Rechenspiele mit Schulkosten, Kindergeld und Freibeträgen

Die deutsche Bildungslandschaft ist das Testgelände sozialer Ausgrenzung. Durch einseitige Finanzreformen können sich die Gegensätze noch verschärfen

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Das Schulgeld für Volksschulen wurde bereits in der Weimarer Republik abgeschafft, und Gymnasien darf der wissbegierige Nachwuchs seit Ende der 50er Jahre kostenfrei besuchen. Seit einem halben Jahrhundert müssen Eltern in Deutschland nur dann tiefer in die Tasche greifen, wenn sie ihren Zöglingen auf Privatschulen, Internaten oder sonstigen Bildungsanstalten außerhalb des staatlichen Lehrangebots besondere Kenntnisse vermitteln lassen wollen.

Doch obwohl der Staat auf Gebühren für öffentliche Schulen verzichtet, zahlen die Mütter und Väter – für Schulbücher, Verpflegung oder den Transport ihrer Kinder. Nach einer aktuellen Studie des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie wenden Eltern pro Jahr zwischen 2,6 und 3,6 Milliarden Euro auf, um damit überhaupt die Voraussetzungen für eine sinnvolle Teilnahme am Unterricht zu schaffen.

Die Autoren Dieter Dohmen und Klemens Himpele, die sich auf eine Vielzahl aktueller statistischer Erhebungen stützen, gehen davon aus, dass die durchschnittlichen Kosten je Kind zwischen 700 und 800 Euro pro Jahr liegen und sich in Einzelfällen bis zu 1.200 Euro steigern können. Dabei gibt es erhebliche regionale Unterschiede auf engstem Raum. So werden in Hamburg etwa 100 Euro im Jahr für diverse Lernmittel erhoben, während im benachbarten Bremen und Schleswig-Holstein keine entsprechenden Kosten anfallen, weil hier die Lernmittelfreiheit gilt.

Große regionale Unterschiede

Auch die Tarife von Schülertickets sind ein Ergebnis föderaler Unabhängigkeiten und variieren nach Bundesländern und Verkehrsverbünden. In München kostet das Ticket stolze 40 Euro, in Augsburg aber lediglich 23 Euro und in Kiel sogar nur 18,34 Euro. Baden-Württemberg erzielt den Spitzenpreis erwartungsgemäß in der Landeshauptstadt Stuttgart (35,10 Euro), der Pforzheim/Enzkreis dicht auf den Fersen ist (34,50 Euro), während im Verkehrsverbund Tuttlingen nur 19,33 Euro fällig werden. Auch in den neuen Ländern geht die Schere mittlerweile weit auseinander. Zwischen den thüringischen Städten Altenburg (19 Euro) und Jena (33 Euro) beträgt der Unterschied beachtliche 14 Euro, die sächsischen Verkehrsverbünde Mittelsachsen (18,42 Euro) und Vogtland (25 Euro) unterscheiden sich immerhin noch um 6,58 Euro. Bei den Verpflegungskosten ergeben sich vergleichbare Differenzen.

Die Ausgaben der Eltern schwanken von Kommune zu Kommune. Eine bundesweite Übersicht über die elterlichen Kosten gibt es bisher nicht; aber etwa die Entscheidung, den Wohnort zu wechseln, kann erhebliche Folgen für diese Ausgaben haben. Von einheitlichen Lebensverhältnissen sind wir weit entfernt.

Dieter Dohmen

Damit die Bundesbürger beim Thema Familiengründung nicht mehr automatisch an sozialen und wirtschaftlichen Abstieg denken, sind in den vergangenen Monaten verschiedene Vorschläge geäußert worden, um diese und andere Kosten der Kinderziehung zu refinanzieren. Wirtschaftsminister Peer Steinbrück (SPD) denkt beispielsweise über eine Kürzung des Kindergeldes nach, um die freiwerdenden Mittel dann wieder für kostenlose Kindergartenplätze einzusetzen. Das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie hat diesen Vorschlag nun für den Fall der Schulkosten durchgerechnet. Demnach müsste das Kindergeld um mindestens 38 und maximal 61,50 Euro pro Monat und Kind gekürzt werden, um die milliardenschweren Ausgaben der Eltern wieder aufzufangen.

Die Folgen der Umverteilung

Wenn diese Kosten nun übernommen und die staatlichen Transferleistungen im Gegenzug reduziert werden, profitieren dadurch nach Einschätzung von Dohmen und Himpele vor allem Eltern mit vergleichsweise hohem Einkommen. Abgesehen davon, dass eine Kürzung des Kindergeldes ihren Finanzplan ohnehin nicht irreparabel aus dem Gleichgewicht bringen würde, können sie den Verlust unter den momentanen Bedingungen durch eine höhere Entlastung bei den Kinderfreibeträgen kompensieren. Für einkommensschwache Familien sieht die Lage anders aus. Sie bekommen weniger Kindergeld, haben aber keinen Vorteil von der Refinanzierung der Schulkosten, weil sie von ihnen in vielen Fällen ohnehin befreit sind. Auch Eltern, die ihre Kinder selbst verpflegen und für sie keine öffentlichen Verkehrsmittel in Anspruch nehmen müssen, sind klar im Nachteil – ihre Kosten bleiben, während das Kindergeld sinkt.

Neben den skizzierten Folgen für die jeweiligen Eltern rechnen die Autoren mit erheblichen Umverteilungswirkungen zwischen den einzelnen Bundesländern sowie zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Die ost- und süddeutschen Länder könnten nach einer entsprechenden Reform aller Voraussicht nach beträchtliche Kosten sparen. Gleiches gilt für den Bund, doch in Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen kämen deutliche Mehrausgaben auf die zuständigen Finanzminister zu.

Dohmen und Himpele plädieren deshalb dafür, die Kürzung des Kindergeldes mit einer Kürzung oder kompletten Streichung des Freibetrags für Betreuung, Erziehung und Ausbildung schulpflichtiger Kinder zu kombinieren.

Soziale Grenzen regeln den Zugang zu Bildungsgütern

Dass die Lasten damit gerechter verteilt würden, liegt auf der Hand, aber natürlich reicht eine solche Maßnahme keineswegs aus, um die soziale Schieflage, die gerade das deutsche Bildungssystem kennzeichnet, zu begradigen. Es gibt nicht mehr viele Länder in Europa, in denen die familiäre Herkunft, der Bildungsstand der Eltern, deren gesellschaftliche Stellung und finanzielle Situation so unmittelbar den Ausbildungs- und späteren Lebensweg der Kinder beeinflussen und determinieren (Wege aus dem Bildungsnotstand). Derzeit gelingt nur 14 Prozent aller Kinder, deren Eltern eine Hauptschule besucht haben, der Sprung auf das Gymnasium. Bei den Zöglingen von Abiturienten liegt die Quote dagegen bei 68 Prozent.

Verschiedene internationale Studien haben diesen Zusammenhang immer wieder deutlich gemacht. So belegte die Erhebung PISA 2003 „eine sehr enge Kopplung zwischen der sozialen Herkunft und der mathematischen Kompetenz“.

Die Unterschiede in der sozioökonomischen und kulturellen Herkunft sind mit ausgeprägten Unterschieden in der mathematischen Kompetenz verknüpft. Schülerinnen und Schüler derselben Schulform besitzen je nach ihrem elterlichen Hintergrund einen Kompetenzvorsprung von bis zu zwei Schuljahren. Vergleicht man etwa das oberste mit dem untersten Quartil der sozialen Herkunft in den Integrierten Gesamtschulen, so ergibt sich eine Differenz von 76 Kompetenzpunkten.

PISA 2003

Dabei zeigen Beispiele aus anderen Ländern eindrucksvoll, dass eine größere Chancengleichheit keineswegs mit Qualitätseinbußen verbunden sein muss. Im Gegenteil.

Bemerkenswert im internationalen Vergleich ist, dass eine Entkopplung von sozialer Herkunft und erreichter Kompetenz keineswegs mit Einbußen im durchschnittlichen Leistungsniveau der Staaten verbunden ist. In einer ganzen Reihe von Staaten werden ausgezeichnete Bildungsergebnisse bei einer – im Vergleich zu Deutschland – deutlich schwächeren Kopplung von sozioökonomischem, kulturellem Status und mathematischer Kompetenz erreicht.

PISA 2003

Misserfolge sind vorprogrammiert

Der Bamberger Sozialwissenschaftler Thorsten Schneider hat im Auftrag des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung den Zusammenhang von Herkunft und Bildungsweg soeben noch einmal aus einer anderen Perspektive beleuchtet. In seiner Untersuchung Does the effect of social origins on educational participation change over the life course?, die auf Daten der Längsschnittstudie Sozio-ökonomisches Panel basiert, geht er der Frage nach, ob neben dem Zugang auch der vorzeitige Abgang vom Gymnasium durch soziale Faktoren bedingt sein könnte.

Tatsächlich geben die 3.003 von Schneider analysierten Bildungsbiografien eine eindeutige Antwort. Im Verlauf von sechs Jahren brechen 35 Prozent der Kinder aus bildungsfernen Familien ihre Gymnasialausbildung ab - wenn mindestens ein Elternteil Abiturient war, liegt die Quote nur noch bei 20 Prozent.

Über den späteren Lebensweg der Kinder entscheiden aber nicht nur die Abschlüsse ihrer Erzeuger. Auch die Vorbildfunktion kultureller Aktivitäten, politischen Interesses oder gesellschaftlichen Engagements beeinflusst ganz offenbar die Bildungschancen nachfolgender Generationen. Schneider hat errechnet, dass 59 Prozent aller Kinder ein Gymnasium besuchen, deren Mutter mindestens einmal im Monat in die Oper geht, eine andere Theateraufführung oder eine Kunstausstellung besucht. Wenn sie sich nicht für diese oder ähnliche Aktivitäten begeistern kann, sinkt die Quote um 42 auf nur noch 17 Prozent.

Unter diesen Umständen wäre eine weitere Belastung einkommensschwacher und bildungsferner Familien in jeder Hinsicht kontraproduktiv. Um in der Familien- und Bildungspolitik positive Akzente zu setzen, bedarf es stattdessen gezielter Fördermaßnahmen in Form von frühkindlichen Lern- und Betreuungsprogrammen, mehr Ganztagsschulen oder sozio-kulturellen Angeboten in den lokalen Problembereichen.

Dabei muss es in erster Linie darum gehen, den Kreislauf aus schlechten Noten, abgebrochenen Ausbildungen sowie Arbeits- und Perspektivlosigkeit zu durchbrechen. Zeitgleich stellt sich die Aufgabe, auch für gut- und besserverdienende Paare neue, attraktive Modelle zu entwerfen, wie Arbeit und Kindererziehung miteinander vereinbart werden können. Wer über größere finanzielle Spielräume verfügt, ist damit nicht automatisch aller Sorgen ledig.

Ob der Staat allein all diese Defizite beheben kann, erscheint in den Regierungszeiten einer großen Koalition, der nicht nur der Mut zu grundlegenden Veränderungen, sondern schon der zu deutlichen Akzentsetzungen fehlt, mehr als fraglich. Aller Voraussicht nach werden sich die Bürgerinnen und Bürger selbst sehr viel entschiedener für ihre eigenen Zukunftsperspektiven und die der nachfolgenden Generationen einsetzen müssen. Persönliches Engagement und nachbarschaftliche Solidarität könnten so bald wieder Teil der gesellschaftlichen Überlebensstrategie werden.