Mysteriöse Todesursachen

Eine Reportage aus dem Libanon

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Im Keller des Bachir Cham Krankenhauses in Sidon liegen acht Leichen des Kühlhauses. Sie liegen am Boden, notdürftig in große, schwarze Plastikfolien gewickelt, wie man sie von Müllsäcken kennt. Doktor Mansour legt sterile Gummihandschuhe an, bevor er eines der toten Pakete öffnet. Vorsichtig holt er unter der dicken Plastikfolie den schwarz verkrusteten Kopf eines jungen Mädchens hervor. Im ersten Moment erinnert es an eine Mumie, in Wirklichkeit ist es die fünf-jährige Darine Kanoun, die seit dem 17. Juli in der trostlosen Kälte des Kühlhauses liegt. An diesem Tag war sie mit ihren Eltern und ihrem 15-jährigen Bruder vor den israelischen Bomben aus dem Südlibanon geflüchtet. Die Familie wollte in das sichere Beirut, schaffte es allerdings nur wenige Kilometer hinter die Hafenstadt Sidon, die die Grenze zum Süden markiert. Wahrscheinlich waren alle erleichtert, denn von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung in die libanesische Hauptstadt. Aber auf der Brücke von Reimleh kamen israelische Kampfflugzeuge. Alle Insassen des Minibusses waren sofort tot.

Nun liegen die kleine Darin und ihre gesamte Familie auf dem Fliesenboden im Kühlhaus. Doktor Mansour nimmt den Kopf des toten Mädchens an den Haaren und dreht ihn in meine Richtung. „Sehen Sie, die Haare sind voll intakt“, sagt der Chirurg trocken. Dann deutet er mit dem Finger auf das Gesicht des Mädchens. „Und hier die schwarze Hautfarbe. Das sieht aus wie Verbrennungen, aber das sind keine. Wir haben alles getestet.“ Er fordert mich auf doch näher zu kommen. „Sie können doch gar nichts sehen!“ Neben der Leiche des kleinen Mädchens liegt ihr blaues T-Shirt in der Plastikfolie „Völlig intakt, ohne jegliche Brandflecken, wie auch bei den anderen Kleidungsstücken aller Leichen“, fügt er hinzu, bevor er die Plastikfolie wieder über das tote Mädchen legt und zubindet.

Im Konferenzraum im ersten Stock des modern eingerichteten Krankenhauses, das einige Minuten außerhalb des Stadtzentrums von Sidon liegt, empfängt mich der Chefarzt und Besitzer des „Bachir Cham Hospitals“. „Wir gehen davon aus, dass das Mädchen und ihre Familie von chemischen Kampfstoffen getötet wurde“, sagt Professor Cham, der lange Jahre in Paris und Brüssel praktizierte, bevor er seine Klink im Libanon eröffnete. Der medizinische Befund sei eindeutig. „Bei sechs Leichen gibt es keinerlei inneren und äußeren Verletzungen, in der Lunge keine Ödeme. Selbst die Muskeln sind, im Gegensatz zu normalen Leichen, weich und intakt. Nur zwei Tote haben Hirnverletzungen, die ein Resultat der Explosion sind. Aber alle haben diese seltsame schwarze Hautfärbung.“

Als Beweis zeigt mir der Professor am Computer Fotos aller Leichen, die man am Tag der der Einlieferung gemacht hatte. Eine Erklärung hat 58-jährige Arzt und Herzspezialist weder für die Hautfärbung, noch für die Todesursache. Normalerweise gäbe es bei einer Bombe ein „blutiges Tartar“, erklärt Cham. „Zerfetzte Gliedmaßen, Knochenbrüche, aufgerissener Bauch und viel Blut.“ Aber bei diesen Opfern gäbe es nichts, nicht die geringste Verletzungen, keine Blutergüsse und die Muskeln würden nicht steif, wie bei normalen Toten. „Ich bin 100% sicher, die Israelis verwenden irgendeine toxische Substanz, die vielleicht über die Haut in den Körper eindringt.“ A

Als Christ hat Bachir Cham, dessen Englisch einen deutlichen französischen Akzent hat, nichts mit Hisbollah zu tun. Zusammen mit dem Erzbischof von Tripoli, Monsignor Jean Abboud, hatte Professor Cham wenige Tage nach den Ereignissen eine Pressekonferenz in Brüssel organisiert. „Ich bin auf Seiten der Zivilisten, die in Israel und im Libanon die Leidtragenden sind.“ Der Krieg müsse sofort aufhören, fügt er sichtlich aufgebracht an. „Ob Israeli oder Libanese, kein einziger Zivilist darf sterben“.

Der Befund des Leiters des Bachir Cham Krankenhauses in Sidon deckt sich mit den Berichten aus dem Südlibanon. Das libanesische Fernsehen zeigte Bilder von 20 schwarz gefärbten toten Menschen, die auf der Flucht in ihrem Minibus in der Nähe des Grenzdorfs Marwheen von einer israelischen Rakete getroffen wurden. Gerade in und um Tyre, der täglich schwer bombardierten Hafenstadt im Süden, beklagen Ärzte von privaten wie öffentlichen Krankenhäusern „unerklärlich schwarz aussehenden“ Kriegsopfern. Besonders besorgniserregend sind Berichte aus Regierungskrankenhaus in Tyre. „Wir haben Opfer, die zur Hälfte ihrer normalen Größe schrumpfen“, sagte der Direktor Raed Salman Zeinedine. „Zuerst denkt man, es handelt sich um ein Kind, muss aber dann feststellen, dass es ein erwachsener Mann ist.“

Trotz der Erfahrungen des 15-jährigen Bürgerkriegs habe man derartiges noch nie gesehen. Da es bisher noch keinen wissenschaftlichen Beweis gäbe, könne man aber nur spekulieren. Professor Bachir Cham möchte diese wissenschaftliche Lücke schließen. In Zusammenarbeit mit dem libanesischen Gesundheitsministerium und der nationalen Ärztekammer werden 24 Proben in Speziallaboren in Beirut derzeit untersucht. In etwa einer Woche soll es Resultate geben. „Falls sie positiv sind, schicken wir sie in die Schweiz“, fügt Professor Cham an, der bereits per Fax Kofi Anan und Javier Solana von seinem medizinischen Befund unterrichtete. „Wir brauchen auch ein unabhängiges Urteil.“

„Wir benutzen keinerlei chemische Waffen und auch keinen Phosphor“, sagte der israelische Armeesprecher Jacob Dallal. Dieser Vorwurf sei völlig absurd. „Wir benutzen nur konventionelle Waffen und Munition, die Ziele genau treffen und so gut wie keine zivilen Kollateralschäden produziert.“ Chemische Waffen würden im Kampf gegen Hisbollah auch keinerlei Nutzen bringen.

„Human Rights Watch“ (HWR) hat Israel bereits mehrfach der Anwendung von Splitterbomben angeklagt, die gegen Zivilisten in Süden eingesetzt würden. HRW hatte Fotos von Splittergranaten auf der israelischen Seite der Grenze gemacht und dabei auch Phosphorbomben entdeckt. „Wir haben sie in den Waffenlagern der israelischen Armee im Norden gesehen“, bestätigte Peter Bouckaert, der Sprecher von HWR in Beirut.

In Najem Krankenhaus in Tyre berichtete der leitende Chirurg, Jawad Najem, von einem 14-jährigen Jungen und seiner 8-Monate alten Schwester, die wegen „Phosphorverbrennungen behandelt wurden“. Auch sie waren im Auto von einer israelischen Rakete getroffen worden. Der Vater war sofort tot. „Phosphorgranaten sind legitim“, erklärt Peter Bouckaert von HWR, „wenn sie nachts als Beleuchtung auf dem Schlachtfeld benutzt werden. Als offensive Waffe verstieße das gegen internationale Konventionen.“ Der Sprecher von HWR meint das Abkommen über chemische Waffen, die 1992 in Genf beschlossen wurde und von mittlerweile von 65 Staaten unterschrieben ist. Entsprechend dieser Konvention dürfen weder chemische, noch biologische Waffen eingesetzt werden. Israel hat das Abkommen zwar aber unterschrieben, aber es wurde nie ratifiziert.

Für Darine Kanoun, das fünfjährige Mädchen und ihre Familie im Kühlhaus des „Bachir Cham Hospital“ kommt jede Hilfe zu spät. Ihr weißer Minibus liegt noch immer auf dem Meeresgrund. Nicht alle Leichen konnten vom Roten Kreuz geborgen werden. Vier Fahrgäste sind im Fahrzeug geblieben. Oben, von der Brücke in Reimleh, sieht man noch deutlich den Fahrer im Wasser am Steuer sitzen. Als wäre die Fahrt nach Beirut noch lange nicht zu Ende.