Strippenzieher oder am Gängelband?

Die Hisbollah zwischen Dschihad und Mandat. Teil 2: Von libanesisch bis panislamisch - die rätselhafte Identität der "Partei Gottes"

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Wem fühlt sie sich am meisten verpflichtet? Ihrem Land? Der arabisch-muslimischen Utopie der "Umma" (Gemeinschaft)? Oder ihrem Mentor Iran? Klar ist nur soviel: Die unklare Identität der Hisbollah (vgl. Die Hisbollah) dürfte die Gemüter noch lange beschäftigen.

1982 formiert, als Reaktion auf den israelischen Einfall in den Libanon, veröffentlichte die in den Anfangsjahren eher dezentrale und klandestine Guerilla am 16. Februar 1985 ihren "Offenen Brief an die Entrechteten im Libanon und in der Welt". Darin verweist sie auf drei Punkte: Ihr Interesse an der Errichtung eines Islamischen Staates im Libanon, mit dem sofortigen Hinweis darauf, dies nicht gewaltsam durchführen zu wollen. Ihr Widerstand gegen Israel und die USA (in damaligen Bürgerkriegszeiten auch gegen Frankreich und die Falangisten). Sowie ihr Streben nach einer politischen Reformation des Libanon. Während die letzten beiden Punkte nach wie vor die Agenda der "Partei Gottes" anführen, ließen die Parolen vom "Islamischen Staat" zusehends nach.

Realpolitik statt religiöser Imperativ

Im Laufe des gleichen Jahres zogen sich die israelischen Streitkräfte, infolge ihrer hohen Verluste, teilweise aus dem Südlibanon zurück. Die Hisbollah, der ob ihrer militärischen Erfolge die Sympathien zuflogen, mag, wie Erik Mohns schreibt tatsächlich versucht haben, die Gunst der Stunde zu nutzen und die Gesellschaft des Südens zu reislamisieren. Offensichtlich sah sie aber rasch ein, dass der ethnische und ideologische Pluralismus des Landes kein Nährboden für einen Islamischen Staat bot, nicht einmal im mehrheitlich schiitischen, aber auch von Christen bewohnten Süden.

Nur mit Gewalt hätte sie ihr Ziel erreichen können, doch an der war sie nie interessiert, wohl wissend, dass nur im Rahmen einer nationalen Einheit - und damit einer religiösen Koexistenz - die Bedingungen für ihre Primärziele gegeben waren: die Verbesserung des in Rassen-, Stammes- und Verwandtschaftsbeziehungen verfransten libanesischen Staatssystems und der erklärte Dschihad gegen Israel.

Nachdem Israel selbst dazu beitrug, den Glauben an die Notwendigkeit von Widerstand und das Ansehen der Hisbollah konfessionsübergreifend zu festigen - etwa im Oktober 1983, als ein israelischer Konvoi im besetzten Nabatiyeh während des höchsten schiitischen Festes, Aschura, durch die Prozession fuhr und mehrere Gläubige zu Tode kamen - beschloss die Hisbollah früh, den gewonnenen Kredit nicht durch Gewalt gegen die eigenen Landsleute zu verspielen.

An dieser Strategie hält sie bis heute fest. Versuche, etwa Bücher zu verbieten oder gar die Scharia zu implementieren, blieben aus. Hingegen nahm die Anzahl ihrer politisch aktiven weiblichen Mitglieder zu und bereits anlässlich der Wahlen von 1996 war der Punkt "Islamischer Staat" aus ihrem Parteiprogramm gestrichen.

Selbstverständlich kann dahinter eine geduldige Strategie vermutet werden, die auf den richtigen Moment wartet. Bislang ist der aber nicht gekommen und es bleibt nur festzuhalten, dass die "Partei Gottes" keine Anstalten unternahm, ihn zu erzwingen.

"Wir lieben den Tod"

Hisbollahs Widerstandserfolge, die 1985 den Teilrückzug, 2000 den fast vollständigen Rückzug der Israelis herbeiführten und gegenwärtig deren Ziel, die Hisbollah auszulöschen, scheitern ließen, sind nicht ohne den der "Partei Gottes" inhärenten Märtyrerkult zu verstehen.

Der grausame, als Martyrium verstandene Tod des Imam Al-Hussein Ibn Ali, dem Enkel des Propheten Mohammed, der 680 gegen den von den Schiiten als unrechtmäßig empfundenen Kalifen Yazid in die Schlacht von Kerbala zog, gilt gläubigen Schiiten als das Beispiel, dem es persönlich zu folgen gilt. In ihrer Studie für die Beiruter Université Saint Joseph verweisen Michel Hajji Georgiou und Michel Touma auf die Aussagen Scheich Naim Qassims, des stellvertretenden Generalsekretärs der Hisbollah.

In seinem Buch über die Partei betone er, dass ein junger Schiit nicht in der Hoffnung auf einen Sieg erzogen werden sollte - denn, sobald er einsehe, dass der nicht rasch kommen werde, schwände sein Kampfgeist. Weit förderlicher sei die Schulung der Märtyrermoral, der Selbstopferung für das Land und im Namen der Liebe zu Gott. Ein spiritueller Ansatz des Islam, der, so Qassim, dem Westen notgedrungen unverständlich bleiben müsse, da er sich der Ratio entziehe und eine intensive Auseinandersetzung mit den Lebensetappen der Mujaheddin im Einzelnen und den Realitäten der islamischen Gesellschaften im Allgemeinen voraussetze.

Es ist offensichtlich, dass sich die Hisbollah der Macht dieser Waffe nur allzu bewusst ist (und sie, wie Adam Shatz von The Nation nahe legt, vermutlich tatsächlich in andere Länder exportiert). In einem beeindruckenden Artikel zitiert Seymour Hersh einen europäischen Geheimdienstmitarbeiter, der darauf hinweist, dass bloße Härte keine Antwort auf das islamische Märtyrerphänomen sei: "Wie wollen Sie Menschen Angst machen, die das Martyrium lieben?"

Strippenzieher oder am Gängelband?

Als zweiter wesentlicher Prägefaktor der Hisbollah gilt das Konzept der Wali al-Faqih, eines im Iran installierten Obersten Rechtsgelehrten und Führers. Dabei handelt es sich um eine Instanz, der erst Ayatollah Ruhollah Khomeini und die Islamische Revolution zum Durchbruch verhalfen. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten die jafaaritischen und damit die Mehrheit der Schiiten in Erwartung des Zwölften Imams, der noch "im Verborgenen" lebt, aber als Erlöser, als Rechtsgeleiteter ("Mahdi") zurückkehren und die durch den Islam bewirkte "absolute Gerechtigkeit" auf Erden einführen wird.

Khomeini hingegen vertrat die Ansicht, dass man auch in der Gegenwart bereits die Initiative ergreifen könne. Sein Konzept der Wilayat al-Faqih beruhte auf der Verknüpfung religiöser und politischer Aktivität - eine Verknüpfung, für die sich auch andere schiitische Kleriker des 20. Jahrhunderts aussprachen, allen voran die Ulama aus dem irakischen Najjaf, in dem nahezu alle Mentoren oder Führer der Hisbollah studiert hatten.

Doch erst mit der Revolution und in der Person Khomeinis setzte sich die Fusion zwischen politischer und religiöser Autorität durch: Die Islamische Republik basiert seither auf der Treuepflicht gegenüber dem Wali al-Faqih, der über religiöse wie über politische Fragen, etwa über die Option von Krieg und Frieden, zu entscheiden vermag.

Zudem wacht er über die Sicherheit der Bevölkerung, deren finanzielle Interessen und die gerechte Verteilung religiös vorgeschriebener Abgaben und Spenden. Ayatollah Khomeini machte demnach die Vorrechte, die dem Propheten und den Imamen von Gott zuteil wurden, auch für die Islamische Regierung geltend, womit er zugleich deren territoriale Machtbegrenzung aufhob, da sich die Autorität des Wali auf alle gläubigen Schiiten erstreckt.

In ihrer Studie schlussfolgern Hajji Georgiou und Touma, dass die Hisbollah dem Prinzip des Wali unbedingte Treue leiste und somit in den großen Fragen von Doktrin und Strategie dem Iran unterstehe. Doch, und hier zitieren sie abermals Qassim, falle die alltägliche Umsetzung der Weisungen auf politischer, sozio-kultureller und kämpferischer Ebene in das Ressort der gewählten Führung der Hisbollah.

Im Prinzip öffnet Qassim damit jeglicher Deutung Tür und Tor - auch wenn die Nummer Zwei der Hisbollah sogleich nachsetzt, dass die "großen politischen Entscheidungen" allein dem Wali vorbehalten blieben. Libanesische und westliche Experten, die Adam Shatz interviewte, scheinen sich da nicht so sicher: Bemerkenswert sei doch, dass Ayatollah Khamenei Hisbollah-Führer Sayyed Hassan Nasrallah noch nie überstimmt habe.

Über das tatsächliche Verhältnis von Dominanz, Interaktion und Autarkie scheinen, laut einer Studie des Center for Strategic and International Studies, jedenfalls nicht einmal die US-Geheimdienste zuverlässige Kenntnisse zu besitzen. Klar sei lediglich, dass "Teheran ein entscheidender Geld- und Waffenlieferant" für die Hisbollah-Führung sei. Und diese, angesichts ihrer politischen und militärischen Verdienste "nur für eine Marionette" anderer Mächte halten zu wollen, befindet Alain Gresh von Le Monde Diplomatique für schlicht "absurd".

Eben ihre Verdienste sichern der seit 1992 unter Nasrallah agierenden Hisbollah eine weit reichende Gefolgschaft zu. Hinzu kommen zwei weitere Faktoren: das umfassende karitative und soziale Netzwerk der Hisbollah, das die staatlichen Angebote - sofern überhaupt vorhanden - im Preis-Leistungs-Verhältnis um Längen schlägt.

Dass es sich dabei nicht um reine Nächstenliebe, sondern um eine wohl kalkulierte Rekrutierungspolitik (bei den Schiiten) und eine Sympathiekampagne (bei den übrigen Konfessionen) handelt, ist nicht zu leugnen. Die vom Staat Marginalisierten (auch die Christen des Südlibanon sind auf Hisbollah-Dienste wie Arbeitsvermittlung und medizinische Versorgung angewiesen) dürfte es wenig kümmern. Schließlich die Geschlossenheit und Integrität der Führung, der die Hisbollah-Basis absolute Loyalität schuldet und offensichtlich seit über zwei Jahrzehnten auch erbringt: Nicht allein, dass das Führungsgremium seine Rivalitäten unter sich austrägt, es hat sich vor allem, ähnlich der Hamas, nie der Korruption schuldig gemacht.

Die Wirkung, die dies bei den Libanesen - wie bei sämtlichen unter ihren Patronage-Systemen leidenden arabischen Völkern - hinterlässt, liegt auf der Hand. So lebt Nassrallah, ein einfacher Händlers-Sohn, ungeachtet der Millionen, die seine Parteikassen füllen, ganz der Sache verpflichtet. Ausnahmen gelten weder für ihn noch für seine Angehörigen: Dass sein 18-jähriger Sohn Hadi 1997 im Südlibanon gefallen war, wurde erst Wochen später bekannt gegeben und nur im Kontext mit den anderen, am gleichen Tag Gefallenen, zwei Hisbollah-Kämpfern und sieben Soldaten der libanesischen Armee, davon zwei Christen.

Israelische Befürchtungen über den für die Herausgabe von Hadi Nasrallahs Leichnam zu zahlenden "hohen Preis" erwiesen sich als obsolet, wie Helena Cobban betonte. Sein Leichnam wurde neun Monate später übergeben, gemeinsam mit dem der übrigen gefallenen Libanesen.

Das Dilemma der Hisbollah

Wo also ist diese Partei anzusiedeln, die von Libanesen geführt wird und auf libanesischem Boden entstand, um eben diesen Boden gegen Fremdbesatzung zu verteidigen, die sich zugleich aber extra-territorialen Instanzen (in welchem Maß auch immer) verpflichtet sieht?

Allein ihr Name - "Partei Gottes" - definiert keine nationale Bewegung, sondern spricht eine Vielzahl von Gläubigen an (vgl. auch ihre Selbstvorstellung im Offenen Brief). Würde im arabischen Raum jene "umma", jener universelle Zusammenschluss aller Muslime, gar aller Araber existieren, wäre das Dilemma der Hisbollah keins.

Doch inmitten von US-freundlichen Nachbarn wie Ägypten, Saudi-Arabien, Qatar und Jordanien (um nur die wichtigsten zu nennen) und angesichts der innerlibanesischen Spaltung in die Lager des "8. März 2005" (die von der Hisbollah im Libanon initiierte syrienfreundliche Demonstration nach Hariris Ermordung) und des "14. März 2005" (die syrienkritische Gegendemonstration), tut sich die "Partei Gottes" zunehmend schwer, ihre "umma", die deshalb über der nationalen Zugehörigkeit steht, weil der Islam es tut, auf Dauer zu verfechten.

Während sich viele Libanesen, die nicht einmal notgedrungen Anhänger des "14. März" sind, besorgt fragen, wie weit über den Südlibanon und die Schebaa-Farmen hinaus der Widerstand der Hisbollah reichen soll - in den Golan? nach Palästina? gar nach Jerusalem? - fahren durch Syriens Straßen Autos, die mit dem Konterfei Hassan Nasrallahs geschmückt sind. Daneben der Spruch: "Salah el-Din ist zurückgekehrt" (Befreier Jerusalems im Jahr 1187). Ließen die Geheimdienste der US-orientierten Nachbarstaaten es zu, sähe das dortige Straßenbild nicht anders aus. Zugleich muss die "Partei Gottes" alles daran setzen, im eigenen Land kein irakisches Straßenbild auszulösen.