Der Staat geht, die Wirtschaft kommt

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hält das neue Hochschulfreiheitsgesetz für "bundesweit bahnbrechend". Kritiker sehen darin nur eine Flucht aus der politischen Verantwortung

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Mit dem Gesetzesentwurf für das Hochschulfreiheitsgesetz, der am 30. Mai im Kabinett beschlossen und am 21. Juni erstmals im Landtag beraten wurde, hat die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ein Zeichen gesetzt, das weitreichende Folgen haben könnte. Sollte das Gesetz die Expertenanhörung nach der Sommerpause überstehen, im Herbst verabschiedet werden und schließlich zum 1. Januar 2007 in Kraft treten, würde das Bundesland tatsächlich eine grundlegende Reform seines Bildungssystems auf den Weg bringen. Wohin dieser führt, ist bis dato allerdings nicht absehbar.

Das Hochschulfreiheitsgesetz soll nach dem Willen des federführenden Ministeriums für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie drei wesentliche Ziele erreichen:

  1. Die Hochschulen werden aus der Fachaufsicht des Landes entlassen und firmieren künftig nicht mehr als staatliche Einrichtungen, sondern als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Damit bekommen sie weitreichende Entscheidungskompetenzen und übernehmen selbständig die Verantwortung für ihre Organisationsformen und alle zentralen Finanz- und Personalfragen.
  2. Neben neuen Leitungsstrukturen und einer effizienteren Aufgabenverteilung zwischen Hochschulleitung und hochschulinterner Selbstverwaltung strebt das Gesetz enge Kontakte zu Vertretern aus Wirtschaft und Gesellschaft an. Ein Hochschulrat, in den zu mindestens 50% Personen gewählt werden müssen, die sonst nicht an der Universität oder Fachhochschule arbeiten, soll die zentrale Rolle bei wichtigen strategischen Entscheidungen spielen. Der Rat kann nicht nur alle Unterlagen einsehen und prüfen, ihm obliegt auch die Zustimmung zum Wirtschaft- und Hochschulentwicklungsplan oder die Entlastung des Präsidiums.
  3. Das neue Verhältnis zwischen Bundesland und Hochschule basiert zwar auf gemeinsamen Zielvereinbarungen, ermöglicht den akademischen Institutionen aber eine eigenständige Strategie- und Entwicklungsplanung. Sogar ihre Studenten dürfen sie sich demnächst selber aussuchen. Die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze soll den Hochschulen nur noch bei der Entwicklung von Auswahlkriterien und -verfahren helfen. Die Klärung von Detailfragen bleibt in Zukunft allein den Hochschulen vorbehalten.

Beginn einer neuen Ära?

Die Regierungsparteien in Nordrhein-Westfalen nutzen in diesem Jahr auch die Sommerpause, um ihren Gesetzesentwurf mit Verve zu verteidigen. Das Vorhaben sei „bundesweit bahnbrechend“ und geeignet, die Hochschulen des Landes endlich „in die Freiheit zu entlassen“, verlautete Ende vergangener Woche aus der CDU-Landtagsfraktion. „Innovationsminister“ Andreas Pinkwart (FDP) sieht das genauso und war schon bei der Lesung im Juni von der Einzigartigkeit und Leistungsfähigkeit seiner Initiative überzeugt.

Dieses Gesetz läutet eine neue Ära in der Hochschulpolitik ein. Nordrhein-Westfalen bekommt das mit weitem Abstand freiheitlichste Hochschulrecht aller Bundesländer.

Andreas Pinkwart

Mit dieser Einschätzung steht der Möllemann-Nachfolger nicht allein, doch mehrheitsfähig ist sie derzeit wohl kaum. Das Landes-ASten-Treffen Nordrhein-Westfalen veröffentlichte bereits im April eine Stellungnahme, in der das „Hochschulfremdbestimmungsgesetz“ rundheraus abgelehnt wurde. Die ASten kritisieren vor allem die weitere Rücknahme studentischer Einflussmöglichkeiten, die Marginalisierung des Hochschulsenats zugunsten des neu zu schaffenden Rates und eine durchgehende Ökonomisierung des gesamten Hochschulwesens.

Auch in den einzelnen Universitäten und Fachhochschulen stößt das Vorhaben zumeist auf wenig Gegenliebe. Marcel Michels, AStA-Referent für Hochschulpolitik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, befürchtet, dass der universitäre Gedanke zu Grabe getragen und die Hochschulen in seinem Bundesland zu reinen Ausbildungsunternehmen degradiert werden.

Durch die geplante Änderung der Rechtsform zieht sich das Land inhaltlich und finanziell aus dem Bildungsauftrag zurück. Die Abhängigkeit von großen privaten Geldgebern wird verstärkt.

Marcel Michels

Frei vom Staat, aber am Tropf der Wirtschaft

Die GRÜNEN wollen sich mit dem Gesetzesentwurf ebenfalls nicht zufrieden geben, weil sich die vermeintlichen Reformschritte vorwiegend nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu vollziehen scheinen. In einem Positionspapier bemängeln sie die „rein marktförmige Steuerung zwischen den Hochschulen aber auch innerhalb der einzelnen Einrichtungen“, die schließlich dazu führen könnte, dass sich das akademische Leben nur noch um die „Organisationsziele Gewinn bzw. Rentabilität, Umsatz, Kostensenkung oder Liquidität“ dreht.

Mit der Einführung von Studiengebühren in einer Höhe von bis zu 500 €, die 27 der 33 staatlichen Universitäten, Fachhochschulen und Kunst- und Musikhochschulen faktisch beschlossen haben, wird sich die Konzentration auf ökonomische Aspekte weiter erhöhen. Auch die Umstrukturierung der Hochschulen in Körperschaften des öffentlichen Rechts, die vor Insolvenzen nicht mehr geschützt sind, zielt in diese Richtung.

Das deutlichste Anzeichen für die geplante Ökonomisierung des Bildungssystems ist freilich die Einführung der Hochschulräte. Außerhalb Nordrhein-Westfalens gibt es bereits vergleichbare Einrichtungen, die zwar (noch) nicht über eine vergleichbare Machtfülle verfügen, durch ihre Zusammensetzung aber keinen Zweifel daran lassen, dass der Einfluss des Staates hier naht- und übergangslos durch den Einfluss der Wirtschaft ersetzt wird.

Interessenvertreter in Hochschulräten

Beispiel München: An der Ludwig-Maximilians-Universität obliegt dem Hochschulrat die Entwicklung von Initiativen zur Profilbildung der Hochschule und die Schwerpunktsetzung in Lehre und Forschung. Er kümmert sich überdies um die Ausgestaltung der Studienangebote, berät die Hochschulleitung „in allen wichtigen Angelegenheiten“ und äußert sich überdies zur Entwicklungs-, Organisations- und Finanzplanung. Im dem Gremium sitzen ausgewiesene Wissenschaftler wie der Rektor der Universität, Bernd Huber, die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, Rachel Salamander, Geschäftsführerin der Literaturhandlung, oder Nobelpreis-Träger Robert Huber als Direktor des Max-Planck-Instituts für Biochemie in Martinsried.

Daneben haben mehr oder weniger prominente Vertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft Platz genommen, deren Universitätskarriere im wesentlichen auf Studium, Promotion oder Honorarprofessur beschränkt ist. Zu ihnen gehören das Oberhaupt des Hauses Wittelsbach, Herzog Franz von Bayern, Nikolaus von Bomhard, Vorstandsvorsitzender der Münchner Rück, Hubert Burda, Chef der Burda Holding GmbH & Co KG, und Herbert A. Henzler, einst Chairman von McKinsey Europa, Mitglied des Ad-hoc-Beratungskreises zum Aufbau Ost von Bundeskanzler Helmut Kohl und heute Mitglied des Advisory Council McKinsey & Company Worldwide. Außerdem sitzen Albrecht Schmidt, der ehemalige Vorstandssprecher und Aufsichtsratsvorsitzende der HypoVereinsbank AG, und Wilhelm Simson, früher Chef von E.ON und VIAG, nunmehr Aufsichtsratsvorsitzender der Merck KgaA, im Münchner Hochschulrat.

Beispiel Oldenburg: Weiter nördlich sieht es nicht viel anders aus als in der Interessengemeinschaft des Freistaates. An der Carl von Ossietzky-Universität im niedersächsischen Oldenburg hat sich Ende 2003 ein Hochschulrat konstituiert, der das Präsidium und den Senat beraten und zu den Entwicklungs- und Wirtschaftsplänen der Universität ebenso Stellung nehmen soll wie zur Gründung von oder Beteiligung an Unternehmen.

Zu den sieben, nicht durch das Parlament, sondern von Universitätssenat und Wissenschaftsministerium benannten Mitgliedern gehören Martha Christina Lux-Steiner, die eine Professur für Heterogene Materialsysteme an der FU Berlin innehat und sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Solarenergie beschäftigt, Eske Nannen, Geschäftsführerin der Kunsthalle Emden, sowie die dänische Sprach- und Kommunikationsforscherin Karen Sonne Jakobsen. In den Hochschulrat wurden außerdem Werner Brinker, Vorstandsvorsitzender der EWE AG und Präsident des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft, Heindirk tom Dieck, bis 2002 Generalsekretär der Gesellschaft Deutscher Chemiker, und Hubert Rothärmel, Aufsichtsratsvorsitzender der CeWe Color AG und Präsident der Photo Marketing Association International, berufen.

In dem erlauchten Gremium sitzt schließlich auch Jörg Menno Harms, Aufsichtsratsvorsitzender von Hewlett-Packard Deutschland und Vizepräsident der BITKOM. Menno Harms verbringt seine knapp bemessene Zeit überdies und doch nur unter vielem anderen in den Aufsichtsräten der Jenoptik AG, der Dürr AG, der Heraeus Holding GmbH, der Groz Beckert KG sowie der Württembergischen Hypothekenversicherung AG.

„Reformwerkstatt“ als Drahtzieher und Motivator

Ausgangspunkt dieser bedenklichen Entwicklung, die der Wirtschaft nun offenbar endgültig die Gestaltung der Bildungspolitik überlassen will, ist einmal mehr das hauptsächlich von der Bertelsmann Stiftung finanzierte Centrum für Hochschulentwicklung. Ende 2005 hatte die selbsternannte „Reformwerkstatt“ bereits „zehn Anforderungen an ein Hochschulfreiheitsgesetz für Nordrhein-Westfalen“ formuliert und dessen Vorstellung – abgesehen von einigen Kritikpunkten, die sich beispielsweise gegen die Beibehaltung des Beamtenstatus für Professoren richteten - nachdrücklich begrüßt. CHE-Leiter Detlef Müller-Böling erklärte unumwunden, es sei zu wünschen, „dass die allermeisten der von Minister Pinkwart angekündigten Regelungen tatsächlich Gesetz werden.“

Der ehemalige Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerium, Wolfgang Lieb (SPD), attestiert dem CHE deshalb ein eskalierendes Selbstbewusstsein. Das Centrum habe sich mittlerweile „nicht nur zum Hauptratgeber für die Wissenschaftsministerien“, sondern „zu einer Art Präfekt der Glaubenskongregation in Sachen Hochschulgesetze“ aufgeschwungen. Tatsächlich erfreuen sich neben Nordrhein-Westfalen auch viele andere Bundesländer – wie etwa Sachsen - der besonderen Aufmerksamkeit der Gütersloher Hochschulwächter.

Angesichts des bisherigen Besetzungslisten der Hochschulräte besteht wenig Hoffnung, dass alternative Forschungsprojekte oder Untersuchungen in wissenschaftlichen Randbereichen in Zukunft noch viele durchsetzungsstarke Fürsprecher finden werden. Was sich dem Zugriff marktwirtschaftlicher Verwertungsstrategien entzieht und keine bezifferbare Kosten-Nutzen-Bilanz aufweist, läuft so möglicherweise Gefahr, Lehrplanberechtigung, Förderwürdigkeit und Hochschulpräsenz zu verlieren. Von dieser Ausschlusspolitik könnten übrigens nicht nur geisteswissenschaftliche oder künstlerische Studieninhalte, sondern auch viele Bereiche der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung betroffen sein.