"Eigentlich sind Kriege heutzutage unbezahlbar geworden"

Im Nahen Osten schweigen seit Montagmorgen die Waffen, aber für wie lange die Waffenruhe halten wird, ist offen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am Montagnachmittag war die Lage im Süden des Libanon und im Norden Israels überwiegend ruhig: Nur vereinzelt feuerten israelische Soldaten und Kämpfer der Hisbollah aufeinander; der Beschuss Israels mit Katjuscha-Raketen hatte schon in der Nacht aufgehört. Im Libanon waren die Kämpfe allerdings bis zur letzten Minute weiter gegangen. Um genau acht Uhr Ortszeit (sieben Uhr MESZ) hatte dann der Waffenstillstand begonnen, den der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach wochenlangem Ringen am Freitag in seiner Resolution 1701 gefordert hatte. Wie lange die Waffenruhe halten wird, ist völlig offen. Denn es liegt noch viel Arbeit vor den Konfliktparteien. Zwar sollen in den kommenden Wochen insgesamt 15.000 UN-Blauhelme in den Süd-Libanon verlegt werden und akzeptierte auch Hisbollah-Chef Scheich Hassan Nasrallah die UN-Resolution. Doch seine Organisation weigert sich, wie von der Resolution gefordert, ihre Waffen abzugeben, und bringt damit die libanesische Regierung in eine missliche Lage: Sie soll Truppen in den Süden verlegen, will dies aber nur tun, wenn die Hisbollah ihre Kämpfer freiwillig entwaffnet. Im Moment herrscht jedoch vor allem Erleichterung.

Aus der Ferne müssen sie ausgesehen haben wie eine riesige Schlange, die sich langsam an all den vielen Hindernissen vorbei kämpfte, den der Krieg in den vergangenen vier Wochen auf den Straßen des Libanon zurückgelassen hat. Aus der Nähe bestand dieses Ungetüm aus Tausenden von Fahrzeugen, die Zehntausende von Menschen zu ihren Häusern im Süden zurückbrachten – zurück zu einer ungewissen Zukunft. „Ich weiß nicht einmal, ob unser Haus noch steht“, sagt ein Mann, der gleich zu Beginn mit seiner Familie zu Verwandten in Beirut geflüchtet war, während er gemeinsam mit anderen Autofahrern versucht, einen ausgebombten Lastwagen an den Fahrbahnrand zu wuchten. Aufräumarbeiten waren in den Wochen der israelischen Luftangriffe oft zu gefährlich gewesen; vieles ist deswegen liegen geblieben.

Mehr als 1.000 Menschen sind in den 34 Tagen der bewaffneten Auseinandersetzung insgesamt ums Leben gekommen; Zehntausende wurden verletzt oder haben ihre Lebensgrundlage verloren. Auf mehr als vier Milliarden Euro schätzt das israelische Finanzministerium die Kosten des Krieges allein in Israel; wie hoch sie im Libanon sein werden, ist nach Auskunft der dortigen Regierung noch nicht absehbar: Die Beseitigung der Kriegsschäden werde wohl rund eine Milliarde kosten. Die große Unbekannte: Der Schaden, den die Wirtschaft auf beiden Seiten genommen hat. „Viele Unternehmen haben über Wochen hinweg nichts verdient, während die Kosten weiter angefallen sind“, sagt eine Sprecherin des israelischen Industrie- und Handelskammer: „Ob sich die Wirtschaft im Norden erholen kann, wird sehr stark von staatlichen Hilfen abhängen.“ Aber woher die kommen sollen, ist unklar. Gemeinsam suchen Finanz- und Verteidigungsministerium geradezu verzweifelt nach Wegen, die immensen Kosten der militärischen Operation zu decken, die bisher weitgehend auf Pump finanziert wurde: „Eigentlich sind Kriege heutzutage unbezahlbar geworden“, heißt es aus dem Finanzministerium. „Wie wir darüber hinaus der Wirtschaft auf die Beine helfen sollen, ist uns allen ein Rätsel.“

Im Norden Israels und im Süden des Libanon wollte daran am Montagmorgen zunächst einmal kaum jemand denken: „Heute feiern wir und hoffen darauf, dass der Krieg nicht wieder von vorne los geht“, war eine Aussage, die auf beiden Seiten immer wieder zu hören war. In vielen Städten im israelischen Norden wagten sich die Menschen zum ersten Mal seit Wochen wieder aus ihren Häusern, kauften ein oder genossen einfach die Ruhe am Strand, im Wald, in einem Straßencafé. Fernseh- und Radiosender hatten in den Morgenstunden spannungssteigernd die Zeit bis zum Beginn des Waffenstillstandes um acht Uhr Ortszeit per Countdown herunter gezählt, so als warte man auf den Beginn des neuen Jahres oder die Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen nach der Parlamentswahl. Doch als es soweit war, gab es keine Feuerwerke, keinen Jubel, sondern einfach nur Ruhe. Ruhe in Israel. Und Ruhe im Libanon. Hatten israelische Soldaten und Hisbollah-Kämpfer miteinander gekämpft, als sei kein Ende in Sicht, schwiegen plötzlich innerhalb von Minuten überall im Süd-Libanon die Waffen. Die letzten Katjuscha-Raketen waren schon Stunden vor der Waffenruhe in Israel eingeschlagen.

In der Theorie haben beide Seiten erreicht, was sie wollten

Es ist allerdings eine äußerst gespannte Ruhe. Die Stellungen von Hisbollah und Armee sind sich oft hautnah – eine gefährliche Mischung, weil jeder noch so kleine Schritt zum Wiederausbruch des Krieges führen kann. Von Zeit zu Zeit reißen dem Einen oder Anderen die Nerven, ist ein Finger etwas zu nervös, entlädt sich eine Waffe, entsteht ein Feuergefecht. Doch noch sind die Führungen beider Seiten fest dazu entschlossen, sich nicht hinreißen zu lassen. Langsam haben beide Seiten bereits kurz nach dem Beginn des Waffenstillstandes damit begonnen, ihre Fronten auszudünnen. Denn weniger Soldaten oder Kämpfer bedeuten in einer solchen Situation weniger Risiko, sagt ein Offizier.

In der Theorie haben beide Seiten erreicht, was sie wollten. Die Hisbollah, deren Fähigkeiten in Israel Politik, Militär und Öffentlichkeit gleichermaßen überrascht haben, hat es geschafft, der Armee unerwartet schwere Verluste zuzufügen. Die israelische Regierung hat derweil, auf dem Papier zumindest, die Verlegung von Blauhelm-Soldaten und libanesischen Truppen in den Süden des Zedernstaates, sowie die Forderung der UN nach einer Entwaffnung der Hisbollah und der Einrichtung einer entmilitarisierten Zone südlich des rund 20 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Flusses erreicht. Sobald die aufgestockte UNIFIL-Truppe ihre Arbeit aufgenommen hat, will die Militärführung sämtlich Truppen bis auf die „Blaue Linie“ zurückziehen, jene Grenze zwischen Israel und dem Libanon, den die Vereinten Nationen nach dem israelischen Abzug im Sommer 2000 als internationale Grenze zwischen beiden Ländern festgelegt hatten. Ob daraus aber jemals etwas werden wird, ist am Montag völlig unklar.

Denn zwar hatte Scheich Hassan Nasrallah, Anführer der Hisbollah, die UNO-Resolution in einer Fensehansprache am Samstag Abend begrüßt. Aber eine Entwaffnung, wie sie die Resolution fordert, lehnt seine Organisation ab: Man werde den Kampf gegen Israel fortsetzen, so lange sich noch ein israelischer Soldat auf libanesischem Boden befindet – und dazu zählen gemäß der Lesart der Hisbollah auch die Scheba-Farmen, die nach Ansicht der UNO syrisches Territorium sind.

So bahnt sich, während die Menschen auf beiden Seiten versuchen, wenigstens einigermaßen zur Normalität zurückzukehren, die erste große Krise nach dem Waffenstillstand an: Hatte die libanesische Regierung, in der auch Minister der Hisbollah vertreten sind, am Sonntag noch, zwar mit Vorbehalten, aber dennoch einstimmig der Resolution zugestimmt, wird am Montag Morgen ein tiefer Riss erkennbar. Nachdem sich die Hisbollah weigert, ihre Kämpfer freiwillig zu entwaffnen, sagt Premierminister Fuad Siniora eine weitere Kabinettssitzung ab. Man werde nur Truppen in den Süden entsenden, wenn die Hisbollah zuvor ihre Waffen nieder lege, erklärt Tourismusminister Joe Sarkis am Mittag in einem Interview mit dem Nachrichtensender Al Dschasira und rief die Organisation dazu auf, ihre Waffen abzugeben: „Hisbollah muss die Situation entschärfen und die einstimmige Entscheidung des Kabinetts akzeptieren, Resolution 1701 zu unterstützen. Der Wortlaut ist klar: Die libanesische Armee kann keine Truppen in den Süden verlegen, bis sich Hisbollah zurückzieht und ihre Waffen abgibt, oder wenigstens ihre Waffen aus der Region beseitigt.“

Eine Situation, die schnell zu einem Dominoeffekt werden könnte: Ohne Entwaffnung keine libanesischen Truppen; ohne libanesische Truppen keine UNIFIL-Soldaten; ohne UNIFIL-Soldaten kein Abzug des israelischen Militärs. „Man kann nicht von uns erwarten, dass wir zum Status quo ante [der vorherigen Situation, d.A.] zurückkehren“, sagt ein israelischer Regierungssprecher: „Wir haben das alles nicht auf uns genommen, damit die Hisbollah den Menschen im Norden auch künftig auf der Nase herum tanzen kann.“

Und in der Partei von Premierminister Ehud Olmert, der im vergangenen September von Ariel Scharon gegründeten „Kadima“, sprechen immer mehr davon, dass der Waffenstillstand zum derzeitigen Zeitpunkt ein Fehler war - „wie so vieles andere auch in diesem Krieg“, sagt die Abgeordnete Marina Solodkin: „116 israelische Soldaten sind in den vergangenen vier Wochen gefallen. Wenn die Hisbollah nun die Gelegenheit bekommt, ihre Reihen zu schließen und sich neu zu organisieren, wird ihr Opfer vergebens gewesen sein. Wir sind wieder genau dort, wo wir angefangen haben.“

Eine Meinung, die zur Zeit viele teilen. Manche Abgeordnete von Kadima und Arbeiterpartei, der wichtigsten Koalitionspartnerin Olmerts, suchen bereits nach geeigneten Nachfolgern für den Premierminister und seinen Verteidigungsminister Amir Peretz. „Vor allem Olmert hat uns bewiesen, dass es immer einen Grund dafür gibt, dass jemand die Nummer Zwei ist“, sagt einer der Abgeordneten: „Wenn wir verhindern wollen, dass die Partei den schnellen Tod stirbt, müssen wir schnell einen Ersatz finden.“ Auch aus anderen Fraktionen wird nach dem Rücktritt der beiden gerufen: „Das Volk wurde enttäuscht und belogen“, sagt Zehawa Gal-On vom linksliberalen Meretz / Jachad-Block. Und Benny Elon von der rechtsextremen Nationalen Union fordert „persönliche Konsequenzen“: Es habe Notfallpläne für den Fall einer Eskalation im Norden gegeben, die niemals umgesetzt worden seien.

So bemühen sich Olmert und Peretz am Montag darum zu retten, was zu retten ist: Auf keinen Fall werde man es der Hisbollah erlauben, sich neu zu organisieren, sagt der Regierungschef vor dem Parlament: „Wir werden die Anführer der Hisbollah jagen, egal wo, egal wann.“ Die Organisation sei „geschlagen“, nicht länger ein „Staat im Staat“: „Der Krieg hat die strategische Balance gegen die Hisbollah gewendet. Ihr langfristigen Fähigkeiten ihr Arsenal und ihr Selbstvertrauen sind geschwächt.“

Im Libanon ist davon allerdings nicht viel zu spüren: Die Hisbollah schreibt sich den Waffenstillstand ebenfalls als Sieg für sie selbst auf die Fahnen und lässt sich von ihren Anhängern feiern. Man habe der israelischen Armee bittere Verluste zugefügt und gezeigt, dass sie nicht unverwundbar ist.

Doch bei den meisten Menschen herrscht am Montag vor allem Erleichterung, die oft mit Trauer und Entsetzen durchsetzt ist. Am Nachmittag treffen die ersten Rückkehrer im Süd-Libanon ein, und nicht wenige müssen feststellen, dass ihre Häuser nicht mehr stehen, dass Nachbarn umgekommen sind, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Im Norden Israels bereiten sich derweil Unternehmen darauf vor, wieder die Arbeit aufzunehmen, während sich vielerorts die Straßen schon früh wieder leeren: In den vergangenen 34 Wochen haben die Menschen hier nur wenig Schlaf gefunden, und möchten die Ruhe deshalb für eine lange Ruhepause nutzen – man kann nie wissen, wieviel Zeit dazu bleibt.