Beschleunigung ins Nichts?

Charles Stross und sein Science Fiction- Roman "Accelerando"

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Nachdem es Cory Doctorow vorgemacht hat, ging Charles Stross einen ähnlichen Weg und veröffentlichte einen Roman kurz nach der Printausgabe im Netz. Der Text selbst ist allerdings hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt.

Charles Stross ist im Moment der Wunderknabe der britischen Science Fiction. Bis vor wenigen Jahren nur absoluten Insidern bekannt, hat er in kurzer Zeit für viel Aufsehen gesorgt, nicht zuletzt dadurch, dass seine Arbeiten häufig für wichtige Szene-Preise nominiert werden und oft genug auch gewinnen. Man kann ihn durchaus als einen der Exponenten der jüngsten SF-Renaissance in Großbritannien bezeichnen, die mit Autoren wie China Miéville oder Besuchern aus dem Mainstream wie Kazuo Ishiguro ein bemerkenswertes Potenzial vorzuweisen hat, und zu der auch längst etablierte Schriftsteller wie Geoff Ryman beitragen (zuletzt Gewinner des Arthur C. Clarke Awards mit "Air").

Was Stross allerdings von seinen Kollegen unterscheidet, ist eine Produktivität, die ans Manische grenzt. Seiner Aussage nach sind innerhalb weniger Jahre vierzehn Romane entstanden, von denen sechs bereits veröffentlicht wurden, der Rest ist angeblich unter Vertrag und soll Stück für Stück erscheinen.

Seit der Veröffentlichung der Hardcoverausgabe im Juni letzten Jahres ist einer dieser Romane auch kostenlos online erhältlich, seit März diesen Jahres unter neuer Creative-Commons-Lizenz und in vielen verschiedenen Dateiformaten. Ein zweiter Titel ("Glasshouse") soll bald folgen. Es ist offensichtlich, dass sich Stross mit dieser Publizitätsstrategie an Cory Doctorow orientiert, der seit 2003 downloaden lässt (Aus dem Leben der Stämme). Was die Hauptperson seines Romans angeht, muss er versichern, dass sie nicht nach Doctorow selbst gemodelt ist, sonst könnte man noch auf Ideen kommen.

Denn die Hauptperson von Accelerando ist zunächst Manfred Macx, ein Informationsbroker und -jockey extraordinaire des 21. Jahrhunderts. Manfred Macx hat ein Problem mit dem Konzept des geistigen Eigentums, man könnte sagen, er hasst es geradezu. Ausgestattet mit den letzten (bio-)elektronischen Gadgets jettet er um die Welt, die sein persönlicher Spielplatz ist, und gebiert pausenlos Ideen und Konzepte, die er entweder gleich verschenkt (auf dass andere den Gewinn davon haben) oder patentiert - mit dem einzigen Zweck, diese Patente über Lizenzen nach Art der Creative Commons an die Allgemeinheit weiterzugeben. Leute, die er mit seinen "Ideen reich gemacht" hat, sorgen großzügigerweise für seinen Lebensunterhalt und die Reisespesen. Eine wirkliche Story enthält der Text nicht, denn Stross durchsiebt den Leser geradezu mit Konzepten, Neologismen und Sprüchen, und alle Figuren, einschließlich seines Protagonisten selbst, nutzt er lediglich als Sprachrohre für Diskussionen über Informationsfreiheit, geistiges Eigentum, Bürgerrechte und hippe Fantasietechniologien.

Der freie Download ist insofern die einzige angemessene Veröffentlichungsform für den Roman: Message und Distributionsform sind deckungsgleich. Auch dass in "Accelerando" gar keine Menschen interagieren, ist folgerichtig, das wäre von einem posthumanen Zeitalter ja nur zu erwarten. Macx selbst ist so sehr mit den Geräten verwachsen, die ihm Zugriff auf die Infosphäre gestatten, dass er sich wie gehirnamputiert fühlt, als ihm der Zugriff einmal verlorengeht. Die intelligiblen Wesen in seiner Umgebung sind teilweise noch viel radikaler verdrahtet. Von "Borganisms" ist die Rede. Emergente künstliche Intelligenzen, die auf der neuronalen Struktur von Hummern basieren, spielen eine Rolle (Aliens übrigens auch). Intelligenz kann hochgeladen, runtergeladen, zwischengespeichert werden - ganz wie's beliebt. Tote leben als informationelle Konstrukte weiter, Hive- und Groupminds sind kein Problem. Eigentlich ist das ganze Universum Information, scheint das Credo zu lauten.

In politischer Hinsicht sind die präsentierten Ideen von einer bestürzenden Naivität. Einer von Macx' Verbündeten ist ein italienischer "Kommunist" namens Gianni, der jede Form von Knappheitsökonomie zum Verschwinden bringen will, indem er einfach die Knappheit zum Verschwinden bringt. Ob der enorme verallgemeinerte Reichtum, der dazu nötig wäre, in den Fantastilliarden von Dagobert Duck oder in den gedachten Talern von Kant gemessen wird, bleibt dem Leser überlassen, es handelt sich ohnehin nur um eine Projektion von Manfreds Geschäftsmodell ins Gigantische: "Reichtum durch Ideen", und zwar sofort, ohne Umstände.

Stross bietet alle Scherze des Cyberpunk und der Künstlichen Intelligenz von damals an, als seien sie nie müde geworden an der Realität. Und das fehlt Stross denn auch am meisten: Realität. Er inszeniert ein Kasperletheater des cyberlibertären Posthumanismus, in dem es keine ernsthaften Konflikte, keine Probleme und keinen Schmerz gibt. Tauchen die Urheberrechtsnazis der Phonoindustrie einmal auf, werden sie flugs mit ein paar Tricks und Sentenzen wieder in die Flucht geschlagen. Das Schlimmste, was Macx widerfährt, ist seine Exfrau Pamela, die natürlich Agentin der amerikanischen Finanzbehörden ist und Macx an seine astronomischen Steuerschulden erinnern will - aber gegen die überragende List von Macx kann sie auch nichts ausrichten. Wenn Macx von einem Straßenräuber die Datenbrille gestohlen wird, bekommt er sie bald darauf wieder, denn Annette, Manfreds Geliebte, trifft zuffällig auf den Täter und kauft ihm das Diebesgut einfach wieder ab.

Später geht dieser ganze, allzu leicht durchschaubare Zirkus mit der Tochter von Manfred und Pamela in den Weltraum, Manfred verabschiedet sich komplett aus dem Meatspace etc. etc., aber das spielt grundsätzlich alles keine Rolle. Man bewegt sich in einer Welt der informationellen Allmacht; das will die Zukunft sein und erinnert fatal an damals, als die Nanotechnologie uns alle reich, schön und gesund machte, der lange Boom der Internetwirtschaft nicht endete, und der stückweise Upload des menschlichen Geistes den Tod besiegte. Das ist manchmal ganz amüsant. Stross hat eine blühende, kaum zu bändigende Phantasie, oft kann er mit überraschenden Ideen aufwarten, und er ist ein guter Redner. Aber die grundsätzlichen Schwächen seiner Konstruktion und sein unerträglicher Gadgetismus versetzen dem Text den Todesstoß. Bezeichnenderweise ist er bei Sexszenen am schlechtesten. Dort wirkt er nur noch wie ein technophiler Jugendlicher, dessen feuchte Träume hauptsächlich Erfahrungsarmut transportieren.

"Accelerando" ist Literatur, die von einem Nerd für Nerds geschrieben wurde. Der kostenlose Download, den der Autor anbietet, ist daher auch noch in einer anderen, der entscheidenden Hinsicht angemessen: Als Manifest einer bestimmten Haltung kann man den Text amüsiert zur Kenntnis nehmen, als Roman ist er sein Geld nicht wert.