die barocke Überladenheit des Films - als traute Verbinski einem Storyelement nicht ganz über den Weg, kreiert er in jeder Situation deren drei: Aber zu viele Abenteuer stören die Konzentration. Kaum ist man zum Beispiel auf einer durchaus sehenswerten Kannibaleninsel angekommen und erkennt, dass Sparrow zwar ihr König ist, aber damit nur ein besseres Festmahl abgibt, verlässt man sie schon wieder. Der Cliffhanger am Ende macht den Eindruck auch nicht besser.

Ein Genre-Hybrid

Am gelungendsten ist dieser gute, fantasiereiche, angenehm unprätentiöse, aber wenig überraschende Abenteuerfilm daher in seinen oft atemberaubenden Action- und Slapstick-Szenen, die obschon mit Computerhilfe entstanden, weitaus realistischer und daher unmittelbar beeindruckender wirken als die vieler anderer Filme.

Und in den Momenten, in denen der Film sich selbst ironisch reflektiert, und als das erkennt, was er ist: Ein Genre-Hybrid. Nirgends geschieht das unverstellter, als in dem Augenblick, in dem Sparrow/Depp seiner analphabeten Piratenbande erklärt, was er da gerade in der Hand hält. Auf die Frage: "It's a key?" antwortet er: "No. Much better: It is a drawing of a key." Wirklich ist eben das, was man sieht, nicht was "dahinter" steckt; Magritte und der Gegenwartsfilm liegen näher beieinander, als man glaubt.