Israel-Lobby in den USA

Der amerikanisch-israelische Komplex - Teil 2

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Die Politik der einseitigen Schritte, die Israel in Gaza, im Westjordanland und im Libanon unternimmt, verstört zunehmend Freunde, Partner und enge Verbündete. Der Wille zur uneingeschränkten Solidarität mit dem Mittelmeerstaat schwindet. Zusehends. Nicht nur in Europa, wo höchstens noch das politisch offizielle Deutschland das Land aus begreiflichen historischen Gründen bedingungslos unterstützt und jede Verurteilung durch die EU blockiert. Sondern auch in den USA, wo jüngst die „special relationship“ mit dem jüdischen Staat infrage gestellt wird und eine Kontroverse über Kosten und Nutzen ihres Engagements entbrannt ist.

Je mehr die Macht sich an einer bestimmten Stelle, bei einem bestimmten Menschen oder eine Gruppe von Menschen wie in einer Spitze konzentriert, umso mehr verschärft sich das Problem des Korridors und die Frage des Zugangs zur Spitze. Umso heftiger, verbissener und stummer wird dann auch der Kampf unter denjenigen, die den Vorraum besetzt halten und den Korridor kontrollieren.

Carl Schmitt

Die Israel-Lobby

Der unberechenbare Unilateralismus Israels schade den „politischen und strategischen Interessen der Supermacht“, sie produziere Instabilität in dieser Weltgegend, gefährde die Sicherheit der USA und gebe dem Terrorismus ständig neue Legitimation. Nichts verpflichte die USA „zur bedingungslosen Unterstützung Israel“, so „tragisch die Geschichte des jüdischen Volkes auch verlaufen“ sei.

Die das schreiben und für reichlich Zündstoff und hitzige Debatten in den USA sorgen, sind Stephen M. Walt und John Mearsheimer (The Israel Lobby and US-Foreign Policy). Beide gelten als höchst angesehene Spezialisten für Fragen der Internationalen Politik, der eine in Harvard, der andere in Chicago; und beide gehören der „realistischen“ Denkschule an, das heißt: Sie beurteilen die Außenpolitik nicht nach moralischen Kriterien, sondern betrachten sie von (nationalen) Interessen geleitet aus dem Blickwinkel der Macht und ihrer gekonnten Ausbalancierung. Insofern stehen sie jedem neokonservativen „Wilsonianismus“, ob er sich „realistisch“ oder „idealistisch“ definiert, äußerst reserviert und skeptisch gegenüber.

Was die Gemüter hingegen erregt, ist weniger ihr lautes Nachdenken über Wert oder Unwert dieser „bedingungslosen Loyalität“ Amerikas zu Israel, als vielmehr die Erklärung, die die beiden Politikwissenschaftler dafür anbieten. Dass die USA sich uneingeschränkt zu ihr bekennt, und zwar auch dann noch, wenn es ihren Interessen zuwiderläuft, liegt nach Ansicht der beiden Autoren vor allem an der Existenz der so genannten „Israel Lobby“.

Laut Mearsheimer/Walt handelt es sich bei ihr um einen „lockeren Verbund“ verschiedener Organisationen und Personen, deren mächtigster und einflussreichster Arm das American-Israel Public Affairs Committee (AIPAC) ist. Laut den Detroit Jewish News gilt AIPAC unter Insidern als „echtes Trainingscamp für Mitarbeiter des Capitol Hill“. Bei einem Ranking, das sowohl das US-Magazin „Fortune“ als auch das „National Journal“ über die stärksten Lobbys in den USA aufgestellt haben, belegt die Organisation den zweiten Platz, sogar noch vor der mächtigen National Rifle Association (NRA).

Auffallend ist, dass fast alle ihre Vertreter enge Beziehungen zum Likud und dessen neo-kolonialer Expansionspolitik unterhalten. Und auffallend ist auch, dass ihr Einfluss sich nicht auf eine Partei oder eine Regierung erstreckt. Im Visier und auf der Förderliste von AIPAC stehen Abgeordnete beider US-Parteien, Demokraten wie Republikaner.

Juden und Nicht-Juden

„Loser Verbund“ meint in diesem Fall, dass die „Israel Lobby“ keine einheitliche Bewegung darstellt. Weder wird sie von einem zentralen Kopf geführt noch ist sie „konspirativ“ oder als leninistischer „Kader“ tätig. Genau genommen handelt es sich um ein Bottom-Up Unternehmen, das aus mehreren Dutzend jüdischen Organisationen besteht und versucht, nachhaltigen Einfluss auf politische Entscheidungen von Senat, Kongress und Regierung zu nehmen. Dabei operiert sie nicht anders als andere Pressure Groups auch. Sie sucht die „Vorzimmer der Macht“ und nutzt dabei jenen Vorraum oder „Korridor“, den die „arcana imperii“ des modernen Staates allen Gruppen zum Antichambrieren bieten.

Darüber hinaus vertritt die „Israel-Lobby“ nicht unbedingt die Interessen aller jüdischen Amerikaner. Auch stimmen nicht alle Mitglieder uneingeschränkt mit ihrer Agenda überein. Andere pro-israelische Gruppen, wie Peace Now, sind zahlenmäßig vielleicht größer, aber längst nicht so einflussreich wie beispielsweise AIPAC. Dafür kann die „Israel-Lobby“ aber auf prominente Evangelisten zählen, religiöse Eiferer, die an die biblische Prophezeiung der Wiedergeburt eines jüdischen Groß-Palästinas glauben.

Folgt man einer Fußnote in Gilles Kepels und Jean-Pierre Milellis Buch: „Al Qaida. Texte des Terrors“, dann glauben etwa 50 Millionen Gläubige (so viele Glaubensbrüder vertreten die protestantischen Kirchen in den USA), dass die Gründung eines Judenstaates auf dem Boden Palästinas notwendige Voraussetzung für die Wiederkehr des Messias ist. Stellt man in Rechnung, dass sich auch George W. Bush zu den evangelikalen Christen zählt, dann kann man sich ausmalen, welchen Einfluss christliche Fundamentalisten auf die derzeitige Führung besitzen.

Neocons mischen mit

Zur „Israel-Lobby“ gehören aber auch „neokonservative“ Missionare, Richard Perle, Douglas Feith und Paul Wolfowitz etwa, aber auch Publizisten wie John Will und Charles Krauthammer, der derzeitige UN-Botschafter John Bolton oder die ehemalige Botschafterin Jeane Kirkpatrick. Im Prinzip haben wir es mit dem Who’s who des derzeitigen US-Neokonservatismus zu tun. Ihr Einfluss auf die US-Außenpolitik, und da vor allem auf die Nahostpolitik von George W. Bush, ist unbestritten. Bekannt sind die viel diskutierten „Wolfowitz-Papers“ von 1991, die post Nine-Eleven Eingang in die „Bush-Doktrin“ gefunden haben.

Weniger bekannt ist dagegen ein Strategiepapier, das Richard Perle, Douglas Feith und David Wurmser im Juni 1996 für den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Nethanjahu verfasst haben. Darin fordern sie den Regierungschef auf, Saddam Hussein möglichst bald zu stürzen, den gesamten Mittleren Osten neu zu ordnen und das „neue Reich“ mit einer klugen Bündnispolitik mit der Türkei und Jordanien politisch zu stabilisieren und abzusichern (A Clean Break for Securing the Realm). Die Parteinahme für die Belange Israels ist so groß und offensichtlich, dass selbst ein Kolumnist der israelischen Zeitung „Ha’aretz“ die Politberater schon mal als Leute bezeichnet hat, die „sich hart an der Grenze zwischen ihrer Loyalität zur US-Regierung und israelischen Interessen bewegen“.

Und selbstverständlich kann die „Lobby“ auch auf eine Vielzahl von Medien und Instituten zurückgreifen, die ihren Standpunkt in der Öffentlichkeit offensiv vertreten. Neben politisch einflussreichen Magazinen wie dem Commentary, der New Republic und dem Weekly Standard zählen dazu auch Tageszeitungen wie das Wall Street Journal, die New York Sun oder die Washington Times sowie renommierte „Denkfabriken“ wie The Project for a New American Century, das American Enterprise Institute, das Brookings Institute und die Heritage Foundation – im Prinzip alles mehr oder weniger Hoch- und/oder Trutzburgen der „neokonservativen Bewegung“.

Höchst effektiv

Auf den ersten Blick unterscheidet sich deren politische Arbeit kaum von der anderer „Drückergruppen“. Was die „Israel-Lobby“ aber vor allen anderen auszeichnet ist, dass sie sich a) ausschließlich um die Außenpolitik der USA kümmert, und dass sie b) weit erfolgreicher agiert als alle anderen. Anders als etwa die Textil-, Stahl- oder Öl-Lobby, oder andere ethnische Lobbys wie die kubanische, hispanische Gruppe oder Moslemgruppen, kann sie mit einer mächtigen „Waffe“ aufwarten, die keine andere Pressure Group besitzt: den Vorwurf des „Antisemitismus“. „Jeder“, schreiben Mearsheimer/Walt, „der Israels Politik oder den übergroßen Einfluss pro-israelischer Gruppen auf die Nahostpolitik der USA kritisiert, hat eine gute Chance, mit diesem Label bedacht zu werden.“ Und weil diese „Taktik höchst effektiv ist, möchte auch keiner des Antisemitismus angeklagt werden.“

Im Grunde verfolgt die Lobby nur zwei Ziele: sie übt gezielt Druck auf den Kongress und andere Exekutivorgane in Washington aus, und sie versucht durch gezielte Aktionen sicherzustellen, dass die Politik Israels in einem für das Land positiven Licht erscheint. Um sie zu erreichen, nutzt die „Israel-Lobby“ die ganze Palette, die westliche Demokratien bieten: Sie startet Kampagnen, organisiert Demonstrationen, formuliert Boykottaufrufe oder schwärzt Leute an, die sich in Medien, Hörsälen oder bei anderen öffentlichen Auftritten wiederholt negativ über Israel äußern.

Die Website Campus Watch bietet Nutzern eine Plattform, auf der missliebige Äußerungen von Akademikern gesammelt und Dossiers über Personen angelegt werden, die sich anti-israelischer Äußerungen verdächtigt gemacht haben. Mittlerweile hat Daniel Pipes, Verantwortlicher der Seite, sich zu den Vorwürfen geäußert (Is Campus Watch Part of Conspiracy) und sie weit von sich gewiesen. Weder erhalte er Befehle von irgendeiner Lobby noch fordere er zur Denunzierung auf. Das hatte aber auch keiner behauptet.

Korridore der Macht

Das Hauptaugenmerk der Lobby gilt aber dem Kongress, darauf, eigene oder Israel wohl gesonnene Leute an politisch wichtige Schnittstellen zu bringen. Das kann so weit gehen, dass Wahlkämpfer, die um einen Sitz im Kongress ringen, verlieren, wenn sie sich zu Israel kritischen Äußerungen hinreißen lassen; es kann aber auch heißen, dass ehemalige Mitarbeiter von AIPAC in einflussreiche Positionen gebracht werden und gezielt verhindert wird, dass Israelkritiker einen hoch dotierten Job bekommen. Viel Mühe wird auch darauf verwendet, dass die brutale Unterdrückung und Diskriminierung arabischer Israelis und Palästinenser in den heimischen Medien visuell viel weniger präsent ist als in Europa.

Relativ gut dokumentiert ist die Irak-Kampagne, die maßgeblich von den Neokonservativen in der Regierung angezettelt worden ist und den Walt/Mearsheimer schon im Vorfeld in „Foreign Affairs“ als „An Unnecessary War“ (http://www.mtholyoke.edu/acad/intrel/bush/walt.htm) bezeichnet haben. Gut dokumentiert ist auch der Versuch der „Neocons“, die militärische Neuordnung des Nahen Ostens voranzutreiben und nach Bagdad auch Damaskus (Is Syria Next). und Teheran (First Stop Syria; Next Stop Iran) ins Visier zu nehmen.

Schwieriger gestaltet sich der Versuch, den überraschenden Richtungswechsel der Bush-Regierung im Sommer 2002 auf die Linie Sharons zu belegen. Bekanntlich beabsichtigte Bush noch Anfang des Jahres, Israel zu zwingen, eine „Zweistaatenlösung“ zu akzeptieren und sich peu à peu aus den Siedlungsgebieten zurückzuziehen. Ziel der US-Regierung war es, dem grassierenden Antiamerikanismus in der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen. Umfragen signalisierten dem Weißen Haus, dass eine große Mehrheit der US-Bevölkerung eine solche Lösung befürworten würde – auch unter Entzug finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe für Israel. Überraschend knickte die Bush-Administration nach kurzer Zeit wieder ein. Zurückgeführt wird das auf Sharon, der mit tatkräftiger Hilfe der „Israel-Lobby“ umgehend nach Washington geeilt war, die US-Regierung des „Appeasements“ bezichtigt, ihre Politik mit der britischen Hitler gegenüber verglichen und Yassir Arafat mit Osama bin Laden gleichgesetzt hatte.

Alter Hut

Neu ist diese ganze Diskussion nicht. Vier Jahre zuvor hatte sich Michael Mansing (The Israel Lobby), Mitherausgeber der Columbia Journalism Review und Mitglied des Committee to Protect Journalists mit einem kurzen Artikel in „The Nation“ über die Umtriebe der „Israel Lobby“ öffentlich beklagt. Und auch Michael Lind, ehemaliger Herausgeber des „National Interest“, wies in der April-Ausgabe des „Prospect“ (The Israel Lobby) auf den starken Einfluss dieser Lobby hin und hat sie mit ausgewählten Beispielen untermauert (eine deutsche Übersetzung findet sich in der 06/2002 Nummer der „Blätter für deutsche und internationale Politik“.

Habe die Carter-Administration Mitte der 1970er die israelischen Siedlungen noch als „illegal“ bezeichnet, seien sie für Ronald Reagan eine Dekade später nur noch ein „Hindernis“ auf dem Weg zum Frieden gewesen, während sie für die jetzige Regierung allenfalls noch als ein Faktor gelten, der die Sache „verkompliziere“. Bush senior war danach der letzte US-Präsident, der es gewagt hat, sich öffentlich über die Arbeit der „Israel-Lobby“ zu beklagen. „Auf dem Capitol Hill sehe er sich 1000 Lobbyisten gegenüber“, so Bush im September 1991, die den Kongress „zu weit reichenden Garantien für Israel drängen“, wohingegen er offensichtlich der einzige sei, der die Abstimmung darüber um „vier Monate aufschieben“ möchte.

Zwar hält Lind die Lobby nicht für allmächtig, aber doch für so einflussreich, dass sie die Interessen der USA und ihrer Verbündeten im Nahen Osten nachhaltig schädigt. Sicher sei aber, so Lind, dass die „Israel-Lobby“ längst mehr Einfluss und Druck auf den Präsidenten ausübe als die Öl-Industrie.

Wenig Aufregung

Auch wenn die markigen Worte nicht kommentarlos blieben, so erstaunt doch im Nachhinein, wie wenig Aufregung die Anschuldigungen hervorriefen. Nur der „Economist“ (No schmooze with the Jews) sah sich zu einem kritischen Kommentar genötigt. Der Autor dieser Zeilen dementierte zwar nicht die Vorwürfe, betonte aber die gemeinsamen Werte zwischen den beiden Nationen und wies darauf hin, dass Ronald Reagan noch in den 1980er Jahren die Saudis mit Awacs-Maschinen beliefert hat, und zwar gegen den erbitterten Widerstand von AIPAC.

Erst in der September-Ausgabe des „Prospect“ bezog Adam Garfinkle (The Israel Lobby part II), der Lind einst protegiert hatte, Stellung. Weder bestritt er die Existenz einer solchen Lobby, noch leugnete er ihren „mäßigenden Einfluss“ auf die US-Außenpolitik. Jedoch machte er auch deutlich, dass dieser „vorbehaltlose Einsatz für Israel sich mit den Interessen Amerikas decke und genau aus diesem Grund geschehe.“

In der darauf folgenden Ausgabe verteidigte Lind nochmals seine Haltung. (The Israel Lobby part 3). Er erneuerte seine Vorwürfe und zeigte sich tief bestürzt über den radikalen Wechsel, den die Bush-Regierung seit Erscheinen seines Textes und der Kritik Garfinkles an ihm in der Palästinenserfrage vollzogen habe. Für diesen Schwenk machte er große Geldbeträge verantwortlich, die Mitglieder oder Zuträger der Lobby an Liberale und Konservative gespendet hätten. Beweise für diese Behauptung konnte er aber nicht liefern. Tatsache ist aber, dass die Abstimmungen im Senat und im Kongress überaus eindeutig pro Israel ausgefallen sind. Am 2. Mai stimmten der Senat mit 94 zu 2 und der Kongress mit 352 zu 21 Stimmen dafür, die militärischen Aktionen, die Sharon gegen die Palästinenser, Arafat und dessen Behörde unternahm, vorbehaltlos zu unterstützen. Wenn das „mäßigender Einfluss“ sei, dann würde er, Lind, von Garfinkle gern wissen, wie „starker Einfluss“ aussähe. Die Führerschaft Amerikas sei jedenfalls in großer Gefahr, sollte es der Lobby gelingen, die US-Politik auf diese Weise und in diesem Maße zu manipulieren.

Antisemitische Keule

Angesichts der Vorgeschichte verwundert es, warum ausgerechnet das „Arbeitspapier“ von Mearsheimer/Walt eine solche Welle der Empörung in den USA und anderswo ausgelöst hat. Von einer „aufrichtigen Debatte“, die sich die beiden erhofft hatten, konnte jedenfalls im Frühjahr nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Statt über den Einfluss der Lobby und die strategischen Interessen der USA „offen“ zu diskutieren, kam es nur zu „wütenden“ Attacken und Reaktionen, die teilweise „hysterische Züge“ (Noam Chomsky) annahmen und wie eine Bestätigung des Gesagten wirkten. Wer die Politik Israels öffentlich kritisiert, läuft Gefahr, mit der Keule des Antisemitismus bedacht zu werden.

Nachdem das Papier auf der Website der John F. Kennedy School of Government in Harvard erschien, beschwerten sich umgehend Geldgeber und Alumni. Sie drohten, ihre Unterstützung für die Schule einzustellen. Die Universität entfernte danach auch umgehend das Zeichen der „Kennedy School“ von der Webseite und erklärte damit das Papier zur Privatmeinung der beiden Wissenschaftler. Gleichzeitig fegte ein „Feuersturm“ der Entrüstung über die beiden Autoren hinweg. Organisationen und Publizisten wie Christopher Hitchens oder Max Boot nannten die Äußerungen „geschmäcklerisch“ und „konspirativ“, „kühn“, „verrückt“ und, im Kern, „anti-semitisch“.

Bisweilen nahm die Auseinandersetzung gar groteske Züge an. Eliot A. Cohen, Politprofessor an John Hopkins Universität und Erfinder der Idee vom „Vierten Weltkrieg“, räsonierte in der Washington Post (Yes, It’s Anti-semitic) über den Militärdienst seines Sohnes im Irak, statt sich mit dem Inhalt des Papiers ernsthaft auseinanderzusetzen. David Gergen, Leiter des US News & World Report, zeigte sich tief schockiert über die Äußerungen (An Unfair Attack) und meinte, dass er während seiner gesamten Tätigkeit im Oval Office niemals erlebt habe, dass eine Entscheidung pro Israel gegen US-Interessen verstoßen habe. Mit Ausnahme von Richard Nixon, der schon mal „schreckliche Dinge über die Juden“ verlauten ließ, könne er sich nicht erinnern, dass „jemals ein Präsident von einer ‚Israel Lobby’ geredet hätte.“

Alan Dershowitz, Anwalt und Mitglied der „Israel Lobby“, wiederum verfasste sofort einen ellenlangen Text (Debunking the Newest - and Oldest - Jewish Conspiracy), in dem er den Autoren vorwarf, bei ihren Recherchen von rechtsradikalen Webseiten abgeschrieben zu haben. Einen Beweis lieferte er zwar nicht. Es genügte ihm aber, dass sie mittlerweile sogar von David Duke, dem Führer des Ku-Klux-Klans, und anderen Rechtsextremisten zitiert würden. Und auch Noam Chomsky (The Israel Lobby?), der Mearsheimer/Walt für ihre Haltung zunächst lobte, überzeugte die Behauptung nicht sonderlich. Stattdessen warf er ihnen vor, mit ihrer Argumentation die US-Regierung ihrer Verantwortung zu entheben und die Tätigkeit der saudischen Lobby und die der Öl-Industrie dabei vollkommen auszublenden.

Interessanterweise enthielten sich Mainstream-Medien wie die New York Times oder andere renommierte Politmagazine wie der Atlantic Monthly eines kritischen Kommentars oder einer luziden Stellungnahme. Letztere hatte eine Publizierung des Essays gar verweigert, weswegen der Aufsatz (wie schon der Michael Linds) in einem britischen Magazin, der „London Review of Books“, als „Arbeitspapier“ erschien. In einer Stellungnahme für die jüdische Zeitschrift „Forward“ hat Mearsheimer jüngst gemeint, dass „die Israel-Lobby so mächtig sei, dass es ihm und seinem Mitverfasser Walt niemals gelungen wäre, den Text in einem US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin unterzubringen.“

Deutsche Reflexe

Auch in Deutschland zollte man dem Papier breite Aufmerksamkeit. Spiegel Online warf den Autoren vor, nur Krawall zu schlagen. Ihre „wenig subtilen“ Anschuldigungen stützten sich „fast durchweg auf Sekundärquellen“, die „eher schlampig übers Internet zusammengestellt scheinen“. Im Prinzip unterscheide „sich ihr Paper kaum von früheren Polemiken […], die einschlägige links- und rechtsradikale Kreise seit Jahren ins Netz stellen.“ (Antisemitismus-Verdacht im Elfenbeinturm. Die taz (Simple Minds) wiederum bediente sich bei Leo Strauss. Getreu seinem Diktum vom exoterisch-esoterischen Wissen fahndete sie akribisch nach antisemitischen Untertönen im Text. Und natürlich wurde sie fündig. Die Rede von der „Israel Lobby“, schreibt der Wiener Adornit Robert Misik, spiele „natürlich auf die Mutter aller Verschwörungstheorien an: auf die des kosmopolitischen Juden, der, wo immer er sich befindet, alles tut, dass die Juden herrschen und die armen Nichtjuden unterdrückt oder ausgebeutet werden“. Hinter der These, „dass die US-Außenpolitik die Interessen eines anderen Staates über die eigenen Sicherheitsinteressen“ stelle, erkenne er „das Klischee vom vaterlandslosen Juden“. Und wenn Mearsheimer/Walt schreiben, Israel verhalte „sich wie ein illoyaler Alliierter“, dann erinnere ihn das „ein wenig an den verräterischen Juden“.

Schließlich zeigten sich auch die Züricher Weltwoche (Gedankengebäude zum Weißen Haus) und der Berliner Tagesspiegel (Die USA, die Israel-Lobby und der Rest) von den Vorwürfen unangenehm berührt. Wollte diese, was die Faktenlage angeht, etliche „Schwachstellen“ erkennen, nahm jener darin nur „eine obskure amerikanische Debatte“ wahr, die „Altbekanntes zusammentrage“ und sich einer „raffiniert simplen“ Technik bediene.

Nur Die Zeit (Israels Lobby und Amerikas Interessen) berichtete relativ unaufgeregt und nüchtern über den Text. Sie zeichnete die Argumentation nach, kritisierte die übliche Haltung „publizistischen Wegschauens“ sowie „den wohlfeilen Vorwurf des Antisemitismus und den der opportunistischen wissenschaftlichen Schludrigkeit“. Dagegen lobte sie den Mut der Autoren, auch unangenehme Wahrheiten auszusprechen und damit an „einem Tabu“ zu rütteln.

Die Debatte hebt an

Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als ob keiner öffentlich Partei für die beiden Autoren ergreifen wollte. Und auch die beiden heftig Gescholtenen zogen es erst mal vor zu schweigen und der Devise zu folgen, dass Kritik häufig mehr über die Kritiker als über den oder die Kritisierten aussagt.

Es war der Historiker Tony Judt, der als erster die Mauer des Schweigens in den Mainstream-Medien durchbrach und den beiden Wissenschaftlern zur Seite sprang. In der „New York Times“ (A Lobby, not a Conspiracy) forderte er die Öffentlichkeit zu einer „redlichen Debatte“ über den Gegenstand auf. Ihr viel sagendes Schweigen deutete er als Angst, öffentlich als „Antisemit“ gebrandmarkt zu werden. Er sah eine Art von „Selbstzensur“ am Werk, was schlimm für beide Nationen sei. Er zitierte Tom Segev und Daniel Lévy (So pro-Israel that it hurts), die den Einfluss der Lobby als schädlich für ihr Land bezeichnet haben und den Einwurf als „Weckruf“ für beide Nationen verstanden wissen wollten. Zumal das Gedenken an den Holocaust nach und nach verblasse und die Zukunft, etwa in Fernost, andere und neue Herausforderungen bereithalte. Künftigen Generationen in Asien, Lateinamerika oder Europa werde später nur schwer zu vermitteln sein, warum eine imperiale Macht wie die USA so lange und bedingungslos an diesem kleinen und „umstrittenen Mittelmeerstaat“ festgehalten, den Kontakt mit dem Rest der Weltgemeinschaft dadurch vernachlässigt und ihr eigenes Ansehen in der Welt so nachhaltig geschädigt hätten.

Ein paar Wochen später publizierte auch der „New Yorker“ einen Aufsatz von Michael Mansing (The Storm over the Israel Lobby), in der er seine Vorwürfe von vor vier Jahren (The Israel Lobby) wiederholte und ergänzte. Neu und interessant daran ist, dass er Aufbau und Struktur von AIPAC und anderer Organisationen wie die Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, die zwar weniger bekannt, aber nicht minder einflussreich ist, genauer beleuchtet und ihre Aktivitäten penibel nach- und aufzeichnet. Wo Mearsheimer/Walt noch weitgehend auf Sekundärliteratur zurückgreifen, liefert Mansing Insiderwissen, das er eigenen Angaben zufolge durch die Befragung etlicher Lobbyisten und Sponsoren, aber auch von Kritikern und Kongressbeamten erhalten hat.

Schlagkräftige Truppe

Danach kann AIPAC sich auf eine staatliche Zahl von rund 100.000 Aktivisten stützen. Geführt werden sie von neun Regional- und zehn mobilen Büros sowie einer hundert Mann starken, hoch professionell arbeitenden Gruppe aus Forschern, Analysten und Publizisten. Für ihre Arbeit steht ihr ein jährliches Budget von knapp 50 Millionen Dollar zur Verfügung. Jedes Jahr veranstaltet sie ein rauschendes Ballfest in Washington, zu dem sie Eliten aus Politik, Wirtschaft und Showbusiness lädt und das drei Tage dauert.

Am 2. März diesen Jahres traten zum Beispiel Dick Cheney, John Bolton oder Newt Gingrich auf. Während ihrer Reden wurden handsignierte Bücher von Natan Sharansky (Außenpolitische Einflüsterer) verteilt. Am Tag drauf wurde auf dem Capitol Hill heftig Werbung für The Palestinian Anti-Terrorism Act of 2006 gemacht, der Restriktionen für die Hilfe und den Kontakt mit Palästinensern vorsieht. Während all der Reden und Meetings flimmerten auf riesigen Filmwänden Videoclips mit Reden von Adolf Hitler und Mahmud Ahmadinedschad, in denen sie zur Zerstörung des Staates Israels aufriefen. Die Bildershow endete mit einem Rückblick auf den Holocaust und dem Aufruf „Nie wieder!“

Auch wenn die meisten amerikanischen Juden für einen Palästinenserstaat und den israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten sind, gibt AIPAC vor, die Interessen aller zu vertreten. Das Exekutivkomitee, das alle jüdischen Gruppen vertritt, hat in aller Regel wenig Einfluss. Macht hat demnach allein das etwa 50-köpfige Direktorium, das von Geldgebern und Geldeintreibern besetzt wird, von Anwälten, Geschäftsleuten, reichen Erben und Wall Street Investoren. Innerhalb des Ausschusses agiert eine Gruppe von Superreichen, die als „Minyan Club“ bekannt ist, und von vier Männern, der „Gang of Four“, dominiert wird: Robert Asher, einem Geschäftsmann aus Chicago; Edward Levy, einem Immobilienmakler aus Detroit; Mayer Mitchell, einem Materialhändler aus Alabama; und Larry Weinberg, einem Grundstücksmakler aus Los Angeles und früheren Besitzer der Portland Trail Blazers.

Schlüssel ihres Erfolges ist „Geld“. Interessant ist, dass Demokraten häufiger in den Genuss pro-israelischer Dollars kommen als Republikaner. Laut Mansing steht auch Hillary Clinton, die mögliche nächste Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, auf der Gehaltliste von AIPAC. Augenscheinlich wurde das, als sie sich in New York um einen Sitz im Senat bemühte. Um die jüdischen Stimmen zu bekommen, bezeichnete sie „Jerusalem als ewige und unteilbare Hauptstadt Israels“ und machte sich für eine Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem stark.

Wie allerdings die „Lobby“ mit diesen Beträgen umgeht, auf welchen Kanälen sie fließen und wie Kongressabgeordnete damit bedacht werden, damit sie pro Israel abstimmen oder jede Israel feindliche Resolution im Keim ersticken, kann jeder selbst nachlesen. Die Geschichte, auch die der „Hintergrundgeräusche“ ist äußerst spannend beschrieben und liest sich eher wie ein Krimi als eine „Verschwörungstheorie“.

Doch Krimi hin, Verschwörung her – entscheidend ist letztlich nur das Ergebnis, das heißt: wie wird Politik gemacht und im Kongress abgestimmt. Und da kann sich die „Israel-Lobby“ offenbar auf die Abgeordneten und deren Mitarbeiter verlassen. Mansing zitiert einen Capitol Hill Beamten, der aus verständlichen Gründen namentlich nicht näher genannt werden will, mit den Worten: „AIPAC kann sich auf die Mehrheit im Kongress, etwa 250 bis 300 Abgeordnete, verlassen. Sie werden jederzeit tun, was die Organisation will.“ Und er zitiert einen Kongressabgeordneten, der es auch vorzieht, lieber anonym zu bleiben: Niemals würde der Kongress eine Resolution verabschieden, die sich kritisch zur Politik Israels äußert.

Debatte entflammt

Wie immer man diese Berichte und Aussagen, Vorwürfe und Zurückweisungen bewerten und einordnen wird, die Debatte ist mittlerweile voll entbrannt. Und zwar sowohl was das US-Engagement für Israel als auch was die Rolle der „Israel-Lobby“ in diesem Spiel angeht.

Selbstverständlich blieb auch Mansings insgesamt recht gut recherchierter Bericht nicht unkommentiert. Anders als bei Mearsheimer/Walt kam es kaum zu nennenswerten Anfeindungen Mansings. Zumindest sind sie nicht weiter öffentlich bekannt oder dokumentiert.

Gestärkt von dem Zuspruch haben auch Mearsheimer/Walt ihr langes Schweigen gebrochen und ihren Kritikern ausführlich geantwortet (The Israel Lobby. Viel Neues ist ihrer Entgegnung aber nicht mehr zu entnehmen.

Dafür ist die Debatte unter Gegnern und Befürwortern, Israelkritikern und Israelverteidigern voll im Gang. Kolumnisten wie Roger Cohen (Hunker Down With History) trauen sich sogar, laut darüber nachzudenken, ob Israel nicht doch „ein Fehler“ sei. Dimitri K. Simes (Unrealists) konstatiert die Existenz einer solchen Lobby und fordert eine Debatte, die der Frage nachgeht, ob deren Aktivitäten „schädlich“ für die USA oder eine „positive Sache“ sei.

Und auch „Foreign Policy“ (Does the Israel Lobby Have Too Much Power?) macht gar „The War over Israel’s Influence“ zur Titelstory ihrer jüngsten Nummer. Auf der einen Seite treten an: Aaron Friedberg, Dennis Ross und Shlomo Ben-Ami; ihnen gegenüber stehen: Stephen Walt, John Mearsheimer und Zbigniew Brzezinski. Aber auch hier ist nach Sichtung der Argumente Für und Wider nicht mehr viel Neues oder Relevantes auszumachen. Die Debatte scheint sich allmählich im Kreis zu drehen und totzulaufen.

Höchst aufschlussreich

Fassen wir zusammen: Mearsheimer/Walt wegen ihrer Bemerkungen der „jüdischen“ und/oder zionistischen Verschwörung zu bezichtigen und sie als „Antisemiten“ zu beschimpfen, ist böswillig, aber auch höchst aufschlussreich. Es ist ganz offensichtlich, dass sie mit ihrem Text in ein Wespennest gestochen haben. Anders sind die teilweise überaus schlimmen Reaktionen und Ausfälle kaum zu deuten. Genau genommen liefern die Reaktionen ein beredtes Beispiel für die „Einschüchterungstaktik“, derer sich die „Lobby und ihre publizistischen Unterstützer“ bedienen, um Kritiker öffentlich zu desavouieren und mundtot zu machen.

Warum die Debatte erst vier Jahre später ausbricht und die Anschuldigungen nur die beiden Politwissenschaftler treffen, darüber lässt sich nur spekulieren. Der Irak-Feldzug und die fehlgeschlagene Politik im Nahen und im Mittleren Osten, die angeschlagene Präsidentschaft Bush und die Drohgebärden gegen den Iran, dürfte bei der „Schmutzkampagne“ eine nicht unwesentliche Rolle spielen.

Misst man die Politik der USA und Israels in dieser Region an ihren eigenen Kriterien, dann liegt sie in Trümmern. Das gilt auch für die Politik der eisernen Faust und den „Zionismus“ selbst. Im Irak tobt ein Bürgerkrieg, in Afghanistan gibt es fast täglich Attacken gegen US-Truppen, und mit der Hamas in Gaza, der Hisbollah im Libanon und in Syrien erstreckt sich ein breiter Halbmond von Instabilität und Feinden durch die Region, denen jedes Mittel recht ist. Was als demokratische Neuordnung des Mittleren Ostens begann und vor nicht allzu langer Zeit als „Ende des Schreckens“ (Mission Accomplished) gefeiert wurde, hat sich längst zu einem „Schrecken ohne Ende“ für die Supermacht und seinen engsten Verbündeten entwickelt. Die US-Truppen in Afghanistan und im Irak stehen unter Dauerfeuer und Israel muss sich mit Katjuschas beschießen lassen – ein doppelter Schaden sozusagen für beide.

Inneramerikanische Kontroverse

Aber auch die Tatsache, dass es sich bei der Wortmeldung um keinen hinlänglich bekannten Rechtsaußen wie Patrick Buchanan (Whose War?), sondern um zwei höchst angesehene Experten der „realistischen Schule“ handelt, die weltweit einen ausgezeichneten Ruf genießen, dürfte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Zumal es auch um Positionskämpfe geht, um Rivalität, Wettbewerbsvorteile und das Ohr des Präsidenten und Machthabers. Schließlich stehen Wahlen unmittelbar bevor und die Lager, was die Präsidentschaft angeht, formieren sich bereits. Joe Liebermann, ein glühender Verfechter des Irak-Krieges, den die „Israel-Lobby“ zu ihren Gewährsmännern zählt, musste das jüngst schmerzlich erfahren, als er bei Vorwahlen seinem demokratischen Mitbewerber überraschenderweise unterlag.

Gewiss haben Mearsheimer/Walt mancherlei Dinge überbetont und zugespitzt. Dafür sind sie auch zu Recht kritisiert worden. Für den Krieg gegen den Irak gab es sicherlich ein ganzes Bündel von Gründen. Dies allein dem cleveren Wirken einer „Israel-Lobby“ zuzuschreiben, ist sicherlich zu monokausal gedacht. Auch ist es richtig, dass sie die arabische Blockadepolitik, die Politik des human bombings, des politischen Terrors usw. ausgeblendet haben. Aber das war auch nicht Gegenstand des Themas. Und natürlich gibt es auch andere Lobbys, arabische, die Einfluss zu nehmen versuchen. Jedoch sind diese Gruppen längst nicht so stark und schlagkräftig. Einen „ernstzunehmenden Gegner“, so Mearsheimer/Walt, hat die „Israel-Lobby“ jedenfalls nicht zu fürchten.

Schädlich oder förderlich?

Obzwar die Debatte hohe Wellen bis nach Europa, Ägypten und Israel geschlagen hat, handelt es sich letztlich doch um eine inneramerikanische Kontroverse, die zwischen zwei gegensätzlichen, aber den derzeit dominantesten Denkschulen geführt wird: den „Realisten“ auf der einen, und den „Neokonservativen“ auf der anderen Seite. Bei Lichte betrachtet ist der Streit, ob es eine solche „Israel Lobby“ gibt oder nicht, ein vordergründiger. Ihre Existenz ist unstrittig, das geben auch alle Kritiker zu. Unstrittig ist auch, dass sie regen Einfluss auf die US-Außenpolitik nimmt und dabei höchst erfolgreich agiert. Umstritten ist jedoch, wie groß dieser Einfluss ist und/oder wie „schädlich“ und „gefährlich“ er für die imperiale Politik der einzigen Supermacht ist.

Ist die Politik der „einseitigen Parteinahme“ für die Ambitionen der Supermacht förderlich oder nicht? Liegen Engagement und Unterstützung der Politik Israels im mittelfristigen geo- und raumpolitischen Interesse der USA oder ist sie eher ein Hemmschuh? Die Klärung dieser wichtigen Fragen ist vor allem wesentlich, was die Haltung gegenüber Syrien und dem Iran angeht. Gelingt es dem Iran (wie zu erwarten), sich nuklear zu bewaffnen, so mag das zwar eine „direkte Bedrohung“ für Israel, und vielleicht auch für Europa darstellen, aber nicht unbedingt für die USA.

Dass die Bedrohung durch den Iran derartig aufgebauscht wird, macht nur Sinn, wenn man einen „amerikanisch-israelischen Komplex“ unterstellt. Da stimmen wir Mearsheimer/Walt ausdrücklich zu. Zumal die Supermacht gezwungen ist, auch mit anderen, nuklear bewaffneten Mächten zu leben und zu kooperieren, mit Russland, China und Pakistan. Dass die USA jüngst ein Nuklearabkommen mit Indien getroffen haben, das dem Subkontinent weit reichende Zusammenarbeit und Lieferungen zusichert, richtet sich explizit gegen China, das dem Treiben sicherlich nicht mit wohlwollenden Blicken zusieht. Trotzdem reagiert es besonnen und packt nicht die „antiamerikanische Keule“ aus.

Und auch das Argument, dass ein nuklear bewaffneter Iran ein großer Unsicherheitsfaktor für die Region wäre, weil nicht gewährleistet sei, ob Nuklearmaterial nicht in die Hände von islamischen Terroristen fallen könnte, überzeugt nicht wirklich. Wäre das der Fall, dann müsste man sich in Washington schon längst große Sorgen machen. Pakistan, das hat gerade der Zwischenfall in London gezeigt, ist wahrscheinlich ein weit unsicherer Kantonist als es die Mullahs jemals sein werden.

Heißes Eisen

Darum und um nichts anderes geht der Streit. Der Libanon-Krieg, den Israel mit Billigung der USA geführt, aber nicht gewonnen hat – keines der Kriegsziele: Befreiung der Entführten; Entwaffnung und Vernichtung der Hisbollah, wurde erreicht – hat dem neue Nahrung gegeben (Watching Lebanon). William Kristol, Herausgeber des „Weekly Standard“, hat ihn auch sofort als „unseren Krieg (It’s Our War) bezeichnet. Die Auseinandersetzung sei eine Art Stellvertreterkrieg des Irans gegen Amerika und den Westen – was man getrost auch andersherum lesen kann.

Treffen unsere Vermutung als auch die Kristols zu, dann dürften sich die Sorgenfalten in Washington und in den Büros der einschlägigen Denkfabriken stark vermehrt haben angesichts der Kampfkraft der Hisbollah und der hocheffektiven Waffen, die der Iran besitzt und geliefert hat. Abgesehen von dem Stolz, den die Krieger der arabischen Welt wiedergegeben haben (A state like no other), dürfte allen Schreibtischstrategen am Potomac erneut klar geworden sein, dass eine Iran-Kampagne kein Spaziergang werden wird. Der Mullah-Staat ist ein völlig anderes Kaliber als der Irak oder Afghanistan.

Will die Supermacht nicht blind in ein neues militärisches Abenteuer rennen, und die Welt, wie Richard Holbrooke jüngst vermutet hat, in die schlimmste Krise seit Kuba 1962 stürzen, wird der Regierung (wie auch Israel) nichts anderes übrig bleiben, als mit den Mullahs, den Syrern und anderen Gruppen zu verhandeln. Das sieht auch Henry Kissinger so (Teheran eine Alternative bieten). Ob das dann zu einem befriedigenden Ergebnis führt, wird man abwarten müssen.

Sicher ist nur, dass weder die USA noch Israel „dem Nahen Osten eine Lösung aufzwingen“ können, da hat Zbig Brzezinski Recht. Folgen die USA weiter ihrer neokonservativen Kanonenpolitik, laufen sie Gefahr, bald aus der Region vertrieben zu werden, was unweigerlich auch das Ende des Staates Israel bedeuten würde.

Wichtig und notwendig

Dies alles direkt wie indirekt thematisiert und damit ein lange gehütetes „Tabu“ aufgebrochen zu haben, ist das große Verdienst von Mearsheimer/Walt. Dass sie dafür heftig gescholten worden und mit dem Totschlagargument des „Antisemitismus“ bedacht worden sind, ist nicht wirklich relevant. Im Gegenteil, es zeigt gerade wie wichtig und notwendig, aber auch wie wenig selbstverständlich eine solche Debatte vor allem in „God’s own Country“ immer noch ist.

Deutschland könnte sich daran ein Vorbild nehmen, es könnte auch hier einmal offen über das deutsche Interesse in dieser Region diskutiert werden statt im vorauseilenden Gehorsam sich im Libanon zu engagieren. Und das auch noch ohne jede erkennbare „Exit-Strategie“. Die vielen Soldaten und Polizisten, die diese Hauruck-Politik und hektische Reisetätigkeit unseres neuen Außenministers ausbaden müssen, tun uns schon jetzt leid. Es wird Zeit, dass sich die aktuelle Politik endlich von der Geisel der Moral befreit – ein Akt, der vor allem auch unserem Land gut anstünde.