Von Hobby-Knipsern und Profi-Kriegern

Warum besitzen Amateurfotografien für viele Internetnutzer einen "Authentizitätsbonus"?

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Auch der Krieg im Libanon wurde begleitet von Bildern und Propaganda und den aufgeflogenen Fällen von Manipulationen, sogar bei renommierten Presseagenturen ("Digitale Fotografie hat den Fotojournalismus mehr als jemals zuvor verwandelt"). Aber aus dem daraus resultierenden Misstrauen den etablierten Medien gegenüber kann streng genommen nicht gefolgert werden, dass private Materialien per se authentischer wären, denn die Absichten der Privatpersonen sind meist gar nicht bekannt. Anhand von Bespielen wird untersucht, warum Amateurfotografien von vielen so leicht für besonders authentisch gehalten werden.

Vor acht Jahren stellte ich im Rahmen eines kleinen Internetprojektes einige Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg vor, die ich im Nachlass meines Vaters gefunden hatte. Dabei handelte es sich um typische Amateurfotos, fein säuberlich eingeklebt in ein Fotoalbum und in Kisten gesammelt. Typisch für den Amateurcharakter der Aufnahmen war das häufige Ablichten von Gruppen oder das absichtliche Posieren. Fotografisch waren diese den Bildern aus Friedenszeiten vergleichbar, nur dass nicht vor einem schönen Ausflugsziel, sondern vor einem Militärlaster, einer Kanone oder einem Stuka-Bombentrichter posiert wurde. In Anspielung auf eine Szene aus dem Film "Der Club der toten Dichter", in der es um die Wirkung von Gruppenfotos geht, nannte ich die Serie "Der Club der toten... Soldaten". Bei den Rückmeldungen, die ich erhielt, hatte ich mit einem Argument überhaupt nicht gerechnet, nämlich mit dem, die unspektakulären Amateurbilder würden "endlich einmal" den Krieg so zeigen, "wie er wirklich gewesen" sei.

"Wie der Krieg wirklich gewesen ist" - Bild von der Ostfront 1942/43, aus dem Fotoalbum von H.-J. Gapp

Aber, sehr merkwürdig - so interpretierte ich diese Bilder nicht und so konnte ich sie auch immer noch nicht bewerten, als sich diese schmeichlerische Sichtweise zu häufen begann. Zwar hatte ich versucht, einiges an, auch familiär notwendig erscheinender, Hintergrundinformation zu liefern. Und es wurde kein Bild gezeigt, bei dem Ort und Zeitpunkt der Entstehung nicht zumindest grob belegbar waren. Aber ohne dieses Mindestmaß an Informationen sind Fotografien sowieso als historische Dokumente völlig wertlos.

Dies konnte also nicht der Grund dafür sein, dass die Fotos auf einmal als besonders authentisch galten (dass gegen diese Mindestanforderungen in unserer heutigen, bilderbesoffenen Zeit immer noch täglich verstoßen wird, widerlegt nicht die Anforderung, sondern unterstreicht nur ihre Bedeutung). Zudem war mein Vater ja ganz offensichtlich kein neutraler Beobachter, sondern deutscher Frontsoldat gewesen. Eine Position, die nicht gerade für eine neutral-authentische Sichtweise prädestinierte. Die entscheidende Frage lautet somit: Wieso gelten Amateurfotos für viele Betrachter ganz selbstverständlich als authentischer als Bilder von Profi-Bildberichterstattern?

Hilflose Reaktion der "Mainstreammedien"

Inzwischen hat diese Frage immens an medialer Bedeutung gewonnen. Die Vorstellung, von Nicht-Professionellen verbreitete Statements, Bilder oder Videos genössen einen Authentizitätsbonus, ist das unhinterfragte Credo und somit die machtvolle, treibende Kraft hinter den diversesten, sich seit ein paar Jahren explosionsartig vermehrenden Blogs und Community-Sites wie Flickr oder YouTube. In unregelmäßigen Abständen reagieren die viel gescholtenen "Mainstreammedien" auf das Phänomen. Zumeist etwas hilflos, indem sie gebetsmühlenhaft darauf hinweisen, wie zweifelhaft es um die Authentizität der Materialien bestellt sei, so wie es jüngst die Tagesschau am Beispiel von YouTube-Videos getan hat. Die zentrale Frage, warum Amateurbilder denn überhaupt so hoch geschätzt werden, wird allerdings meist nicht gestellt.

Leicht beantwortbar zu sein scheint hingegen die Frage, woher das Misstrauen in die Bilder der Mainstreammedien herrührt. Sie lautet: Fast täglich finden sich Beispiele für tendenziöse oder schlichtweg erfundene Berichterstattung oder manipulierte Bilder. Dies unterminiert die Glaubwürdigkeit für viele offensichtlich nachhaltig. Allerdings kann diese Feststellung im Umkehrschluss nicht zugleich die Antwort auf die Frage nach dem Grund für den Glaubwürdigkeitsbonus gegenüber Amateurbildern sein. Denn erstens können Amateure ihre Bilder natürlich genau so manipulieren, wie es Profifälscher auch tun. Niemand wird dies leugnen. Zweitens fehlen zu den Amateurfotografien zumeist selbst die elementarsten Angaben, die ein Foto benötigt, um als Dokument akzeptabel zu sein. Drittens werden Manipulationen an professionellen Bildern meist entdeckt, kurz nachdem sie veröffentlicht wurden ("Digitale Fotografie hat den Fotojournalismus mehr als jemals zuvor verwandelt"). Dafür sorgen kritische, oft vernetzte Leser und die Pressevielfalt, die dazu führt, dass die miteinander konkurrierenden Presseorgane sich gegenseitig kontrollieren. Dieser Kontrollmechanismus fehlt den Communities fast vollständig. Zudem, viertens, werden aufgedeckte Manipulationen und Fälschungen in den Mainstremmedien, beispielsweise den Presseagenturen, drastisch geahndet. Ein Fotograf, der getürkt hat, und dabei erwischt wird, verliert unweigerlich seinen Job.

Zwar herrscht bei Agenturen und Redaktionen bezüglich Manipulationen eine gewisse, bequeme Blindheit, ganz bisslos sind die Kontrollantagonismen jedoch nicht. Aber wer flöge schon aus einer Community heraus, bloß weil er Bilder manipuliert hat? Und selbst wenn, wäre dies wohl kaum als abschreckende Maßnahme ernst zu nehmen.

Wenn der Grund für das Misstrauen in die Mainstreammedien jedoch nicht gleichbedeutend ist mit dem Verstehen des Vertrauens in Amateurbilder, was kann dann den Glaubwürdigkeitsbonus der Amateurbilder erklären? Es ist die Paarung von naivem Bildergebrauch mit mangelndem Kritikbewusstsein, verursacht durch die emotionale Bindung an eine virtuelle Familie. Zwei Fallbeispiele.

Naiver Bildergebrauch

Der naive Bildergebrauch manifestiert sich im unerschütterlichen Glauben an das alte chinesische Sprichwort: "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte." (In den deutschen Sprachgebrauch war es 1926 durch einen gleichnamigen Artikel des bildergläubigen, sprachgewaltigen Kurt Tucholsky eingeführt worden. Zuvor war es in Amerika schon als Werbebotschaft verwendet worden.) Deshalb sind ihnen ergänzende Informationen, die aus einem Bild erst ein Dokument machen, nicht wichtig. Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass auch manch ein Profi, nicht zuletzt aus dem Kunstkontext, diesem Glauben verfallen ist.

In der Foto-Community VIEW zeigt der User "serghej" eine Serie aus Sadr-City, Bagdad. Dazu schreibt er:

Am 10.April 2003 hieß dieser ärmliche Stadtteil Bagdads noch Saddam City. ... Einen Tag nach der "Befreiung" der Stadt durch die Koalitionstruppen begann die wahre Macht des Stadtteils damit ihr Gesicht zu zeigen. Mohammed Al Sadr, der religiöse Führer der ansässigen Schiiten, übernahm das Gebiet und gab ihm seinen Namen. Heute ist Sadr City der gefährlichste Stadtteil Bagdads und für Ausländer "No Go Area".

Die Serie wurde erst am 8. August 2006 angelegt. Werden dort also etwa spektakuläre Bilder aus der "No Go Area" gezeigt? Nur die Metadaten der Bilder liefern - manchmal - einen Hinweis darauf, dass die Bilder nicht erst jetzt, sondern schon im Mai 2003 aufgenommen worden waren, also in der Zeit unmittelbar nach dem Fall Bagdads, als es dort noch verhältnismäßig ruhig war. Ansonsten werden keine zusätzlichen Informationen gegeben, die zur Einordnung der Bedeutung der Bilder dienen könnten. Welches Fliegerdenkmal wird gezeigt, beispielsweise? Was machte der Fotograf damals dort? Was sollen die Bilder jetzt aussagen, drei Jahre nach ihrer Entstehung? Die visuell durchaus nicht uninteressanten Fotos erfüllen somit keinen dokumentarischen Zweck und können nicht als Informationsquelle dienen.

Emotionale Bindung an die virtuelle Familie

Die emotionale Bindung an eine virtuelle Familie lässt sich sehr gut an den Arbeiten von Martin Meese und den Kommentaren zu seinen Bildern zeigen. Meese postet bei View und in der Fotocommunity vor allem Bilder aus der islamischen Welt, früher aus Jordanien, Syrien und dem Libanon, derzeit aus Afghanistan. Neue Bilder postet er für gewöhnlich zeitgleich bei beiden Communities mit praktisch identischen Bildbeschreibungen. Als Motivation für sein Fotografieren führt er an:

Mit diesen Fotos möchte ich allen Interessierten den Nahen Osten mit seinen vielfältigen Landschaften, seiner Kultur mit den unglaublich freundlichen Menschen näher bringen, und vielleicht dazu anregen einen Fotourlaub in dieser Region zu verbringen.

In den Medien höhrt man nur schlechte Nachrichten aus diesen Ländern.

Bildbeispiel von Martin Meese - private Kriegsberichterstattung aus Afghanistan

Martin Meese tritt also ganz bewusst an, die von "den Medien" verbreiteten Nachrichten positiv korrigieren zu wollen. In seiner Selbstbeschreibung schweigt er sich über seinen eigentlichen Beruf aus. Es ist aber selbst manchen Community-Usern schon aufgefallen, dass er als Bundeswehrsoldat all diese Länder "besucht". Dies ist beispielsweise dem Kommentar von "sigrid nordlicht" zu seinem Bild "Lager-Romantik" des Bundeswehrlagers in Maser i Scharif zu entnehmen. Auf Nachfrage mittels seines FC-Accounts hatte Martin Meese seinen Beruf auch ohne Umschweife Telepolis gegenüber bestätigt. Vor seiner Entsendung nach Afghanistan war er bei der deutschen Botschaft in Jordanien als Assistent des Militärattachés, was auf einer Webseite des jordanischen Außenministeriums vermerkt ist.

Gleichgültig, wie gut meinend Martin Meeses Absichten sind, als aktiv Beteiligter kann er grundsätzlich keine unabhängige Position einnehmen. Die User, die zumeist bewundernde Kommentare zu seinen Bildern abgeben - "Ein Klasse Dokumentationsbild" oder "Bild top, Hintergrundinfos top!" - thematisieren dies jedoch nicht. "w.resmer" schrieb in Meeses Gästebuch bei VIEW:

ich kann die Nörgler Deiner Bilder nicht verstehen,jeder sollte dankbar sein,dass er Deine Doku`s betrachten darf und mal ungefilterte Information aus erster Hand erhält.Mach weiter und pass auf Dich auf.

Nicht nur, dass w.resmer die Bilder für ungefilterte Information hält, er kanzelt "die Nörgler" gleich mit ab (welche meint er eigentlich?). Und er tut letzteres interessanterweise nicht mit einem Argument, sondern mit der Forderung nach Dankbarkeit. So reagiert man nicht im medialen Raum, sondern in einer Familie, wenn ein freches Kind einem geschätzten Familienmitglied gegenüber "undankbar" gewesen ist. Dies ist exemplarisch für die Wechselwirkung zwischen Martin Meeses Postings und den Reaktionen der User. Da werden Grüße von Afghanistan nach Deutschland übermittelt und mit familiärem "pass auf dich auf" beantwortet. Die Authentizität, oder treffender: der Informationsgehalt der gezeigten Bilder, wird also vermutlich deshalb nicht hinterfragt, weil es sich nicht gehört, die Angaben eines geschätzten Familienmitglieds zu hinterfragen, insbesondere dann nicht, wenn sich das Mitglied in einer gefährlichen Situation befindet.

Es erscheint nicht unvernünftig zu behaupten, dass die beiden beschriebenen Effekte - der naive Bildergebrauch und die emotionale Bindung an die virtuelle Familie - generell zwei maßgebende Triebkräfte dafür sind, dass Amateurbilder einen Authentizitätsbonus genießen. Eine emotionale Bindung wird zudem sehr schnell aufgebaut. Wie das einführende Beispiel der Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg nahe legt, reicht es wohl schon aus, ein Fotoalbum zu zeigen, also eine Form der Bildpräsentation zu wählen, die fast jedem aus dem eigenen familiären Umfeld geläufig ist, um von dem Authentitätsbonus zu profitieren.

Die Gefahr privater Propaganda

Wie leicht es ist, selbst bei den besten Absichten, Gefahr zu laufen, die Schwelle zur privaten Propaganda unfreiwillig zu überschreiten, kann ebenfalls an Martin Meeses Bildern gezeigt werden. Zwar ist er derzeit in Afghanistan, aber er postete in den letzten Wochen auch Bilder bei VIEW und der FC, die er schon 2004/2005 im Libanon gemacht hatte. Zu einem Bild schrieb er (und hier):

Ein Haeuserzug im Sueden von Beirut, im vermeidlich schiitischen Stadtteil. Ich gehe davon aus, dass es Ihn nicht mehr gibt.

Der Libanon "vor dem Krieg" wird so als pittoreske Idylle dargestellt, die allerdings, wenn sie denn überhaupt jemals der Wahrheit entsprochen hatte, mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs Ende der Siebziger Jahre längst verschwunden war. Durch die behauptete Idylle und die in der Bildunterschrift bloß vermutete Zerstörung erscheinen die israelischen Angriffe als besonders ungerecht. Dabei zeigen die Fotos, die Meese selbst lange vor dem jetzigen Konflikt gemacht hatte, alles andere als ein Idyll. Ein Bild, das laut seinen Angaben im November 2004 in einem palästinensischen Flüchtlingslager südlich von Beirut aufgenommen wurde, trägt den bezeichnenden Titel: Leben in Ruinen. Die Tatsache, dass das Ruinen-Bild in Schwarzweiß, die zuletzt geposteten Libanon-Bilder aber überwiegend in schönen bunten Farben gehalten sind, verstärkt den Propagandaeindruck noch. Aber so ist das nun einmal in einer Familie - um mit seinem Fotoalbum zu gefallen, zeigt man das, was gesehen werden will, nicht das, was der Realität nahe kommt.