Hamas weiß nicht mehr weiter

Angestellte der Palästinensischen Autonomiebehörde rufen zum Generalstreik auf

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Für 760.000 palästinensische Schüler in Westjordanland und Gazastreifen wird nächsten Samstag das neue Schuljahr nicht beginnen, sollten ihre Lehrer ihre Gehälter nicht bekommen. Trotz der Drohungen seitens der Hamas-Regierung erneuerten die Angestellten öffentlicher Bildungseinrichtungen letzten Freitag ihre Absicht, am 2. September nicht zum Dienst zu erscheinen.

„Wir haben seit März kein Gehalt bekommen“, so ein Vertreter der Generalunion der Lehrer. „Über 35.000 Beamte im Bildungssektor sind seit einem halben Jahr ohne Einkommen. Wir sind verschuldet. Unsere Reserven sind am Ende.“ Dazu komme, dass weder die Hamas-Regierung, noch Präsident Mahmud Abbas (Fatah) öffentlich Anteil an der Lage ihrer Bürger nehmen. „Ein halbes Jahr Arbeit und nicht einmal ein Dankeschön“, beklagen sich die Lehrer.

Auch andere öffentliche Sektoren werden bestreikt. Mediziner wollen nur noch Notfälle behandeln. Einige Krankenhäuser fahren bereits auf Sparflamme. Angestellte anderer Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) hielten in der vergangenen Woche Warnstreiks ab.

Die palästinensische Tageszeitung Al Quds berichtete am Sonntag, dass die Mehrheit der Schüler, die dieses Jahr das Abitur (Tawjihi) machten, nicht studieren könnte, weil die Familien für Bildung kein Geld mehr übrig haben. Dazu kommt, dass Stipendienprogramme nicht mehr finanziert werden können. Der stellvertretende Bildungsminister geht trotzdem nicht von einem Zusammenbruch des Bildungssystems aus. „Der Streik sollte sich gegen die Besatzung richten, nicht gegen die PA“, sagte er und bestätigte, dass die Finanzen bis nächste Woche stehen. Die lokalen Banken arbeiten auf Druck der internationalen Gemeinschaft jedoch nicht mit der Hamas-Regierung zusammen. Die einzige Möglichkeit, Geld ins Land zu bringen, ist der Schmuggel, so wie das Finanzminister Mahmud Zahhar bereits vorführte. Er spazierte mit Koffern voller Dollar-Noten über die Grenze in Rafah (Gazastreifen-Ägypten). Die dort stationierten EU-Beobachter und Israel protestierten. Heute ist die Grenze meist geschlossen.

Zusammenbruch des Bankensystems

Den Gehaltsversprechungen glaubt in den besetzten Gebieten auch keiner mehr. Mehrere Minister kündigen immer wieder an, dass die Gehälter „morgen“ bezahlt werden. Auch für diese Woche ist wieder eine „Vorauszahlung auf die Gehälter“, wie die teilweise Zahlung eines Monatslohns genannt wird, prophezeit. Diese „Vorauszahlung“ wird zum „Test für die Beziehung der PA und den Banken“, schreibt Ja´far Sadqah in der Zeitung Al Ayyam am Montag. Einerseits kündigt die Regierung immer wieder Zahlungen an, die Banken zahlen jedoch nichts aus (weil sie kein Geld erhielten). Viele Angestellte machen mittlerweile die Banken für die Finanzkrise mitverantwortlich. Einige Banken wurden bereits angegriffen.

Darüber hinaus haben sich alle Banken bereit erklärt, die Schulden ihrer Kunden zu stunden. Sie selbst bezahlen jedoch weiterhin Zinsen und verringern dadurch ihr Arbeitskapital; eine Situation, die im März 2007 zum Zusammenbruch des palästinensischen Bankensystems führen wird, so Al Ayyam.

So steht derzeit nicht nur der Fortbestand der Hamas-Regierung auf dem Spiel, sondern auch der der Autonomiebehörde und der rudimentären Wirtschaft. Nach einem Zusammenbruch bietet sich entweder der Kampf um Gleichberechtigung für Palästinenser in einem israelischen Staat an oder der Versuch, Israel wieder mit Gewalt zu bekämpfen. Die Milliarden internationaler Hilfsgelder, die seit 1993 flossen, wären vergeudet. Ein Frieden im Nahen Osten erneut um Jahrzehnte verschoben.

Hamas braucht Koalitionspartner

Die Hamas-Regierung hat nun auf sich selbst gestellt zumindest keine Chancen mehr. Seit ihrer Amtsübernahme im März bleiben internationale Hilfsgelder aus. Und Israel überweist die Mehrwertsteuer nicht mehr, etwa 50 Millionen Euro monatlich; Einnahmen aus dem palästinensischen Warenverkehr, der vollständig über Israel abgewickelt werden muss. So konnte die Regierung im letzten halben Jahr zusammengerechnet nur etwa einen Monatslohn für ihre 160.000 Angestellten aufbringen. In den vergangenen Wochen kündigte Premier Ismail Haniya zwar immer wieder an, alle Gehälter „in Kürze“ zu bezahlen. Materialisiert hat sich diese Versprechung aber nicht.

Der Beamtenapparat wurde von der Vorgängerregierung unter Jassir Arafat (Fatah) aufgeblasen, um die Arbeitslosenzahlen zu senken. Und die Zusammenarbeit mit der Fatah scheint für die Hamas momentan der einzige Weg aus der Krise. Eine zweite Möglichkeit wäre die Auflösung der Autonomiebehörde. Das fordern Politiker aus Hamas und Fatah immer wieder. „Warum sollen wir oder die internationale Gemeinschaft die Kosten der israelischen Besatzung bezahlen“, heißt es. Ernsthaft diskutiert wird die Auflösung der PA jedoch nie.

Aber der Weg zu einer Einheitsregierung ist jetzt frei. Die Hamas fordert die Beteiligung aller Parteien seit Amtsantritt. Die Fatah-Führung gab ihr Einverständnis am Freitag. „Vorbedingungen“ bestünden es nicht, so beide Bewegungen“, nur bisher ungenannte „Hemmnisse“. Komme es zur Einheitsregierung, sei allerdings in ein paar Monaten mit Neuwahlen zu rechnen, so die Lokalpresse zu den Zukunftsaussichten einer solchen Koalition.

Die Hauptsorgen der Bevölkerung sind momentan Geld für Nahrung, Kleidung und Schulsachen. Dafür ist man bereit, einiges zu erdulden. „Nein zu Haniya, bringt uns die Diebe wieder“, riefen Demonstranten in Nablus. Die Hamas-Regierung kann ihre Bevölkerung nicht versorgen, da will man lieber die von Korruption und Misswirtschaft geschüttelte, im Januar abgewählte Fatah wieder. Die garantiert nämlich wenigstens den Fluss internationaler Hilfe.