Die Flaute nach dem Schuss

Über die Hintergründe von Bildfälschungen im Journalismus

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Mehrere Tausend ausländische und einheimische Journalisten arbeiten in Israel und den Palästinensischen Gebieten; im Libanon dürften es einige Hundert sein. Ein Großteil von ihnen sind Fotografen, die einen harten Konkurrenzkampf um Aufträge führen, von denen es zu wenig gibt. So ist die Versuchung, Bilder besser als die Realität zu machen groß – und einige können sich ihr nicht entziehen, wie der Fälschungsskandal bei der Nachrichtenagentur Reuters zeigt. Experten gehen davon aus, dass es sich dabei um keinen Einzelfall handelt und machen dafür einen Systemfehler verantwortlich: Es gebe zu viele Fotografen und zu wenig Aufträge, zumal zunehmend auch Bürgerreporter Bilder liefern. Oft spielt bei Fälschungen die Bildbearbeitungssoftware Photoshop eine Rolle – aber nicht immer: Es gibt viele Arten der Verfälschung.

Ausländische Fotografen fotografieren an der Sicherheitsmauer eine palästinensische Frau, die gebeten wurde, sich weinend vor den englischen Schriftzug zu stellen. Bild: Channel2 News

Nennen wir ihn John. „John ist ein guter Name“, sagt er, „viele Fotografen heißen John.“ Denn der junge Fotojournalist möchte auf keinen Fall erkannt werden. „Ich bin mal gekündigt worden, weil ich an einem Bild rum gebastelt habe“, erklärt er: „Der Kunde wollte Al Aksa-Brigaden, aber ich habe nur Islamischen Dschihad vor die Linse gekriegt. Also habe ich einfach eine Fahne am rechten Bildrand raus geschnitten und die Jungs als Al Aksas verkauft. Der Auftraggeber hat es rausgefunden und das war's...“

Willkommen im Media East. Er ist heiß, er ist hipp – und er ist hart umkämpft: Wer als Journalist was auf sich hält, Karriere machen will oder einfach nur das Abenteuer liebt, kommt irgendwann im Laufe seines beruflichen Lebens in die Region. Tausende einheimische und ausländische Journalisten sind allein in Israel und den Palästinensischen Gebieten akkreditiert, einige Hundert dürften es im Libanon sein. Und auf einen Schreiber kommen mindestens zwei Fotografen, die sich um die immer kleiner werdenden Honorare, die immer weniger werdenden lukrativen Magazin- oder Agenturaufträge reißen – und dabei mit den immer häufiger Inhalte generierenden Nutzern konkurrieren, die ihre Schnappschüsse gerne für fünf Minuten Ruhm verschenken. Kurz:

Es gibt zu wenig Arbeit für zu viele Fotografen, die überdies auch noch alle das Selbe fotografieren. Der Anreiz, die eigenen Bilder mit technischer oder logistischer Nachhilfe besser zu machen als die Realität ist sehr groß, wenn man im Geschäft überleben will. Denn aus der Wirklichkeit kann man manchmal einfach nicht genug raus holen.

John

Zum Beispiel der israelische Abzug aus dem Gazastreifen im Sommer vergangenen Jahres: Aus aller Herren Länder, und vor allem aus den Vereinigten Staaten und Europa, kamen die Stills, wie die Fotografen von den Auslandskorrespondenten in Israel gerne genannt werden, angeflogen, „angezogen von der Hoffnung auf gutes Geld und ein paar anständige Schüsse fürs eigene Portfolio“, berichtet John, „alle haben ja gedacht, es würde DAS Medienerereignis des Jahres, und da wollten natürlich viele der Jungen nicht fehlen.“

Die Realität sah anders aus: Militär und Polizei, die die Räumungen natürlich ungern durch ein Heer von Journalisten vereitelt gesehen hätten, stellten Busse bereit, verteilten die Plätze nach dem „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“-Prinzip, sperrten die Stills, die es geschafft hatten, die meiste Zeit über auf der Ladefläche eines Sattelschleppers ein, fuhren sie von Photo-Op zu Photo-Op (Journalistensprech für: Fotografiergelegenheit) und zerstörten so gut wie jede Hoffnung auf ein Motiv, das kein Anderer hat – eine Katastrophe für viele der Fotografen, von denen die meisten von Fotoagenturen geschickt wurden, die nur bezahlen, wenn sie auch ein Bild verkaufen.

Wenn man normalerweise nur Hochzeiten oder Jahreshauptversammlungen fotografiert, hat der Nahe Osten einen so romantischen, abenteuerlichen Klang. Davon muss man sich trennen: Wenn man nicht aufpasst, verliert man als Erstes seine Träume und dann seine Moral – so wie ich. Als ich hier ankam war es toll: Es ist immer was los, ich habe viel fotografiert, viele Abende mit den anderen Jungs verbracht, aber nichts verkauft. Gut, dann stecke ich's eben ins Portfolio, habe ich mir immer gesagt, wird schon irgendwann werden. Bis dann irgendwann ein dringender Anruf von meiner Bank kam – da habe ich zum ersten Mal zu Photoshop gegriffen. Und plötzlich haben die Kunden zugegriffen.

Ein verwerflicher Fall, von welcher Seite man es auch betrachte, sagt der Medienethiker Roger Morris von der renommierten Columbia School of Journalism in New York: „Letzten Endes ist es natürlich der Journalist, der fälscht oder erfindet, aber es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die dies entweder begünstigen oder sogar fördern. Ich behaupte, dass die Auftrag gebenden Redaktionen sich eine erhebliche Mitschuld an solchen Fällen vorwerfen lassen müssen.“

Da sei allem voran die Ausbildung: „Jedes Jahr absolvieren Tausende von jungen Fotografen Universitäten und spezielle Schulen, ohne Rücksicht darauf, dass es schon jetzt viel zu viele davon gibt“, erläutert Morris, „ich kann nur jedem gratulieren, der frühzeitig die Zeichen der Zeit erkennt und aufgibt, bevor er moralisch und finanziell am Ende ist.“

Doch bei den meisten dauere es bis zum diesem Punkt lange, zu lange, weiß John: „Dafür sorgen schon die Fotoagenturen.“ Sie heißen World Picture News, Zooma oder Gran Angular und bieten den Fotografen an, ihre Bilder gegen prozentuale Beteiligung an gut zahlende Magazine oder Nachrichtenagenturen zu vermitteln. „Die Leute dort geben einem das Gefühl, gefragt zu sein, gut zu sein, schlagen Themen und Berichtsgebiete vor und geben einem alle Papiere, die man braucht, um die Akkreditierungen zu erhalten, die man braucht, um Zugang zu Schauplätzen zu erhalten“, erklärt er: „Das Problem dabei ist, dass man seine Spesen selber bezahlt und trotz der angeblichen Vermittlungsarbeit des Agenturteams mit den angeblich so guten Kontakten in die Redaktionen so gut wie nie etwas verkauft.“

Alle das Gleiche: Fotografen machen während der Zweiten Intifada Aufnahmen von einem Steine werfenden Jungen. Bild: KSI-Price

Warum das so ist, erklärt ein Mitarbeiter einer amerikanischen Fotoagentur: „Magazine und Tageszeitungen lohnen sich nicht, die zahlen nicht genug. Wir verdienen unser Geld mit einem oder zwei richtig guten, atmosphärischen Schüssen am Tag, die das jeweilige Thema in seiner ganzen Bandbreite zeigen, und die wir an eine Nachrichtenagentur verkaufen. Für so ein Bild können durchaus auch fünfstellige Beträge über den Tisch gehen.“ Deshalb müsse man als Agentur immer mehrere, möglichst gute Leute in den Hotspots der Welt haben: „Es ist ja das Schicksal der Einzelperson, niemals dort zu sein, wo etwas passiert. Wenn man aber auf eine Vielzahl von Fotografen zurück greifen kann, besteht eine größere Chance, dass im Ernstfall jemand in der Nähe ist und das Ereignis schießt, so lange es noch heiß ist.“ Ob er kein Problem damit habe, dass alle anderen leer ausgehen? „Dann müssen sie eben besser, schneller, aufmerksamer werden“, rät er.

Und das, sagt John, bedeutet aus Sicht der Fotografen oft: Die Zeit anzuhalten, sie zurückzudrehen. Der Media East macht's möglich. Pallywood, Hisbollywood und die Israelische Desinformationsfilm (IDF) sorgen dafür, dass es immer was zu schießen gibt: Rettungsarbeiten werden auch dann fortgeführt, wenn es niemanden mehr zu retten gibt (Hisbollywood), Schießereien und Demonstrationen arrangiert (Pallywood) und um ihr Haus/ihren Bruder trauernde Menschen organisiert (IDF). Manchmal kommen aufmerksame Blogger Diskrepanzen auf die Spur, in den meisten Fällen tun sie es nicht – nämlich dann, wenn Photoshop, die von den meisten Fotografen benutzte Bildbearbeitungssoftware, tatsächlich nur zum Entfernen von Staub und Kratzern eingesetzt wurde.

Dass die israelische Armee zum Beispiel während der Parlamentswahlen Ende März Soldaten falsche Stimmen in einem falschen Wahllokal abgeben ließ oder Mitglieder der Fatah-nahen Al Aksa-Brigaden auf den Straßen von Nablus auf Bitten von Journalisten mit ihren Waffen paradieren, daran können weder die Organisatoren dieser Theatervorführungen noch viele der beteiligten Fotografen etwas finden: So was finde ja auch in der Realität statt und deshalb hätte es ja so sein können, wird oft als Begründung angeführt, so gebe es doch einfach viel bessere Bedingungen – für beide Seiten: In der Tat kommen die Stills zu ihrem Schuss, wenn sie ihn brauchen. Die Organisatoren können ihre eigene Seite aber auf der anderen Seite in ein besseres Licht rücken und eine gewisse Kontrolle über ihre Darstellung in den Medien ausüben. Mit der Realität habe das alles nichts mehr zu tun, sagt Medienethiker Morris, selbst wenn das gleiche Ereignis an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit tatsächlich stattfinde: „Journalisten dürfen sich einzig und allein nach dem richten, was passiert und nicht nach dem, was hätte passieren können. Das ist die Sache von Romanschriftstellern.“

Natürlich denken viele Redaktionen ähnlich und haben dies auch in ihren Statuten festgehalten. Doch auch hier sieht die Praxis anders aus: „Wir haben einfach nicht die Zeit dazu, uns damit zu befassen, unter welchen Umständen jedes einzelne Bild und jeder eizelne Beitrag entstanden ist“, berichtet ein Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters, die vor einigen Tagen mehr als 900 Fotografien zurück ziehen musste, nachdem der Fotograf der Verfälschung von mindestens zwei Bildern überführt worden war: „Dazu sind es einfach zu viele. Wir müssen darauf vertrauen, dass sich unsere Fotografen, ganz gleich ob fest oder frei, jederzeit an die Standards halten.“

Ob der mittlerweile gefeuerte Fotograf Adnan Hajj dies getan hat, um mehr Bilder zu verkaufen oder die Erwägung hinter den Fälschungen steckte, die Lage dramatischer aussehen zu lassen, als sie auf dem Originalbild tatsächlich erkennbar war, ist offen für Spekulationen – Hajj spricht im Moment nicht mit der Presse. Reuters jedenfalls scheint zu glauben, dass es wirtschaftliche Motive waren: „Drei Raketen sehen besser aus als eine, die auf dem Originalbild nur kaum erkennbar war; und die Aufnahme mit dem Rauch war in der Ur-Version ziemlich flau“, sagt der Mitarbeiter: „Mit großer Sicherheit hätten wir die so nicht gesendet.“

Nach Ansicht von Morris haben Agenturen wie Reuters, AFP oder AP allerdings ein großes Interesse daran, solche Fälle als wirtschaftlich motiviert abzutun:

Diese Agenturen arbeiten sehr viel mit lokalen Kräften, denen vor allem in Situationen wie diesen die Distanz zu den Ereignissen fehlt. Eine gewisse Subjektivität ist im Journalismus unvermeidbar, weil wo wir leben, wie wir leben unsere Sichtweisen beeinflusst. Aber wenn Fotografen aufgrund ihrer eigenen Involvierung in ihrer Arbeit einen bestimmten, selektiven Blickwinkel einnehmen, dann ist das schon der erste Schritt zu einer Verfälschung der Realität.

Roger Morris

Was ihm vor allem Sorgen bereite, seien vor allem jene Halbprofis ohne journalistische Ausbildung, die vor allem in vielen Teilen der Palästinensischen Gebiete zu finden sind:

Das sind Palästinenser, denen Agenturen wie AFP oder Fernsehsender wie der französische TF1 damals Kameras in die Hand gedrückt haben, damit sie Demonstrationen filmen oder fotografieren. Nicht nur, dass dadurch geradezu zwangsweise einseitige Sichtweisen erzeugt wurden, weil diese Leute bei Konfrontationen zwischen Palästinensern und israelischer Armee ausschließlich von der palästinensischen Seite aus filmten oder fotografierten und damit Bilder lieferten, auf denen feuernde Soldaten, aber keine Steine werfenden Palästinenser zu sehen sind. Zudem wird Fälschungen und Inszenierungen Vorschub geleistet.

Roger Morris

Dabei muss kreative Bildgestaltung nicht sein, wie John mittlerweile festgestellt hat: „Nachdem ich erwischt worden bin, habe ich lange über meine Arbeit nachgedacht und festgestellt, dass es nicht meine Aufnahmen selbst, sondern meine Motive und Themen waren, die verkehrt waren. Ich habe von Anfang an immer das gemacht, was alle anderen auch gemacht haben: Ich habe Wahlveranstaltungen, Siedlungen, die Mauer und Demonstrationen fotografiert wie jeder andere auch und gehofft, besser zu sein als alle anderen. Aber um besser zu sein, reicht es nicht, bessere Schüsse zu kriegen, sondern man muss auch bessere Ideen haben. Seitdem bin ich nie wieder dahin gefahren, wo der ganze Club ist und bin jetzt besser im Geschäft als je zuvor.“