Völkerwanderung per Boot

1300 Menschen kamen allein am Wochenende aus Westafrika auf die spanischen Kanarischen Inseln. Süditalienische Inseln werden immer häufiger von Libyen aus angesteuert

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Mehr als 1.300 Menschen gelang am Wochenende die tagelange gefährliche Fahrt vom Senegal und Mauretanien auf die Kanarischen Inseln. Auch der nun begonnene Frontex-Einsatz vor den Küsten Westafrikas konnte den neuen Rekord nicht verhindern. Fast 19.000 Menschen sind in diesem Jahr auf den Kanaren gelandet. Mit eiliger Diplomatie versucht Spanien erneut dem Phänomen zu begegnen. Das Rote Kreuz meint, 100.000 Menschen warteten allein im Senegal auf die Überfahrt. Auch die italienischen Inseln Lampedusa und Pantelleria werden immer stärker zum Ziel, die 300 Kilometer lange Überfahrt aus Libyen ist vergleichsweise kurz.

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Wanderungsbewegungen. Während der Völkerwanderung machten sich ganze Völker und Stämme auf den Weg, um an einem anderen Ort eine neue und bessere Zukunft zu suchen. Ausgelöst werden Wanderungsbewegungen oft durch sich verschlechternde Lebensbedingungen. Klimatische Veränderungen, die zu Dürren oder Überschwemmungen führen, können sie ebenso auslösen wie politische Ereignisse, Seuchen oder Übervölkerung. Wenn sich das Weltklima wie erwartet weiter verändert, könnten sich das Bild also bald dramatisch wandeln und viele Menschen vom Norden in den Süden und von den Küsten in die Berge fliehen (Eiswüste in Europa, Nuklearkriege und andere Schreckensszenarien).

Zum Wiederaufbau des kriegszerstörten Deutschlands wurden in den Wirtschaftswunderjahren viele billige Arbeitskräfte gebraucht. Man holte sie oft aus südeuropäischen Ländern wie Italien, Spanien, Portugal. Hunderttausende machten sich von dort aus auf die Suche nach einem besseren Leben. Aus Spanien, Portugal und Griechenland kamen auch Menschen, welche die Diktaturen und das Klima der Angst und Abschottung satt hatten oder schlicht wegen politischer Verfolgung auf der Flucht waren.

Heute sind diese Länder selbst zum Ziel von Flucht- und Einwanderungsbewegungen geworden. Deutschland hat von den spanischen Einwanderern damals genauso profitiert, wie Spanien heute von der Einwanderung profitiert. Die Versuche, die ungewollte Migration zu verhindern, sind meist fruchtlos, auch wenn nur zu gerne Mauern in jeder Art errichtet werden. Die Verstärkung echter und virtueller Mauern führt aber nur dazu, dass sich Formen und Wege der Flucht- und Migration ändern.

Am Beispiel Spanien wird das derzeit deutlich. Der Sturm auf die Mauern um die Exklaven Ceuta und Melilla vor einem Jahr war das Ergebnis der Abschottung der Meerenge von Gibraltar und später der Südküste. Geholfen hat auch die Einbindung von Marokko in die Abschottung nichts.

Die Wege haben sich verlagert. Sie sind länger und gefährlicher geworden. Schlepperbanden zu Rate zu ziehen, wird immer notwendiger. Der Trend wird verstärkt, wenn Spanien bald sogar Satelliten und Drohnen einsetzt, um Flüchtlingsboote kurz nach der Abfahrt abfangen und die Menschen schnell wieder nach Mauretanien, Senegal und auf die Kapverdischen Inseln zurückbringen zu können. Würde dieses Geld in die Entwicklung der Herkunftsländer gesteckt, kämen viele Menschen wohl nicht auf die Idee zu fliehen oder auszuwandern.

Das Spanien von Cervantes scheint seinen Dichter nicht zu verstehen. Wie dessen Held Don Quijote rennt das Land, mit der EU als Sancho Pansa im Schlepptau, gegen die neuen Windmühlen an, Pyrrhussiege inbegriffen. Menschen, die früher den relativ sicheren Landweg wählten, nehmen nun zu Tausenden in winzigen Booten Platz, um übers offene Meer ins gelobte Europa zu kommen. Fast 19.000 Menschen sind in diesem Jahr auf den Kanarischen Inseln gelandet. In knapp neun Monaten kamen also fast viermal so viele dort an als im gesamten vergangenen Jahr. Allein am vergangenen Wochenende waren es fast 1300. Ein neuer Rekord.

Die Abschottung oder die tödliche Gefahr scheren die wenig, die eine Lösung ihrer Misere oder den Traum von Wohlstand, Gerechtigkeit und Demokratie mit Auswanderung oder Flucht verbinden. Das zeigt dieser neue Rekord. Er wurde erreicht, obwohl vor knapp zwei Wochen nun der seit März angekündigte Einsatz der EU-Grenzschutzbehörde Frontex begonnen hat, von dem man sich in Madrid angeblich so viel verspricht. Vor Westafrika sind nun zwei Schiffe und zwei Flugzeuge im Einsatz, die Portugal, Italien und Finnland zur Verfügung gestellt haben.

Nach Angaben des Roten Kreuzes warten allein im Senegal 100.000 Menschen auf eine Gelegenheit, um den etwa 1.200 Kilometer langen, gefährlichen Weg auf die Kanaren anzutreten. Schon im März hatte das Rote Kreuz vor der „stillen Katastrophe“ gewarnt, von der man nur die Spitze des Eisbergs zu Gesicht bekomme, auch weil Tausende die Fahrt nicht überlebten.

Wie im Mai, als der Ansturm auf die Kanaren so richtig begann, wird nun wieder hektisch diplomatisch gewirbelt. Die konservative Lokalregierung sieht erneut einen „Notstand“, dem sie nun das Attribut „international“ beifügt, weshalb sie sogar die Vereinten Nationen einschalten will. Zwar sind die Auffanglager auf den Inseln voll, doch kann man die Ereignisse dort kaum mit Dramen wie im Libanon, dem Sudan oder der Westsahara vergleichen, um nur einige zu nennen, mit denen die UN völlig überfordert sind. Das Manöver dient dazu, die sozialistische Zentralregierung anzugreifen. Die hat aber den großen Teil der Ankömmlinge dieses Jahres (mehr als 11.000), längst auf das Festland verteilt, schreibt sogar die konservative Tageszeitung El Mundo. Hunderte wurden, auch mit fadenscheinigen Methoden, längst wieder in ihre Herkunftsländer deportiert.

Am Montag war der sozialistische Innenminister wieder in Westafrika unterwegs und versuchte Mauretanien und Senegal noch stärker in die spanische Politik einzubinden. Von den beiden Ländern aus startet derzeit die Mehrzahl der Boote. Gemeinsame Patrouillen, die Alfredo Pérez Rubalcaba nun ankündigte, und die Rückführung der Menschen, hatte Spanien mit Senegal aber schon im Frühjahr vereinbart. In den nächsten Tagen sollen dort zwei spanische Hubschrauber und zwei Schiffe der Guardia Civil in Kooperation mit den lokalen Sicherheitskräften das Auslaufen der „Cayucos“ verhindern oder die Boote noch in den Hoheitsgewässern Senegals abfangen und zurückbringen.

Was Senegal dafür im Gegenzug erhält, ist noch unklar. Das Land will Mittel, um dafür zu sorgen, dass die meist jungen Auswanderer sich eine Zukunft im eigenen Land aufbauen können. Speziell wurden das „Reva-Programm“ zur Förderung der Land- und Viehwirtschaft genannt. Bisher hatte das Land Geld und Unterstützung zum Bau von Brunnen und Staudämmen gefordert.

Sollte der Einsatz von Frontex und Spanien, mit Kooperation der westafrikanischen Staaten Erfolg zeigen, wird es neue Wege geben. Es zeichnet sich zum Beispiel ab, dass die Route über die Volksrepublik Libyen nach Süditalien ein stärkeres Gewicht erhält. In den letzten Tagen erreichten fast 300 Menschen die Inseln Lampedusa und Pantelleria oder wurden in ihrer Umgebung gerettet. Bei zwei Schiffsunglücken waren am Wochenende weitere 80 Menschen ertrunken. Ermittelt wird, ob in einem Fall das Rettungsschiff das Boot der Flüchtlinge gerammt hat. Auch der italienische Verkehrsminister Alessandro Bianchi hat Sofortmaßnahmen gefordert. Zehn Millionen Euro würden gebraucht. Das Geld solle dazu dienen, die völlig überforderten Küstenwache mit mehr Personal und logistischen Mitteln auszustatten.

Auch hier funktioniert ein Abkommen zwischen Roms und Tripolis aus dem Sommer 2004, das gemeinsame Patrouillen vor der libyschen Küste vorsieht, nur mäßig. Vom „Schurkenstaat“ mutierte Libyen über dieses Abkommen und der Lagerhaltung von Flüchtlingen vor Ort zum hofierten Partner. Nun wird das Rad offenbar zurück gedreht. Was im Fall von Marokko niemand kritisiert, dass sich die Einbindung in die Abschottung teuer bezahlen lässt, wird Libyen zum Vorwurf gemacht. Angeblich benutze das Land die Flüchtlinge, um Entschädigungen für die Kolonialzeit zu erzwingen. Muammar al-Gaddafi fordere vor allem Geld für eine 1.700 Kilometer lange Küstenstraße von der tunesischen bis zur ägyptischen Grenze. Einer genaueren Prüfung halten derlei Analysen aber nicht stand. Der ständig steigende Ölpreis spült seit dem Ende des Embargos auch Libyen ungeahnte Geldsummen in die Staatskasse. Dem Land dürfte es eher darum gehen, nach dem Kniefall im Fall Lockerbie nun auch von anderen zu fordern, ihre historische Schuld anzuerkennen.