Die Entdeckung der Bürger

Schreiben die Leser den Journalismus in die Klemme?

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Handy-zückende „Leser-Reporter“ greifen Lokal- und Boulevardblättern unter die Arme, einstmals brave Leserforen mutieren zum crossmedialen Medium, bis zu „20 Millionen Redakteure“ sollen eine komplette Leser-Zeitung gestalten, die Readers Edition: die mediale Traumkombination nach „Poldi“ und „Schweini“ heißt – „Bürger“ und „Journalismus“.

Während sich der Spiegel noch mit den Entblätterungstechniken des „Ich im Internet“ befasst, bieten zahlreiche Zeitungsverlage ihrer Kundschaft eine neue Form des „Wir“ an: Gemeinsam mit einer zugleich lesenden und schreibenden Nutzerschaft sollen neue Wege des Journalismus beschritten, dabei dem grassierenden Auflagenschwund entgegengewirkt und ein junges Publikum angesprochen werden.

In diesem Öffnungsprozess bricht das Pressewesen mit ehernen Gesetzen der Zunft, denn nichts weniger als das über Jahrzehnte gepflegte Selbstverständnis als „Torwächter“ und Qualitätsgarant, der einer hilfsbedürftigen Leserschaft die Welt und anderes erklärte, scheint einem heftigen Wandel unterworfen. Immer häufiger werden die bisher als „Endkunden“ mit einem fertigen Produkt belieferten Leser in den Produktionsprozess einbezogen, auffälligstes Projekt unter den „bürgerjournalistischen“ Angeboten ist dabei die Readers Edition der Berliner Netzeitung.

Beispiel: Die Readers Edition der Netzeitung

Ist schon die Netzeitung selbst als reine Online-Tageszeitung in Deutschland ein Novum, so wird diese Innovationspolitik mit der „Readers Edition“ (RE) fortgeführt. Das publizistische Entwicklungsprojekt kommt seit Anfang Juni selbstständig daher, auch wenn die Verquickung mit dem Mutterblatt vor allem im Internet vergleichsweise heftig diskutiert wird. Noch fällt die Einschätzung dessen, was auf den Seiten der Readers Edition tatsächlich geschieht, nicht ganz leicht. Dazu ist das Angebot noch zu jung und sind die Lernphase längst nicht abgeschlossen. Darüber hinaus herrschte zum Launchtermin ein WM-bedingter Ausnahmezustand, gefolgt vom publizistisch immer schwierigen „Sommerloch“.

Und doch lohnt das Arbeitsmodell der Readers Edition einer genaueren Betrachtung, denn das Projekt vereint zahlreiche Elemente aus der neuen technologischen Wundertüte des „Web 2.0“. Das beginnt mit dem Titelsignet, in dem beinahe etwas verschämt das Wörtchen „Beta“ aufscheint, ein unverhohlener Hinweis auf den permanenten Entwicklungscharakter, den man auch als journalistische Selbstversicherung deuten könnte: Achtung, Experiment!

Darunter finden sich die einzelnen „Rubriken“, die längst nicht das übliche Zeitungsspektrum umfassen und eher die Vorlieben der Leser-Autoren zu integrieren scheinen. Die größtenteils bebilderten Artikel-Teaser auf der Startseite sind mit einer Bewertungsskala versehen, ebensowenig fehlt auf der Seite eine Liste „Bester Autoren“ und „Meistgelesener Artikel“, eine Schlagwortliste ergänzt die Navigationsmöglichkeiten. Die Texte selbst unterliegen im Regelfall einer Creative Commons-Lizenz und stehen somit für eine weitere Nutzung zur Verfügung. Der Bereich „Artikel auf der Karte“ erlaubt einen „georeferenzierten“ Zugriff auf die einzelnen Beiträge – ein netter Service, wirkt insgesamt aber noch ein wenig verloren im Angebot. Flankierend dürfen natürlich Blog (mit einigen Berichten aus der RE-Startphase) und Wiki (als Anleitung, Forum und Feedback-Kanal) nicht fehlen. So weit, so solide.

Spannend ist das eigentliche Organisationsmodell der Website. Nachdem der ursprüngliche Projektentwickler Peter Schink inzwischen zu Welt.de gewechselt ist, hat Solveig Grothe die Koordination an der Schnittstelle zur Netzeitung übernommen:

Readers Edition ist ein eigenständiges Projekt und damit inhaltlich unabhängig von der Netzeitung. Über die einlaufenden aktuellen Schlagzeilen sind die Seiten miteinander verlinkt. Die Netzeitung leistet den technischen Support für Readers Edition.

Während sich die Projektleitung als Sammelstelle für Ideen zur weiteren Entwicklung des Konzepts versteht und die Umsetzung des Projekts begleitet, wird die inhaltliche Hauptlast der Artikelauswahl von ehrenamtlichen Moderatoren geschultert. Zur Zeit sind 13 Moderatoren (darunter nur eine Frau) registriert, auf deren „Desk“ laufen die Artikel der registrierten RE-Reporter ein. Die Koordination dieser „virtuellen Redaktion“ verläuft weitgehend digital:

Die Kommunikation mit den Moderatoren erfolgt per E-Mail, in regelmäßigen Chats bzw. bei persönlichen Treffen (Workshops, Stammtischen). Das Moderatoren-Team besteht in dieser Formation seit dem Projektstart. Interessierte, die auch gern Moderator werden möchten, können sich bewerben, das Team entscheidet dann über seine Verstärkung.

Eine Vorauswahl von Themen gibt es nicht, Grothe betont auch hier das Potenzial zur Selbstorganisation:

Im Wiki der Readers Edition erfahren Autoren, welche formalen Erwartungen bezüglich der eingereichten Artikel bestehen. Darüber hinaus nehmen die Moderatoren bei Bedarf Kontakt zu den Autoren auf und bitten sie gegebenenfalls um Überarbeitung oder Ergänzung ihrer Texte, wenn etwa Aspekte fehlen oder Quellen nicht genannt werden. In der Wahl ihrer Themen sind die Autoren völlig frei.“

Vor welchen Selektionsproblemen die Moderatoren dabei stehen, lässt sich recht gut an der Liste der abgelehnten Beiträge ablesen: Neben erfolglosen PR-Versuchen in eigener Sache, Doubletten oder leicht erkennbaren Plagiaten sind Texte aufgelistet, denen fehlende journalistische Qualität attestiert wird. Hier wird ein Ausleseverfahren dokumentiert, das redaktionsinterne Diskussionsprozesse belegt und zugleich einige gute Hinweise zu den Vorlieben der schreibenden Leserschaft liefert. Ganz offensichtlich versuchen viele RE-Reporter, Beiträge aus ihren eigenen Weblogs für ein breiteres Publikum sichtbar zu machen – häufig ohne Erfolg.

Trainingslager und Sprungbrett für journalistisch mindestens vor-qualifizierte Autoren

Gerade an dieser technisch-inhaltlichen Schnittstelle wird eine gewisse „Blog-Lastigkeit“ des Projekts sichtbar – auch die Moderatoren fühlen sich fast ausnahmslos in der Blogosphäre zu Hause, studier(t)en (Online-)Journalismus, leiten „Weblog-Verlage“ oder bezeichnen sich gleich als „Vollzeit-Journalisten“. Von „Laien-“ oder „Parajournalismus“ keine Spur, vielmehr hat sich hier unter dem Dach der Netzeitung eine mit dem Medium sehr vertraute Gruppe „externer Mitarbeiter“ gefunden, die als eine Art „Trainee-Redaktion“ zu beschreiben ist.

Neben der noch nicht abschließend zu beurteilenden journalistischen Leistungsfähigkeit der Readers Edition scheinen hier weitere interessante Fragen zum Umfeld des „Bürgerjournalismus“ auf. Woher rekrutieren sich Autoren und Moderatoren solcher Mitschreibeprojekte? Wie funktionieren die für „professionellen“ Journalismus so notwendigen Filterungsinstanzen und Qualitätskontrollen? Das Projekt der Readers Edition spricht hier eine deutliche Sprache – das Angebot funktioniert als Trainingslager und Sprungbrett für journalistisch mindestens vor-qualifizierte Autoren, die sich ihre technischen Fähigkeiten häufig als Blogger in Eigenregie angeeignet haben und in der Readers Edition einen interessanten „Reality-Check“ vermuten.

Durch ihre fest verankerte Moderationsstruktur unterscheidet sich die Readers Edition am deutlichsten von anderen „bürgerjournalistischen“ Angeboten, die gerade für Furore sorgen. Während sich BILD (1414@bild.de), Saarbrücker Zeitung (leser-reporter@sol.de) oder N24 (augenzeuge@n24.de) auf die Einrichtung von Einfallstoren für Rohmaterial oder Kurzmeldungen beschränken, erlaubt lediglich das Leserportal opinio die Integration vollständiger Artikel. Getragen wird die Website, die wie ein unübersichtliches Gruppenblog wirkt, von der Rheinischen Post, die wöchentlich ausgewählte Beiträge in die gedruckte Ausgabe übernimmt und den Internet-Autoren so einen „Medienwechsel“ ermöglicht.

Dass diese Entwicklung innerhalb der Journalismus-Branche nicht unkommentiert bleibt, versteht sich von selbst. Meist überwiegt eine recht deutliche Skepsis gegenüber solchen Projekten, nachvollziehbar entlang diverser Berichte in den etablierten Medien (zuletzt in FAZ und Zeit, dem Branchenblatt Der Journalist sowie dem NDR-Medienmagazin „ZAPP“), die gerne auf Qualitätsverluste hinweisen und eine Unterwanderung bürgerjournalistischer Angebote durch PR-Schreiber vermuten. Ein weiteres gewichtiges Argument, das gegen die Leser-Schreiber-Beteiligung ins Feld geführt wird, sind die vermuteten Sparpotenziale: Warum teures Geld für professionelle Journalisten ausgeben, wenn doch der nutzergenerierte Inhalt vergleichsweise günstig akquiriert werden kann?

Spielball im Medienmarkt 2.0?

Umgekehrt kann die aktuelle Diskussion um das journalistische Potenzial der Blogosphäre aber auch als Armutszeugnis für die gegenwärtige Leistungsfähigkeit der journalistischen Ausbildungspfade gelesen werden. Die immer schon sehr vielfältigen Wege in den Journalismus haben mit der „Selbstausbildung“ im eigenen Blog und Trainee-Möglichkeiten an den Online-Schnittstellen zu etablierten Medienmarken zusätzliche Konkurrenz erhalten. Möglicherweise rächen sich hier Versäumnisse aus der frühen Phase der digitalen Medienrevolution, denn oft hat es viel zu lange gedauert, bis Techniken der Online-Kommunikation Eingang in die Grundausbildung des journalistischen Nachwuchses gefunden haben. Nun versuchen viele Medienunternehmen solche Defizite durch die eilige Rekrutierung neuer Experten zu kaschieren oder suchen gleich mit einer neuen Unternehmenseinheit nach „neuen Wegen für neue Medien“.

Gegen solche Hauruck-Aktivitäten mutet die Readers Edition der Netzeitung beinahe als elegante Form einer inhalts-getriebenen Modernisierung an. Doch auch hier steht hinter dem Projekt eine umfassendere Entwicklungsstrategie, gestützt durch das norwegische Unternehmen Orkla Media. Mit Netzeitung und Readers Edition, golem.de, NetDoktor, AUTONEWS24 und dem Berliner Radiosender 100,6 MotorFM sind inzwischen mehrere Online-Medienobjekte in der deutschen Tochter Orkla Media Sales zusammengefasst – weiterer Zuwachs für die heterogene Medienfamilie ist nicht auszuschließen.

Ist der Bürgerjournalismus also nicht mehr als ein Spielball im umkämpften „Medienmarkt 2.0“? Das wäre nun eine denkbar ungünstige Entwicklung für einen Hoffnungsträger demokratischer Öffentlichkeit. Doch in der Tat muss künftig bei der aktivierenden Einbindung einer mehr oder weniger qualifizierten Leserschaft viel stärker auf die ökonomischen Rahmenbedingungen geachtet werden. Unschuldige Schritte in einer noch weitgehend unberührten Medienlandschaft sind die idyllisch anmutenden Projekte zur „Stärkung der Leser-Blatt-Bindung“, der „Ermöglichung einer lokalen Öffentlichkeit“ und zur „Einwirkung auf politische Prozesse durch öffentliche Kommunikation“ nur selten. Und noch deutlicher muss aus der Perspektive der Blogosphäre wohl gefragt werden, ob es sich beim Marsch der Blogger in Richtung der etablierten Medienhäuser um eine Form der subversiven Unterwanderung oder doch eher des ökonomisch orientierten Sell-Out handelt.

Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen führt die Entdeckung der Bürgerfigur durch einen mit Modernisierungszwängen konfrontierten Journalismus ganz bestimmt nicht zu einer Revitalisierung der „politischen Öffentlichkeit“. Im Gegenteil: Vielleicht lohnt sogar die Nachfrage, welche Bürgerfigur denn hier überhaupt gemeint ist – der politisch codierte „Citizen“ oder doch eher der marktorientierte „Bourgeois“.