Die Wissenschaft vom Web

Die führenden Experten für das World Wide Web fordern eine neue wissenschaftliche Disziplin

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Tim Berners-Lee, der Erfinder des WWW, geht zusammen mit anderen in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science an die Öffentlichkeit, um Argumente dafür zu liefern, dass die Forscherwelt sich verstärkt und systematisch mit dem virtuellen Raum auseinander setzen sollte. Ziel ist die Schaffung einer interdisziplinären Web-Wissenschaft.

Tim Berners-Lee und Daniel J. Weitzner vom Massachusetts Institute of Technology, Wendy Hall und Nigel Shadbolt von der britischen University of Southampton sowie James Hendler von der University of Maryland stellen unter dem Titel "Creating a Science of the Web" ihre Ideen und Ansätze vor.

1990: Tim Berners-Lee entwickelt das World Wide (Bild: CERN)

Tim Berners-Lee begründete 1990 während seiner Zeit am CERN, der europäischen Organisation für Kernforschung, das World Wide Web (Happy Birthday, WWW!). Das amerikanische Time-Magazine zählte ihn deshalb zu den hundert herausragenden Persönlichkeiten des 21. Jahrhunderts, denn das Web hat den Alltag von vielen Millionen Menschen weltweit nachhaltig verändert (Tim Berners-Lee).

Nicht zuletzt die Wissenschaft profitierte enorm durch das immer breiter werdende Online-Informationsangebot. Das World Wide Web hat die Art, wie Forscher miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten, oder ausbilden, komplett revolutioniert. Dabei hat die Evolution mit den drei 'W' kaum begonnen, noch sind die weiteren Möglichkeiten längst nicht ausgelotet. Das Netz wächst täglich und birgt wahrscheinlich noch ungeahnte Potenziale.

Umso wichtiger wäre eine strukturierte und miteinander vernetzte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem bereits bestehenden und sich weiter entwickelnden weltweiten Netz. Genau darauf weisen jetzt die Experten in ihrem Artikel hin. Tim Berners-Lee hat ja bereits vor einigen Jahren die Vision des semantischen Netzes initiiert (Das Semantische Web).

Aber die Entwicklung maschinenlesbarer Dateien ist nur ein Teil dessen, was die Forschergruppe für nötig hält. Sie verwenden den Begriff Wissenschaft sowohl im Sinn der klassischen Physik oder Biologie, also dem Analysieren des Bestehenden hinsichtlich seiner mikroskopischen Gesetze und dem entsprechenden Deuten des beobachtbaren Verhaltens. Aber auch im Sinn der Computerwissenschaft, die weniger analysiert, aber dafür neue Computernutzungsmöglichkeiten durch Programmiersprachen und Algorithmen entwirft und erprobt (Algorithmen und Datenstrukturen). Die Web-Wissenschaft sollte beide Aspekte abdecken. Die Autoren schreiben:

Das Web ist ein konstruierter Raum, der durch formal vorgeschriebene Programmiersprachen und Protokolle geschaffen wird. Dennoch sind Menschen die Produzenten von Webseiten und den Links zwischen ihnen, ihre Interaktionen formen die entstehenden Muster im Web auf dem makroskopischen Maßstab. Diese menschlichen Interaktionen sind wiederum von sozialen Konventionen und Gesetzen bestimmt. Eine Web-Wissenschaft muss deshalb von Natur aus einen interdisziplinären Ansatz verfolgen; ihr Ziel ist sowohl das Anwachsen des Webs zu verstehen als auch Vorgehensweisen zu schaffen, die neue leistungsstarke und nutzbringende Schemata hervorbringen.

Technologie und ethische Implikationen

Die potenziellen Grundlagen einer WWW-Wissenschaft haben die führenden Forscher in diesem Bereich auf einem Workshop der British Computer Society in London vergangenen September diskutiert (Web Science Workshop. The Emerging Science of the Web). Debattiert wurde über Trends im Web und über die spezifischen Forschungsansätze, die nötig wären, um neue Medientypen, Datenquellen und Wissensdatenbanken besser über das Web zugänglich zu machen – speziell jetzt, wo immer mehr mobile und überall zur Verfügung stehende Zugänge zur Realität im Alltag werden. Andererseits muss zunehmend die Privatsphäre geschützt werden. Soziale und ethische Ansätze müssen ebenso eine Rolle spielen wie die Rahmengesetzgebung, Erkenntnisse über das architektonische Design des WWW und neue Protokolle. Es geht darum, dass die gesamte Gesellschaft von einer Fortschreibung des Netzes profitieren kann. Einer der Autoren, James Hendler, erklärt:

Trotz der unglaublichen Bedeutung, die das World Wide Web für Menschen rund um den Globus besitzt, und seiner wachsenden wichtigen Rolle in der Gesellschaft und in der Politik, hat das Web in der traditionellen Computerwissenschafts-Welt nicht die Beachtung gefunden, die es verdienen würde. Meine Forschung fokussiert auf diesen Bereich, der „Web-Wissenschaft“ genannt werden könnte – es geht darum, das Web in seiner umfassenden Fülle zu verstehen, die unterlegten Technologien zu erkunden, die dafür sorgen, dass es funktioniert; aber auch seine sozialen und politischen Implikationen – und zudem neue Technologien zu entwickeln, damit das Web noch nützlicher wird, während es sich immer weiter in unsere Leben hinein ausbreitet.

Den Forschern geht es nicht nur um eine verbesserte Infrastruktur des virtuellen Raums, sondern auch um ein besseres Verständnis, wie die Gesellschaft mit ihren neuen Möglichkeiten und den Informationsströmen umgeht. Ziele sind ganz klar eine weitere Dezentralisierung, um soziale oder technische Engpässe zu vermeiden, eine Offenheit für alle (auch ungewöhnliche) Arten von Folgenutzung verbreiteter Informationen und Fairness. Die Autoren sind überzeugt:

Bei der Web-Wissenschaft geht es um die Herstellung neuer, leistungsfähiger Werkzeuge für die Menschheit – und darum, das sehenden Auges zu tun.