Der islamische Fundamentalismus ist ein absolut modernes Phänomen

Interview mit Mokhtar Ghambou von der Yale Universität

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Bürgerkrieg im Irak, Widerstand in Afghanistan, ein zerstörter Libanon und Terroranschläge in der ganzen Welt. Das US-Doppelpaket mit dem "Krieg gegen den Terror" und dem "Neuen Mittleren Osten" hat statt Frieden Krieg und Elend gebracht. Ein Gespräch mit Mokhtar Ghambou über die Hintergründe von Terror und Islam. Wer wird Terrorist? Wie leben arabische Immigranten in den USA? Warum gibt es Sympathie für „Märtyrer“ in der arabischen Welt? Der 42-jährige Ghambou lehrt Orientalismus an Yale Universität in New York und ist Leiter des Marokkanisch-Amerikanischen Instituts. Seine Doktorarbeit wurde noch von Edward Said betreut, der 2003 verstarb und wohl der renommierteste, arabische Intellektelle im Westen wie Osten war.

Vor kurzem wurde in Großbritannien wieder ein Terroranschlag radikaler Muslime vereitelt. Kann so etwas auch in den USA passieren?

Mokhtar Ghambou: Heute ist alles möglich. Terrorismus kennt keine Grenzen. Aber in den USA halte ich so etwas eher für unwahrscheinlich. Historisch gesehen hat der Islam hier keine ähnlich lange Tradition wie in Großbritannien. Die ersten Araber kamen zwar zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Amerika, die meisten jedoch waren Christen. Heute sind Afroamerikaner die größte Gruppe innerhalb der arabischen Community. Außerdem fühlen sich Muslime in den USA, wie andere Immigranten ebenfalls, nicht so sehr von der Gesellschaft ausgegrenzt.

Hatte sich das nach dem Anschlag auf die Twin Towers nicht geändert?

Mokhtar Ghambou: Im gewissen Sinne ja. Aber die Marginalisierung von Muslimen in Europa und in den USA ist nicht gleich. Terroristen oder radikale Imame kommen aus anderen Ländern, sie sind nicht in den USA geboren. Manche mögen islamischen Fundamentalismus predigen, aber der entscheidenden Punkt ist, wann Ideologie in Aktion umschlägt. Hassprediger, die vor dem Teufel warnen, hat es in den USA schon immer gegeben. Das ist nichts Neues.

Wann verwandelt sich Ideologie in Aktion?

Mokhtar Ghambou: Extreme Ausgrenzung, Frustration, Indoktrination und eine gehörige Portion Dummheit, wenn man glaubt, dass Gewalt der einzige Weg ist. Zusammen genommen, ein sehr komplexes Phänomen.

Welche Rolle spielt die Außenpolitik der US-Regierung bei der Radikalisierung?

Mokhtar Ghambou: Vor 11. September fühlten sich Muslime in Amerika nur indirekt von der US-Außenpolitik betroffen. Danach wurde die Außenpolitik zur Innenpolitik. Die Immigranten in den USA waren plötzlich, wie auch die gesamte muslimische Welt, direkte Angriffsziele. Nach 9/11 kann man nicht mehr von Außenpolitik sprechen, Terrorismus ist als Problem genauso in New York, wie im Mittleren Osten oder in Südafrika allgegenwärtig.

Wie wird die USA fünf Jahre nach 9/11 wahrgenommen?

Mokhtar Ghambou: Das Verhältnis der arabischen Welt und den USA war schon immer problematisch. Muslime glauben, die USA sei der verlängerte Arm Israels. Hinzu kommt, dass die USA nach dem Fall der Sowjetunion die einzige bestimmende Militärmacht ist. Früher waren muslimische Immigranten stolz darauf, aus den USA zu kommen. Bereits nach dem ersten Golfkrieg hat sich das gewandelt. Alles was danach kam, hat dieses negative Gefühl noch verstärkt.

Ein Gefühl der Demütigung, Opfer und Spielball einer übermächtigen Macht?

Mokhtar Ghambou: Ja, es geht um Stolz und Würde. Ein Nährboden für Fundamentalisten, die scheinbar einen Ausweg aus dem Dilemma der Machtlosigkeit liefern. Plötzlich offeriert jemand eine Technik, mit der man mit der Weltmacht USA konkurrieren kann. Gewalt erzeugt Aufmerksamkeit, versetzt in Angst und Schrecken und gibt das Gefühl in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können und so wichtig zu sein.

Ein Weg die verlorene Identität wieder herzustellen?

Mokhtar Ghambou: Identität entwickelt sich durch Auseinandersetzung. Die meisten Terroristen kommen aus der Mittelschicht, die großen Wert auf Bildung, Erziehung und die Identität legt. Diese Leute glauben berechtigt zu sein, den Westen herauszufordern.

Gibt es einen Unterschied in der Radikalität von arabischen Immigranten im Westen und Muslimen im Mittleren Osten?

Mokhtar Ghambou: Die radikalen Moslems in Westen können leichter strategische Ziele in New York, Paris oder London angreifen. Die radikalen Moslems im Mittleren Osten schienen bisher eher isoliert und weit genug weg zu sein, um im Westen jemand zu bedrohen. Aber die Ereignisse in London haben bewiesen, dass diese Theorie falsch ist. Mittlerweile wird importiert und exportiert, wie eben alles andere auch. Die Umstände und Schauplätze mögen unterschiedlich sein, aber nicht die Ideologie.

Die Attentäter, die in London verhaftet wurden und ein unvorstellbares, schreckliches Szenario vorbereiteten, glaubten, damit die Welt zu verbessern.

Mokhtar Ghambou: Jede Ideologie hat eine Botschaft und will die Welt verbessern. Die islamischen Fundamentalisten würden sich nie als solches bezeichnen. Sie sprechen von Wahrheit und Gerechtigkeit für die Menschheit. Die Überzeugung kommt davon, dass sie heilige Bücher haben, die Jahrhunderte alt sind.

Würden Sie den gegenwärtigen islamischen Fundamentalismus als „modern“ bezeichnen?

Mokhtar Ghambou: Ja, es ist ein absolut modernes Phänomen. Ich würde gerne religiöse Bewegungen mit Faschismus und anderen destruktiven Ideologien vergleichen. Dabei wären die Positionen interessant, die zum „Clash“ mit dem Gegebenen führen. Da geht es bekanntlich um Nation, Identität und andere Dinge, die alle moderne Termini sind.

In der arabisch-muslimischen Welt kann man T-Shirts, CDs und Kassetten von Bin Laden kaufen. Märtyrer erfreuen sich relativ großer Beliebtheit, was im Westen nur schwer zu verstehen ist.

Mokhtar Ghambou: Wir leben in einer Welt der kulturellen Simulation, wo man sich mit Soundbits identifiziert. Für viele Muslime haben Terroristen ein positives Image, was jedoch nicht mit aktiver Unterstützung verwechselt werden darf. Es ist mehr als Symbol zu werten. Die USA steht für eine Akkumulation aller Ungerechtigkeiten, angefangen beim Kolonialismus bis heute. Das ist etwas Emotionales. Konkrete terroristische Aktionen sind etwas anderes. Auch in Argentinien hingen vor ein paar Jahren noch Bin Laden Poster.

Also alles ganz menschliche Reaktionen?

Mokhtar Ghambou: Frustration, die vor dem Fernseher nach einem wie immer gearteten Sieg wartet. Wer würde nicht symbolisch jemand unterstützen, der seinen Feind bekämpft. Dieses Phänomen existiert nicht nur beim Terrorismus. Es gibt viele Symbole, denen man nachhängt, so lange sie einem helfen oder das Gefühl geben, ein Sieger zu sein.

Also wieder Stolz und Würde?

Mokhtar Ghambou: Wenn in Afghanistan ein Flugzeug abgeschossen wird, kann jemand Tausende von Kilometern entfernt, vielleicht in Algerien, Genugtuung spüren. Ihm ist plötzlich ein Stück seiner Würde wieder gegeben, obwohl er mit Afghanistan absolut nichts zu tun hat. Jemand hat ihm eine Stimme gegeben. So funktionieren politische Symbole oder politische Symbolhandlungen. Leider auch bei vielen Menschen in der islamisch-arabischen Welt, die sich marginalisiert fühlen.

Welche Rolle spielt diese Art von „Würde“ im Verhältnis zu Israel?

Mokhtar Ghambou: Die Gründung Israels 1948 erzeugte ein Gefühl der Ohnmacht, wie es die Auseinandersetzung mit dem Westen im 18. und 19. Jahrhundert und der Kolonialismus ausgelöst hatten. Ein Gefühl von Verlust, ja sogar von einer Niederlage der eigenen Zivilisation. Israel wurde als Teil des Westens betrachtete, nie als Teil des Orients.

Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, legt diesen historischen Wunden derzeit panarabischen Balsam auf. Er wird mit Abdel Nassar, dem legendären ägyptischen Präsidenten der 50er und 60er Jahre verglichen.

Es gibt große Unterschiede zwischen beiden. Der eine war Sozialist, der andere ist ein streng islamischer, religiöser Führer. Trotzdem haben beide ein ähnliches Image. Sie gaben der arabischen Welt ein Stück Würde und Freiheit zurück, das der regionalen Supermacht Israel abgerungen wurde.

Durch Nasrallahs Erfolg scheinen auf wundersame Weise selbst sektiererische Streitigkeiten zwischen Sunniten und Schiiten verschwunden. Ein neuer Panarabismus?

Nasrallah wird nicht als schiitischer Geistlicher wahrgenommen. Bei seinen Fernsehansprachen während des Kriegs präsentierte er sich nie als libanesischer Schiit. Immer versuchte er sich als panarabischer Held darzustellen, der für die Ummah, die gesamte Gemeinschaft der Muslime, kämpft. Nasrallah war sich gewiss der historischen Tragweite bewusst und rechnete mit dem Mythos von Abdel Nasser.

Vor wenigen Tagen fanden erneut Pro-Hisbollah-Demonstrationen in Kairo statt, bei denen es gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei gab. Besteht eine fundamentalistische Gefahr für die Regime in Ägypten und Jordanien, die mit Israel einen Friedensvertrag haben?

Mokhtar Ghambou: Das glaube ich weniger. Problematisch war die Haltung Ägyptens gegenüber dem Krieg im Libanon. Kritiker würden sagen, Ägypten hat Israel grünes Licht für den Angriff gegeben. Andere wiederum warnen vor einer „schiitischen Renaissance“, die sich vom Irak und Libanon auf andere Länder der Region ausbreiten könnte. Ich denke, es gibt höchstens eine politische Bedrohung, die mit Demokratie und einem Staat zu tun hat, der die Meinung seiner Buerger repräsentiert.

Sie lehren Orientalimus an der Yale Universität. Ihr Doktorvater war Edward Said. Gibt es Unterschiede, wie ein arabischer und ein westlicher Professor unterrichten?

Mokhtar Ghambou: Unterschiede gibt es immer. Wichtig ist, dass man aus multiplen Perspektiven unterrichtet. Dann spielt es keine Rolle, woher man kommt. Früher wurde untersucht, wie der Osten im Westen repräsentiert wird. Heute reicht das nicht mehr aus. Man muss auch prüfen, wie der Westen im Osten verstanden wird. Ich versuche das Feld zu öffnen.

Wie ist es mit den kulturellen Vorurteilen, die die arabische Orientalismus-Forschung den Wissenschaftlern aus dem Westen unterstellte?

Mokhtar Ghambou: Man muss sehr kritisch mit sich selbst und seiner Arbeit umgehen. Nur mit einem säkularen, intellektuellen Vorgehen werden eingefahrene Vorstellungen entlarvt. Danach erst ist es möglich, sich zu begegnen und ein Dialog zu eröffnen. Vor dem 11. September wurde viel vom „Global Village“ gesprochen. Wir sollten diesen Begriff neu aufgreifen und die Welt in ein Dorf verwandeln, das uns allen gehört.

Von Alfred Hackensberger ist im Heinz Wohlers Verlag gerade das Buch Arabien Remixed: Tanger - Beirut erschienen.