Drei Napoleone

Nach mehreren schweren Zwischenfällen im Libanon-Krieg ist die öffentliche Meinung in Israel am Kippen

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Am Montagmorgen setzte die israelische Luftwaffe ihre Angriffe auf Ziele im Libanon für 48 Stunden aus. Damit, so ein Militärsprecher, solle Zivilisten die Möglichkeit gegeben werden, den Süd-Libanon zu verlassen. Stattdessen soll nun die Bodenoffensive der Armee ausgeweitet werden. Bei dem Angriff waren am Sonntag mindestens 56 Menschen, darunter an die 40 Minderjährige, ums Leben gekommen. Die hohe Opferzahl sorgte für Bestürzung im Ausland, aber auch in Israel.

Im Libanon gingen Zehntausende auf die Straße, um gegen die israelischen Militäroperationen zu demonstrieren und um ihre Solidarität mit der Hisbollah zu bekunden. Die israelische Militärführung kündigte zwar eine Untersuchung des schief gegangenen Luftangriffes an, doch die meisten israelischen Kommentatoren werteten dies als Versuch, einen Umschwung in der öffentlichen Meinung in Israel und im Libanon zu verhindern – der allerdings zu spät kommen könnte: Im Libanon haben auch Menschen, die der Hisbollah bisher kritisch gegenüber standen, begonnen, sich hinter die Organisation zu stellen, während in Israel die Regierung noch unbeliebter geworden ist, als sie es ohnehin schon war. Vor allem Regierungschef Ehud Olmert und Verteidigungsminister Amir Peretz werden für die rapide Verschlechterung der Lage verantwortlich gemacht; viele befürchten, dass die Offensiven im Libanon das Vorgeplänkel für eine jahrelange israelische Präsenz im Libanon sein könnte (Nicht Normal).

Das Dilemma der israelischen Regierung

Tel Aviv ist eine Seifenblase, eine Stadt, in der sich die Menschen mehr mit der neuesten Mode, der jüngsten In-Disko oder dem frischen Flirt der letzten Nacht zu beschäftigen scheinen. Doch hinter der schillernden Fassade haben die Menschen auch hier Angst: „Allerdings weniger davor, dass irgendwann einmal auch hier eine Katjuscha-Rakete einschlagen könnte“, sagt Jair Lapid, ein Kolumnist der Zeitung Jedioth Ahronoth, derwie viele andere auch tief im Leben der „Stadt, die niemals schläft“, verwurzelt ist:

Ich wurde Anfang der 80er Jahre zum Militär eingezogen, wenige Monate bevor Israel in den Libanon einmarschierte. Vor einigen Wochen wurde mein Sohn eingezogen – und wieder ist Krieg ausgebrochen. Ich mache mir Sorgen, dass er das Gleiche wie ich durchmachen könnte: Ein Leben als Besatzer in einem fremden Land, die Verunsicherung, den schleichenden Fall der eigenen Moral. Wir sind schon jetzt wieder auf dem besten Weg dahin.

Am Sonntag hatten Kampfflugzeuge ein Gebäude in der süd-libanesischen Kleinstadt Kana bombardiert; mindestens 56 Menschen, darunter viele Kinder, kamen dabei ums Leben. Ob die Menschen, wie die Hisbollah sagt, dort Schutz gesucht hatten, ob sie, wie die israelische Militärführung sagt, von der Organisation als menschliche Schutzschilde benutzt wurden, wird wohl nie jemand mit absoluter Sicherheit sagen können. Israel bombardiere den libanesischen Süden völlig wahllos, kritisierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch daraufhin.

In gewisser Weise hat sie recht. Luftangriffe sind immer wahllos: Der Pilot erfährt das Bombardement aus der Ferne, als ein verschwommenes Gebäude im Fadenkreuz seines Computerbildschirms; wer sich darin befindet, erfährt er meistens erst, wenn solche Dinge wie am Sonntag passieren.

Jair Lapid

So steht die israelische Regierung zur Zeit vor einem Dilemma: Auf der einen Seite fordert die Öffentlichkeit von ihr, irgendetwas gegen die Raketenangriffe der Hisbollah auf die Städte und Dörfer an der Grenze zum Libanon zu unternehmen, die schon seit Monaten andauern. Auf der anderen Seite wird sie aber auch dafür kritisiert, wie sie es tut: Luftangriffe seien kein guter Weg, der Hisbollah Herr zu werden; eine Ausweitung der Bodenoffensive müsse her, wenn verhindert werden solle, dass die hohen Opferzahlen die libanesische Öffentlichkeit in die Arme der Hisbollah treibt, sagen Politiker und Kommentatoren gleichermaßen: „Es ist eine ausgesprochene Zwickmühle“, meint Zeew Schiff, Militär-Experte der Zeitung HaAretz: „Luftangriffe verhindern zwar hohe Opferzahlen auf Seiten des israelischen Militärs, gefährden aber das Operationsziel, die Zerstörung der Hisbollah, weil hierbei die Opferzahlen auf der libanesischen Seite sehr viel höher sind, als sie es eigentlich sein müssten.“

Noch kommen nur wenige tausend Menschen zu den Demonstrationen gegen den Krieg, die bislang ausschließlich in Tel Aviv abgehalten werden; Kritik wird vor allem im privaten Gespräch laut. „Der Krieg ist einfach noch zu frisch, um die Menschen auf die Straße zu bringen“, sagt Jariv Oppenheimer von der Friedensorganisation Schalom Achschaw (Frieden Jetzt): „Ihre Angst vor einer Rückkehr zur Situation von vor zehn Jahren ist noch nicht in Wut auf die Regierung umgeschlagen, aber ich bin mir sicher, dass es passieren wird.“

„Größenwahn von napoleonischen Ausmaßen“

Im Mittelpunkt der Kritik stehen vor allem drei Männer: Premier Olmert, Verteidigungsminister Amir Peretz und Generalstabschef Dan Chalutz, von denen zwei, Olmert und Peretz, keinerlei, und einer, Chalutz, nur sehr beschränkte Erfahrungen mit Militäroperationen haben: Chalutz war vor seiner Berufung an die Spitze des Militärs im Mai vergangenen Jahres Chef der Luftwaffe und glaubt fest an die Vorzüge von Luftangriffen, die er für präziser und, für die eigene Seite, weniger verlustreich hält.

Ich befürchte, dass bei den Entscheidungen von Chalutz nicht immer strategische und politische Erwägungen, sondern oft vor allem eigene Überzeugungen im Mittelpunkt stehen. Und das ist keine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Kriegsführung.

Zeew Schiff

So spekulieren die israelischen Medien mittlerweile durch die Bank über ein baldiges Ende des Krieges: „Die offene Frage ist, ob die Regierung die Entwicklungen in Bezug auf die öffentliche Meinung auf beiden Seiten ignorieren und den Krieg bis zum Ende führen werden wird, oder ob unter dem Druck, möglicherweise bald zurück treten zu müssen, einlenken und sich mit einem weniger als idealen Ergebnis zufrieden geben wird", kommentierte die Zeitung Ma'ariv am Sonntag:

Die Ideal-Lösung nach Lesart der israelischen Regierung ist eine Entsendung von internationalen Truppen an der Seite der libanesischen Armee in den Süd-Libanon, die Angriffe auf Einrichtungen der Hisbollah hatten dafür den Boden bereiten sollen. Doch die Dinge laufen nicht gut; bislang bekundete zwar eine Reihe von Staaten Bereitschaft, Truppenkontingente zur Verfügung stellen zu wollen, aber es besteht Uneinigkeit über die Aufgaben und Kommandostruktur der künftigen Truppen. Währenddessen ist nach dem Kana-Vorfall der Druck auf die israelische Regierung, einem Waffenstillstand zuzustimmen, noch stärker geworden, als er es ohnehin schon gewesen war: Man rechne damit, zum kommenden Wochenende nachgeben zu müssen, heißt es aus dem Umfeld der Regierung.

So ist nun eingetreten, wogegen sich sowohl Verteidigungsminister Peretz als auch Regierungschef bisher gesträubt hatten: Auf der einen Seite wurden zwar die Luftangriffe für zunächst 48 Stunden ausgesetzt, aber auch gleichzeitig eine massive Ausweitung der Bodenoffensive angeordnet: Bis zum Donnerstag, so der Sprecher des Verteidigungsministeriums, sollten alle Hisbollah-Posten in einem zwei Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zerstört sein: „Es soll nicht einmal mehr eine Fahne der Hisbollah dort zu sehen sein“, zitiert Jedioth Ahronoth in ihrer Montagsausgabe einen ungenannten hochrangigen Offizier.

Die jüngsten Entwicklungen sind zudem deutliche Anzeichen für einen Machtverlust von Generalstabschef Dan Chalutz: Die Entscheidung, die Luftangriffe vorerst einzustellen, wurde offenbar so kurzfristig gefällt, dass Chalutz nicht einmal mehr den Chef der Luftwaffe, Birgade-General Amir Eschel, hatte vorwarnen können: Er hatte noch am Sonntag Abend den Medien gesagt, dass es „keinerlei Absichten“ gebe, die Operationen einzustellen, und hatte dabei Verteidigungsminister Peretz auf seiner Seite gewähnt, der bislang Luftangriffe wegen der geringeren Aussicht auf israelische Opfer bevorzugt hatte.

Ihm dürfte es am Schwersten fallen, mit dem Tod von 56 Menschen in Verbindung gebracht zu werden: „Amir war immer für Frieden, für Moral – und jetzt das“, sagt ein Mitglied des Zentralkommittees der Arbeiterpartei, deren Vorsitzender er ist: „Sein Fehler war, dass er dieses Amt angenommen hat, weil er geglaubt hat, dass mit der militärischen Erfahrung auch seine Chancen steigen, als nächster zum Regierungschef aufzusteigen. Er hat geglaubt, dass politische Erfahrungen dafür genug sind, und dabei übersehen, dass vor allem strategische Fähigkeiten gefordert sind.“

„Größenwahn von napoleonischen Ausmaßen“, bescheinigte ein Kommentator des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dem Trio Olmert, Peretz und Chalutz am Freitag: „Alle drei schielen auf das Amt des Premierministers und planen den Krieg deshalb dementsprechend. Was richtig ist, hat Platz gemacht, für das, was jedem Einzelnen von ihnen wichtig ist und uns alle der Gefahr ausgesetzt, uns in einer Situation wieder zu finden, die unkontrollierbar sein könnte.“ So hätten Peretz und Olmert, aber auch Chalutz die Warnung der Analysten von Militär und Geheimdiensten in den Wind geschlagen, dass die öffentliche Meinung auf beiden Seiten schnell gegen die Regierung kippen könnte, wenn die Opferzahlen immer weiter steigen:

Stattdessen hat man lieber daran geglaubt, dass die internationale Gemeinschaft die Hisbollah als Agressor sieht, die libanesische Regierung ebenfalls an einer Übernahme der Macht im Süden interessiert ist und den Statistiken vertraut, dass die Öffentlichkeit für den Krieg ist.

Dass vor allem Letzteres ein Trugschluss war, sei von Anfang an klar gewesen, sagt der Demoskop Professor Ascher Arian:

Bei Umfragen kommt es immer darauf an, wie man fragt. Nach dem schon seit Monaten andauernden Raketenbeschuss des israelischen Nordens hätte wohl jeder die Frage "Sind Sie dafür, dass etwas dagegen getan wird?“ mit Ja beantwortet. Allerdings hätte auch die Mehrheit der Befragten die Frage "Sind sie für eine Wiederbesetzung des Libanon?“ verneint.

Denn das Trauma der Erinnerung an den nur sechs Jahre zurück liegenden Libanon-Feldzug sitzt in der israelischen Öffentlichkeit tief. Überall im Land ist die Stimmung gedrückt, auch in Tel Aviv, der Stadt, die niemals schläft. Am Wochenende wurden hier wieder die Nächte durch gefeiert, aber es war leiser, weniger schrill als zu Friedenszeiten: „Niemand hier weiß, ob er nicht schon in der kommenden Woche in den Krieg ziehen muss“, sagt ein junger Wehrdienstleistender, der in der Nacht zum Sonntag um kurz nach Mitternacht nachdenklich am Rande der Tanzfläche einer Diskothek steht: „Eigentlich wollten meine Kumpels und ich heute noch mal kräftig feiern, aber es kommt einfach nicht die richtige Stimmung auf.“