Computer für die Armen

Über die Aussichten der "One Laptop per Child"-Initiative

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Schritt für Schritt nähert sich das 100-Dollar-Laptop seiner Verwirklichung. Die ersten Prototypen sind angefertigt, die ersten Verträge sind unterzeichnet. In Thailand soll das Projekt starten. Die Frage, was das Ganze soll, ist freilich noch unbeantwortet.

Seit Nicholas Negroponte und einige andere leitende Mitarbeiter des MIT die Entwicklung eines Kinderlaptops vorgeschlagen haben, das etwa 100 Dollar kosten und in den strukturschwachen Gebieten der Dritten Welt zum Einsatz kommen soll, ist nun auch schon einige Zeit vergangen, und das Projekt hat sich erstaunlich gut entwickelt.

Die Hardwarespezifikationen sind weitgehend geklärt. Neben der immer wieder in den Medien erwähnten Wiederaufladbarkeit per Hand- oder Fußkurbel kommen noch eine ganze Reihe anderer Systemanpassungen zum Tragen, wie zum Beispiel Bildschirme, die sowohl in sehr energiesparenden Schwarzweiß- als auch in Farbmodi betrieben werden können. Da sie konsequent für den Einsatz außer Haus ausgelegt werden sollen, müssen OLPC-Bildschirme unter Sonneneinstrahlung besser lesbar sein, als man das von Laptops gewohnt ist. Das Gerät soll unempfindlich gegen Wasser und Staub sein, als Massenspeicher RAM-Chips statt einer Festplatte benutzen, unter 1,5 Kilogramm wiegen und ein stabileres Gehäuse besitzen als die meisten marktüblichen Laptops.

Das sind ehrgeizige Ziele, vor allem bei dem angestrebten Preis, aber die Systementwickler sind dabei, sie zu erreichen - es existieren mittlerweile einige Designs, die viele der geforderten Merkmale aufweisen.

Das einzige Stück moderner Elektronik im weiten Umkreis

Von der Hardwareseite wirkt der Kinderlaptop für die arme Welt wie eine radikalisierte Form von Kleinrechner-Konzepten, die in der reichen Welt aus verschiedenen Gründen nur bescheidenen Erfolg hatten - man denke nur an den Atari Portfolio, den Apple eMate 300und den Brainium DreamMax.

Der OLPC-Rechner soll jedoch auch anspruchsvolleren Anforderungen genügen. So sind die Maschinen zum Beispiel "out of the box" so angelegt, dass sie miteinander drahtlose Netzwerke bilden können - zusätzlich zu ihrer WLAN-Fähigkeit. Was für eine Technologe dabei zum Einsatz kommen soll, scheint noch nicht ganz geklärt zu sein.

Man muss bedenken, dass der OLPC-Rechner, dort wo er auftaucht, kein Zweitgerät für den mobilen Einsatz, sondern der einzige Rechner für einen ganzen Familienzusammenhang sein wird, wenn nicht gar das einzige Stück moderner Elektronik im weiten Umkreis. Bei Testläufen in Kambodscha fiel auf, dass der Bildschirm des Laptops der hellste Gegenstand im ganzen Haus war.

Konsequent mit Open-Source-Programmen

Was die Software angeht, so setzen Negroponte und seine Leute konsequent auf Open-Source-Programme. Das macht Sinn, denn wer würde schon die jungen Laptopbesitzer, kaum, dass sie sich mit ihren Rechnern vertraut gemacht haben, an proprietäre Urheberrechtsansprüche ketten wollen, die ihnen gleich wieder die Hände binden? Sind doch genau diese Urheberrechtsansprüche in sehr sensiblen Bereichen eines der größten Probleme der armen Welt, wie das Beispiel AIDS-Medikamente zeigt (vgl. Patent ausgebremst).

Freilich löst die Open-Source-Strategie beim OLPC-Rechner das Grundproblem der Open-Source-Software in einer Welt der geschlossenen Gesellschaften nicht: dass sie sich nämlich aufgrund ihrer Qualität und ihrer kostengünstigen Bereitstellung in ganz besonderem Maß dafür eignet, von den jeweils Herrschenden in Besitz genommen und für Zwecke missbraucht zu werden, die schon ihrem Minimalanliegen (Informationsfreiheit) krass widersprechen.

Und dieser Webfehler betrifft das ganze Projekt. China, eines der Länder, das sich für den 100-Dollar-Laptop interessiert, ist nun nicht gerade als ein Förderer der Informationsfreiheit bekannt. Dass die Chinesen mit einer OLPC-gestützten Volksbildungskampagne etwas anderes im Sinn haben als die Befreiung der armen chinesischen Landbevölkerung darf angenommen werden. Das Problem ist nicht eines des Designs.

Kein Wundermittel gegen Armut

Nicht nur die Hardware des Geräts macht einen gut durchdachten Eindruck, man hat auch mit Leuten wie Seymour Papert und Alan Kay Interface-Experten an Bord, die wie kaum jemand anders über das menschliche Lernen im Zusammenhang mit Computern Bescheid wissen. Und dass auch Analphabeten mit kostengünstig zur Verfügung gestellten Computer- und Netzkapazitäten etwas anfangen können, ist durch Feldversuche bewiesen.

Das Problem ist viel eher das des politischen Kontexts, in dem die Computer für die Armen wirken sollen. Die OLPC-Aktiven betonen, dass sie nicht glauben, ihr Gerät sei ein Wundermittel gegen Armut.

Aber was, wenn es ein Wundermittel für Armut wäre? Wenn die Cleverles, die seinen Charakter als Produktionsmittel besser erkennen als die anderen, es nur zum Aufbau von Unternehmen benutzen, die ihre Landsleute genau so hart ausbeuten wie die gut eingeführten Zulieferer von Konzernen aus dem Norden? Oder sogar härter, weil die Konkurrenz der Alteingesessenen das verlangt?

Naiver Glaube an die Macht der Bildung

Was, wenn die wunderbar altruistische Aktion mit Grassroots-Appeal letztlich auf nichts anderes hinausläuft, als auf die Mobilisierung bisher ungenutzter intellektueller Ressourcen im Dienst des Nordens, der erst die ohnehin schwachen Haushalte von Drittweltländern durch die 100-Dollar-Laptops weiter belastet und später das Humankapital abschöpft, das ihm nutzt?

Oder was, wenn letztendlich nichts weiter dabei herauskommt als ein satter Gewinn für die Firma, die die Laptops herstellt, während die quietschbunten Kinderlaptops auf Drittweltdeponien vergammeln und mit ihnen die letzten Spargroschen, die die betreffenden Länder für sie ausgegeben haben?

Nein, natürlich muss es nicht so kommen. Aber es ist wichtig, sich diese Fragen zu stellen, und das tut die OLPC-Inititative eindeutig nicht in ausreichendem Maß. Das ganze Projekt ist von einem naiven Glauben an die Macht der Bildung als solcher getragen, an die Inhalte, die Ziele und den Kontext der Bildungsanstrengung werden kaum Gedanken verschwendet.

Die Schwächen der traditionellen Entwicklungspolitik liegen schon lange zutage. Da ist es schon einmal ein oder zwei Gedanken wert, wie man die Chancen der Bevölkerung in den armen Ländern auf eine bessere Zukunft erhöhen kann, indem man direkt bei ihr ansetzt, und es kann wohl kaum Zweifel geben, dass Bildung im Allgemeinen und Computer im Besonderen eine wichtige Rolle dabei spielen könnten.

Wo soll sie denn später hin?

Aber wenn diese Bildung stattfindet - wo soll sie denn später hin, in kaputten politischen Systemen, die ihr entweder misstrauen, sie missbrauchen oder gar nichts mit ihr anzufangen wissen, weil die nötigen Ressourcen nicht da sind?

Sollte der junge Erwachsene, der sich mit Hilfe eines 100-Dollar-Laptops seine Universität selbst zusammengesucht hat, vielleicht beim organisierten Verbrechen, bei Warlords, oder bei Diktatoren anheuern? Oder sollte er lieber gleich auswandern, um vielleicht zu den gut ausgebildeten und hochmotivierten Migranten zu gehören, die der Norden gerne nimmt, während die weniger brauchbaren Landsleute im Mittelmeer oder im Atlantik ertrinken dürfen?

Diese Art der Technikfolgenabschätzung scheint die Leute um Negroponte wenig zu belasten. Stattdessen sind sie der Überzeugung, dass die Lösung des Problems in einer riesigen Materialschlacht besteht - denn die fünf bis zehn Millionen 100-Dollar-Laptops der ersten Generation sollen ja erst der Anfang sein, Negroponte denkt bereits in anderen Quantitäten:

100 Millionen Stück von überhaupt irgend etwas herzustellen, ist eine Riesenaufgabe.Das ist nicht nur ein Problem der Lieferketten, sondern auch eines des Designs selbst.
Die Größenordnung ist schwindelerregend, aber mich erstaunt, was uns einige Firmen vorschlagen. Es fühlt sich an, als sei mindestens die Hälfte der Probleme durch bloße Entschlossenheit zu lösen.

Wieviel Prozent seiner Entschlossenheit möchte er der Lösung der politischen Probleme widmen, die seine Idee in der Ausführung sehr schnell in einen Alptraum verwandeln könnten? Man braucht die OLPC-Initiative nicht zu verspotten, wie es jüngst Bill Gates aus sehr durchsichtigen Motiven getan hat.

Würde sich sein Spott doch sofort in Begeisterung verwandeln, wenn die Dritte Welt mit windowsbasierten Billiglaptops überschwemmt werden sollte, für deren Entwicklung er keinen Cent ausgegeben hat. Aber eine gesunde Skepsis ist angebracht.

Wahrscheinlich werden sehr interessante Dinge die Folge sein, wenn das 100-Dollar-Laptop die Verbreitung findet, die seine Entwickler ihm wünschen. Man kann schon auf die Kunstwerke gespannt sein, die Programme, die Systemlösungen, die dringend benötigten Innovationen zur Energieeinsparung, die von den Nutzern der Maschine erdacht und geschaffen werden. Aber dass das Elend der Dritten Welt dadurch auch nur gelindert wird, wenn die politischen Rahmenbedingungen und das Weltwirtschaftssystem so bleiben, wie sie sind, braucht niemand zu hoffen.