Israelische Bomben auf Kana: Massaker oder Hisbollywood?

Stimmen des Zweifels. Update

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Am Sonntag morgen wurde das libanesische Dorf Kafr Kana von der israelischen Luftwaffe bombardiert. Nach Angaben des libanesischen Roten Kreuzes vom Montag wurden bislang 28 Leichen geborgen, darunter 19 von Kindern. Weitere Opfer werden unter den Trümmern vermutet. Der Angriff und das allgemeine Entsetzen der Weltöffentlichkeit könnten einen Wendepunkt in den Forderungen nach einem Waffenstillstand und der Entsendung einer internationalen Friedenstruppe markieren. Doch es mehren sich auch die Stimmen des Zweifels an der verbreiteten Geschichte.

Robert Fisk spricht von einem neuen "Massaker" an unschuldigen libanesischen Zivilisten. Außenminister Frank-Walter Steinmeier fordert von Israel einmal mehr, militärische Gewalt müsse "verhältnismäßig sein", Judith Bernstein von der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost" fordert bereits "Sanktionen gegen Israel". Die arabische Welt scheint mit "Kana 2" ein neues Symbol für die Grausamkeiten Israels gefunden zu haben, nachdem in Kana bereits 1996 durch israelischen Artilleriebeschuss eines UNIFIL-Gebäudes 106 Menschen starben.

Israel drückte umgehend "tiefes Bedauern" aus:

Ich bedaure den Tod von Kindern oder Frauen in Kana aus tiefstem Herzen. Sie waren nicht unsere Feinde und wir hatten es nicht auf sie abgesehen.

Premierminister Ehud Olmert

Olmert betonte aber, dass die Zivilbevölkerung seit Tagen durch Flugblätter gewarnt worden war und angehalten, das Dorf zu verlassen, und dass nichts auf die Präsenz von Frauen und Kindern in dem Gebäude hindeutete. Informationen des Militärgeheimdienstes zufolge waren von dem Gebäude aus zuvor Katyusha-Raketen auf Nahariya abgefeuert worden - eine Version, die am Montag zurückgezogen wurde. Nun scheint es, als sei das Gebäude in ein Cluster von Zielen in Kana eingefügt worden, nachdem von einer anderen Stelle Raketen auf Israel geschossen wurden.

Was danach passierte an diesem Sonntag in Kana, ist derzeit in weiten Teilen unklar. Die publizierten Berichte weisen so viele Risse auf und die Fotos, die um die Welt gingen, lassen so viele Spielräume für Zweifel, dass es gerechtfertigt ist, auch den Stimmen zahlreicher Blogger nachzugehen, die von "Hisbollywood" sprechen - in Anlehnung an die Formel "Pallywood", die für die palästinensische Produktion von Opferbildern für die Weltöffentlichkeit steht.

Zeitliche Ungereimtheiten

Die erste Ungereimtheit ist der zeitliche Ablauf der israelischen Angriffe und der Zerstörung des Gebäudes. Bereits Sonntag Nachmittag wurde erstmals die Mutmaßung nahegelegt, der Einsturz könne womöglich gar nicht von Israel verursacht worden sein. In einer ersten Stellungnahme gab der israelische Luftwaffenkommandant Amir Eshel Möglichkeiten zu bedenken, dass "Hisbollah-Terroristen das Gebäude sprengten oder dass aus unbekannten Gründen Sprengstoff hochging, der in dem Komplex gelagert wurde."

Aufnahmen von unbemannten Drohnen sollen zeigen, dass die Flugzeuge der Luftwaffe das Gebäude zwischen Mitternacht und 1.00 Uhr bombardierten und dann erneut um 7.30 Uhr - dann aber rund 450 Meter entfernt. Die ersten Berichte über getötete Zivilisten kamen gegen 8.00 Uhr. "Es ist unklar, was zwischen 1.00 und 8.00 Uhr passiert ist", erklärte Eshel. "Ich sage das sehr vorsichtig, weil ich derzeit nicht die geringste Ahnung habe, was der Grund für diesen Abstand sein könnte."

Dorfbewohnern zufolge gab es dagegen nur einen Abstand von 10 Minuten. Demnach ist das Gebäude bereits kurz nach 1.00 Uhr eingestürzt. Doch auch hier wirft ist der zeitliche Abstand Fragen auf. Libanesische Quellen erläutern, aufgrund der Dunkelheit konnte mit den Rettungsarbeiten nicht begonnen werden und wegen zerstörter Telefonmasten konnten die Rettungsteams nicht vor 7.00 Uhr gerufen werden. Auch diese Version lässt viel Raum für Zweifel: Warum ist nach dem Einsturz sechs Stunden lang gar nichts passiert, bis es hell wurde und plötzlich die Telefonleitungen wieder funktionierten? Die einzige plausible Erklärung wäre, beim ersten Tageslicht sei eine defekte Telefonleitung repariert worden, mit der dann endlich die Außenwelt informiert werden konnte. Wahrscheinlich scheint jedoch derzeit, dass das Gebäude erst am Morgen einstürzte.

Demnach gäbe es mehrere Möglichkeiten, was den Einsturz letztlich verursacht haben könnte. Ist das Gebäude, schwer getroffen, noch einige Stunden stehen geblieben und dann von allein umgestürzt? Können Hisbollah-Waffen explodiert sein und das Haus zum Einsturz gebracht haben? Könnte die Hisbollah das Gebäude gar absichtlich zum Einsturz gebracht haben, um Opfer in den eigenen Reihen (bzw. Bilder von Opfern) zu produzieren und damit einen Waffenstillstand zu erzwingen?

Den Feind so schlecht wie möglich aussehen lassen

So zynisch es zunächst anmutet, eine solche Version zu diskutieren, so sehr liege sie doch in der Logik der Kriegsstrategie aufseiten der Hisbollah, meinen manche. Denn sie kann den Krieg nicht militärisch gewinnen. Ihr Ziel sei demnach, Israel so lange wie möglich Widerstand zu leisten, so viele israelische Opfer wie möglich zu produzieren und dabei den Feind so schlecht wie möglich aussehen zu lassen. Dass für Letzteres auch eigene Opfer in Kauf genommen werden - als menschliche Schutzschilde und für die PR -, dieser Gedanke wird beispielsweise auch vom UN-Menschenrechtsbeauftragten Jan Egeland nahegelegt; Egeland, der sich gewöhnlich nicht gerade durch israelfreundliche Äußerungen hervortut, hat die Hisbollah vor einer Woche beschuldigt, sich "feige unter Frauen und Kinder zu mischen".

Einen Hinweis darauf, dass zivile Opfer seit Jahren im Kalkül der Hisbullah existieren, scheint Mounir Herzallah in einem Leserbrief zu geben, der zunächst im Spiegel veröffentlicht wurde und seit einiger Zeit öfter auch im Web zu lesen ist. Herzallah berichtet, dass er selbst bis 2002 in einem kleinen Dorf in Südlibanon gewohnt habe, das mehrheitlich von Schiiten bewohnt ist.

Nach Israels Verlassen des Libanon 2000 dauerte es nicht lange, bis die Hisbollah bei uns und allen anderen Ortschaften das Sagen hatte. Als erfolgreiche Widerstandskämpfer begrüßt, legten sie auch bei uns Raketenlager in Bunkern an. Die Sozialarbeit der 'Partei Gottes' bestand darin, auf diesen Bunkern eine Schule und im anderen Fall ein Wohnhaus zu bauen. Ein lokaler Scheich erklärte mir lachend, dass die Juden in jedem Fall verlieren, entweder, weil die Raketen auf sie geschossen werden oder, wenn sie die Lager angriffen, weil sie von der Weltöffentlichkeit verurteilt werden, ob der dann zivilen Toten. Ich wusste, dass ich meine Familie vor solchen Wohltaten in Sicherheit bringen musste.

Zweifel der Blogs

Die Zweifel der Blogs beziehen sich vor allem auf die Berichte von den Rettungsarbeiten. So argwöhnt Reuven Koret im Online-Magazin Israel Insider:

Das Dach des Gebäudes war intakt. CNN-Reporter Ben Wedeman berichtete von einem größeren Krater neben dem Gebäude, aber er bemerkte, dass das Gebäude anscheinend nicht aufgrund des israelischen Angriffs eingestürzt war. Warum aber sollen die Zivilisten, die angeblich im Keller des Gebäudes Zuflucht gesucht hatten, es nach dem nächtlichen Angriff nicht verlassen haben? Sind sie einfach schlafen gegangen, um auf den Einsturz am Morgen zu warten?

Auch ein anderer Aspekt des Propagandakriegs wird ins Spiel gebracht: Die Hisbollah macht den Vorwurf geltend, die Zivilisten hätten das Gebiet wegen der von Israel zerstörten Straßen und Brücken gar nicht verlassen können, während aber die Journalisten und Rettungsteams aus Tyre keine größeren Schwierigkeiten zu haben schienen, den Ort zu erreichen. Für Koret gibt es noch eine Anzahl weiterer Verdachtsmomente:

Die Rettungsarbeiten begannen erst am Morgen, als Kamerateams vor Ort waren. Das Fehlen ernsthafter Rettungsbemühungen wurde mit dem Mangel an Ausrüstung erklärt. Es gab keine Szenen von Überlebenden oder Verletzten, die gerettet wurden. Es gab wenig Blut, bemerkte Wedeman von CNN: Alle Opfer, so schloss er, schienen im Schlaf gestorben zu sein - schlafend während donnernder israelischer Luftattacken. Retter mit Kameras brachten die Körper alle aus derselben Öffnung des Gebäudes. Reporter durften nicht in die Nähe des eingestürzten Gebäudes.

Die Bilder

Den größten Spielraum für Zweifel bieten schließlich die Bilder selbst: Demnach sehen die Kinder nicht so aus, als wären sie kürzlich durch den Einsturz des Hauses ums Leben gekommen. Es seien keine größeren Wunden zu erkennen, wie sie bei einem eingestürzten Haus durch viele Tonnen Beton üblich sind, so das Argument. Koret bei Israel Insider schreibt dazu:

Israelis, die durch Szenen von Blutbädern palästinensischer Selbstmordattentate und Hisbollah-Raketen gestählt sind, konnten nicht anders, als zu bemerken, dass die Opfer nicht wie 'unsere' Opfer aussehen. Ihre Gesichter waren aschgrau, ihre Glieder schienen steif von der Totenstarre. Beides waren keine Effekte, die aus den israelischen Angriffen wenige Stunden zuvor resultieren konnten. Es handelte sich anscheinend um Körper, die schon seit Tagen tot waren.

Daraus wurde geschlossen, die Kinder könnten vorausgegangenen Kriegshandlungen zum Opfer gefallen und nachträglich in das Gebäude gebracht worden sein. Dieses Indiz ist jedoch inzwischen wiederholt in Zweifel gezogen worden, da sich die Totenstarre nach Fotos nicht eindeutig bestimmen lässt und zudem der Zeitpunkt ihres Eintretens umstritten ist.

Ebenso ist der Versuch gescheitert, aus den Zeitangaben der Bilder einen Beweis für eine Inszenierung herzuleiten. Ein schwaches Indiz für eine nachträgliche Inszenierung ist etwa der blaue Schnuller, der einem toten Jungen offensichtlich nachträglich umgehängt wurde und der gänzlich ohne dessen Staubspuren ist. Die ersten Bilder in der Yahoo-Slideshow zeigen ihn noch ohne Schnuller.

Ein ungelöstes Rätsel ist zudem ein dubioser Mann, der an verschiedenen Orten (nicht nur in Kana) auftaucht, um tote Kinder zu bergen und in die Kameras der Reporter zu halten - übrigens derselbe, der bereits 1996 eine zentrale Rolle bei der Präsentation von zivilen Opfern gespielt haben soll. Er wurde inzwischen als Abdel Kader identifiziert.

Als Hinweis, dass das Ganze einer ausgeklügelten Choreographie aus der "Hezbollywood"-Produktion entspringen könnte, wird ferner ein Großplakat gewertet, das nur kurze Zeit nach dem "Massaker" im Süden von Beirut zu sehen war. Es zeigt eine Fratze von Condoleeza Rice mit dem Text: "Das Massaker an Kindern in Kana 2 ist das Geschenk von Rice. Die intelligenten Bomben ... dumm."

Ein solches Plakat, kommentiert ein "professioneller Plakathersteller" bei Israel Matzav, erfordert längere Vorbereitung, als dass es noch am selben Tag bei einer Demonstration hätte ausgerollt werden können. War das Plakat demnach beim Einsturz des Gebäudes schon fertig?

Warum bestreitet die IDF nicht?

Die naheliegende Frage ist nun: Warum drückt die israelische Armee und Politik ihr Bedauern aus und übernimmt tendenziell die Verantwortung, anstatt die verbreitete Version zunächst zu bestreiten? Spricht die Tatsache, dass Israel die Anschuldigungen nicht energisch zurückwies, um weitere Untersuchungen abzuwarten, nicht dafür, dass diese Anschuldigungen zutreffen? Man muss sich hier vielleicht an vorangegangene "Massaker" erinnern, die sich nachträglich als Inszenierung aus "Pallywood" herausstellten, um dieses Verhalten besser zu verstehen. Der letzte größere Aufschrei der Öffentlichkeit ereignete sich im Juni, nachdem am Strand von Gaza-Stadt eine siebenköpfige Familie getötet wurde - vermeintlich durch israelisches Artilleriefeuer. Die Bilder eines schreienden zehnjährigen Mädchens im Sand, der einzigen Überlebenden der Familie, gingen um die Welt und wurden zum Sinnbild wahlloser israelischer Aggression (vgl. Israelisches Militär bombardiert palästinensische Familie beim Picknick und Es war keine Granate).

In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung werden der Bilderproduktion von damals sehr große Fragezeichen aufgesetzt, die an die ursprüngliche Version der Geschichte kaum mehr glauben lassen.

Auch die bekannte Geschichte um das Feuergefecht, bei dem am 30. September 2000 in Nablus der zwölfjährige Muhammad al-Durrah ums Leben kam, erwies sich im Nachhinein als falsch, auch hier werden Gründe geliefert, um von einer Inszenierung auszugehen.

Beide Male übernahm die IDF zunächst die Verantwortung - weil es unmittelbar danach keine plausible andere Erklärung gab? Beide Male stellte sich viel später heraus, dass Israel mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht dafür verantwortlich war. Und warum nimmt Israel nun erneut ein solches PR-Desaster in Kauf, das in einem asymmetrischen Krieg über eine Niederlage mitentscheiden kann?

Bislang ließ die IDF nur verlauten, man sei sich "der Gerüchte bewusst".Möglich ist zudem, dass sie zur schlechten PR das ihre beigetragen hat: die Verzögerung in der Freigabe von Bildern durch die israelische Militärzensur erscheint bei der heutigen Verbreitungsgeschwindigkeit von Informationen nicht mehr zeitgemäß.

Erst um 19.45 Uhr (Ortszeit) wurden Bilder im israelischen Fernsehen über den Beschuss durch die Hisbollah gezeigt, der dem israelischen Angriff vorausgegangen. Kann die IDF noch nicht mit der Entwicklung Schritt halten, dass der Krieg längst auch ein Krieg der Bilder ist, in dem Videos von abgefeuerten Katyusha-Rakten oder der "Realität im Libanon" bei YouTube platziert werden, um kurzfristige Erfolge im Kampf um die öffentliche Meinung zu verbuchen?

Inzwischen beschäftigt sich das Internationale Rote Kreuz mit den Anschuldigungen. Bana Sayeh, die als Sprecherin des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Ostjerusalem arbeitet, wird von der israelischen Zeitung Jerusalem Post damit zitiert, dass sie das IKRK in Genf über die Anschuldigungen informieren würde und zudem bald einen Bericht über die Kana-Tragödie publizieren. "Wir sind eine neutrale Organisation und wir wollen die Wahrheit herausfinden, die wir bald veröffentlichen werden. [...] Alles wird klar sein, sehr klar", sagte sie.

Einstweilen stehen stichhaltige Beweise für eine Inszenierung der Tragödie noch aus und manche Fragen bleiben offen, was die Ursache des Einsturzes und die Möglichkeit einer nachträglichen Inszenierung angeht - oder ist das Ganze doch bloß eine "Verschwörungstheorie" von Bloggern, wie die Süddeutsche Zeitung vermutet.

Update: Die Meldung zum abschließenden Untersuchungsbericht der israelischen Armee ist inzwischen auch vollständig auf der Webseite der IDF verfügbar. Das Eingeständnis, "Fehler" begangen zu haben, wurde in deutschen Medien weithin als Beleg für die Hinfälligkeit vieler Vermutungen gewertet (vgl. Spiel mit Opfern). Doch das Statement enthält keinerlei Formulierung über "Fehler". Bezüglich der Vermutungen bestätigt es erneut, dass es einen Angriff gegeben hat – die Fragen des Einsturzes oder gar einer "nachträglichen Inszenierung" werden davon nicht berührt. Die eigentliche Botschaft der Meldung ist denn auch eher darin zu sehen, dass mit eindeutigen Beweisen nicht zu rechnen ist. Damit zeichnet sich ab, dass viele Umstände des tragischen Vorfalls unaufgeklärt bleiben werden.