Afghanistan mehr denn je ein "failed state"

Das von der US-Regierung einst als Modell für ihre Befreiuungspolitik angepriesene Afghanistan versinkt weiter im Chaos, während eine Opium-Rekordernete eingefahren wurde; deutsche Soldaten sind für anstehende Kämpfe schlecht gerüstet

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Die deutsche Regierung sieht sich verpflichtet, im Libanon an der UN-Mission teilzunehmen. Vorsichtshalber sollen nur Marineeinheiten eingesetzt werden. Hier ist die Wahrscheinlichkeit gering, in Kämpfe verwickelt zu werden. Deutsche Soldaten sind im Kosovo (2.900) und Bosnien (880), aber auch am Horn von Afrika (260) und im Kongo (760) stationiert, wo man nicht weiß, wie die Lage dort werden wird. Vor allem aber sind über 2.600 Soldaten in Afghanistan. Dort hatte man sich beeilt, in den sicheren Norden zu gehen. Aber die Wirklichkeit des durch den militärischen Sturz des Taliban-Regimes nicht sehr veränderten failed state wird die deutschen Soldaten früher oder später in den Krieg ziehen. Dafür sind sie schlecht ausgerüstet, was sich nicht verändern wird, wenn die Beteiligung an der Libanon-Friedensmission nun auf 2.000 Mann aufgestockt werden soll.

Im August 2002 sagte US-Verteidigungsminister Rumsfeld in Vorbereitung für den Irak-Krieg und in Verklärung des Erfolgs in Afghanistan:

Wouldn't it be a wonderful thing if Iraq were similar to Afghanistan, if a bad regime was thrown out, people were liberated, food could come in, borders could be opened, repression could stop, prisons could be opened? I mean, it would be fabulous. The idea that Afghanistan should be held up as something that one would not want to have happen is just exactly opposite from the truth. Afghanistan is a model of what can happen if people are liberated and begin to try to elect their own people and people are allowed to vote who weren't allowed to vote and people are allowed to work who weren't allowed to work. It is a breathtaking accomplishment.

Auch US-Vizepräsident warb im Sommer 2002 für den Krieg und malte den Zuhörern jubelnde Iraker aus, wobei man sich fragen muss, ob die mächtigen Menschen an der Spitze der US-Politik vielleicht tatsächlich so simpel gedacht haben:

Some have argued that to oppose Saddam Hussein would cause even greater troubles in that part of the world, and interfere with the larger war against terror. I believe the opposite is true. Regime change in Iraq would bring about a number of benefits to the entire region. When the gravest of threats are eliminated, the freedom-loving peoples of the region will have a chance to promote the values that can bring lasting peace. As for the reaction of the Arab "street," the Middle East expert, Professor Fouad Ajami, predicts that after liberation, in Basra and Baghdad the streets are "sure to erupt in joy in the same way the throngs in Kabul greeted the Americans." … In other times the world saw how the United States defeated fierce enemies, then helped rebuild their countries, forming strong bonds between our peoples and our governments. Today in Afghanistan, the world is seeing that America acts not to conquer but to liberate, and remains in friendship to help the people build a future of stability, self-determination, and peace.

Noch 2004 bezeichnete US-Präsident Bush Afghanistan und Irak als Modelle für die gesamte Region:

Not long ago, outlaw regimes in Baghdad and Kabul threatened the peace and sponsored terrorists. These regimes destabilized one of the world's most vital -- and most volatile -- regions. They brutalized their peoples, in defiance of all civilized norms. Today, the Iraqi and Afghan people are on the path to democracy and freedom. The governments that are rising will pose no threat to others. Instead of harboring terrorists, they're fighting terrorist groups. And this progress is good for the long-term security of us all. …These two nations will be a model for the broader Middle East, a region where millions have been denied basic human rights and simple justice.

US-Präsident am 31. August: „The war we fight today is more than a military conflict; it is the decisive ideological struggle of the 21st century.” Bild: Weißes Haus

Jetzt klingt die Vorwärtsstrategie für den langen Krieg bereits ganz anders. Es geht nicht mehr um die positive Dominotheorie, nach der die anderen Staaten der Region den von den USA befreiten Ländern auf dem Weg zu Demokratie und freier Marktwirtschaft folgen, sondern dass sie im Fall von Afghanistan wieder oder im Fall von Irak erstmals zu Stützpunkten von autoritären islamistischen Regimes werden könnten. Dem schon einmal vorschnell proklamierten Sieg muss nun ein weiterer Sieg folgen, der aber jetzt heißt, die Niederlage abzuwenden, die in den einstigen Modellstaaten zu kommen droht. Bush in seiner Radioansprache am Wochenende, mit der er wieder zur Politik der Angst zurückkehrt:

If America were to pull out before Iraq can defend itself, the consequences would be disastrous. We would be handing Iraq over to the terrorists, giving them a base of operations and huge oil riches to fund their ambitions. And we know exactly where those ambitions lead. If we give up the fight in the streets of Baghdad, we will face the terrorists in the streets of our own cities. The security of the civilized world depends on victory in the war on terror, and that depends on victory in Iraq, so America will not leave until victory is achieved.

Während in Afghanistan gerade heftige Kämpfe toben, die Taliban wieder an Einfluss gewonnen haben, das politische System unterwandert ist von Warlords, Provinzfürsten und Drogenhändlern, rutschte der Irak immer weiter in den Bürgerkrieg hinein. Wirtschaftlich ist – trotz des potenziellen Öl-Reichtums im Irak - nicht viel geschehen, die weiter bestehende Armut und die große Unsicherheit treiben die Menschen zu den kriminellen Organisationen, Milizen oder bewaffneten Gruppen. In dem von Foreign Policy publizierten Index von „failed states“ gehören beide Länder zu den 10 instabilsten. Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Nach der „Befreiung“ von den jeweiligen Regimes wurde in beiden Fällen von oben eine politische Klasse etabliert, ohne zuvor einen politischen Friedens- und Integrationsprozess zur Einigung der Fraktionen und schnell den Wiederaufbau und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern.

In Afghanistan kam der von Bush versprochene, mit dem Marshall-Plan verglichene Aufbau schnell ins Stocken, im Irak versickerten die Gelder in Korruption und Sicherheit. Im Irak stützte man sich zunächst eher auf die Kurden und Schiiten, in Afghanistan hatte man schon im Krieg mit Warlords kooperiert, die schließlich auch ins Parlament gewählt wurden. In beiden Ländern gibt es schwer bewachte Green Zones, in Afghanistan ist eigentlich nur Kabul eine dank der ausländischen Truppen relativ gesicherte Insel im Land. Inzwischen haben die afghanischen Kämpfer die im Irak gegen die ausländischen Streitkräfte erprobten Strategien importiert, während der Widerstand breiter wird. Im Süden des Landes herrschen bereits wieder Zustände wie im sunnitischen Dreieck, haben sich Staaten im Staat gebildet. Täglich kommt es Kämpfen, die ausländischen Truppen reagieren vor allem durch kurzfristige militärische Operationen und durch Luftschläge, wodurch die Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten und das Ausmaß der Zerstörungen ansteigt und die Menschen zunehmend in die Hände der Aufständischen und Warlords treibt.

Five years ago Iraq and Afghanistan were both in the grips of violent, merciless regimes. Now they have democratically-elected governments, the dictators are gone, and 50 million people are awakening to a future of hope and freedom.

US-Vizepräsident Dick Cheney am 29. August

Die Lage ist außer Kontrolle

Der Mohnanbau und die Opium-Herstellung sind, nachdem er vom Taliban-Regime zurückgefahren werden konnte, wieder zum Hauptprodukt der afghanischen Wirtschaft geworden, die ansonsten am Tropf der Hilfe aus dem Ausland hängt. Man schätzt, dass mindestens 35% des Bruttosozialprodukts aus dem Drogenhandel stammen. In allen Provinzen des Landes wird wieder Mohn angebaut, mehr als jemals zuvor. Das Land ist wirtschaftlich abhängig vom Opium und ist damit noch mehr in die Klauen der lokalen Milizen geraten, die ihre Gebieten kontrollieren, aber auch schützen und sichern, die den Zugriff der Zentralmacht ins Leere laufen lassen, den Aufbau einer Rechtsordnung verhindern und alles tun, um ihre Macht und Einkünfte aufrechtzuerhalten.

Nach dem eben erschienen Bericht des Office on Drugs and Crime der Vereinten Nationen hat die Opiumernte dieses Jahr um 50% gegenüber dem Vorjahr zugenommen. 2005 hatte man noch gehofft, weil in diesem Jahr weniger als in den Jahren zuvor angebaut wurde, den Trend umkehren zu können, was sich als zu optimistisch erwies, da letztes Jahr auch die Taliban oder Neo-Taliban-Gruppen wieder erstarkten. Mehr Opium als 2006 wurde noch nie in Afghanistan produziert, das damit weltweit an der Spitze liegt und praktisch ein Monopol besitzt. 92% des Opiums kommen aus Afghanistan, 2006 werden dies über 6.000 Tonnen sein, mehr als weltweit verbraucht wird. Bevor die Taliban den Opiumanbau bekämpften, lag der Rekord 1999 bei 4,600 Tonnen. Mittlerweile wird auf 400.000 Hektar Mohn angebaut, letztes Jahr waren es erst noch 260.000 Hektar. Antonio Maria Costa, der Leiter der UN-Behörde, nannte die Zahlen „alarmierend“, die auch belegen, dass die Maßnahmen gegen den Anbau nicht fruchten, selbst wenn 2006 gegenüber dem Vorjahr die Zahl der vernichteten Mohnfelder größer geworden ist.

Für den Anstieg machte Costa auch verantwortlich, dass sich im Süden des Landes, dem Hauptanbaugebiet, die Taliban mehr und mehr etabliert haben. Vermutlich handelt es sich um eine Wechselwirkung. Der Mohnanbau bringt in dem armen Land viel Geld und fördert die Herausbildung krimineller oder nicht-staatlicher Strukturen sowie staatlicher Korruption, während die Aufständischen oder Milizen, die Gebiete und Schmuggelwege kontrollieren, vom Drogenhandel profitieren, den Anbauern Schutz gewähren und den Anbau weiter fördern können. Costa sagte, die Lage sei „außer Kontrolle“.

Es ist derzeit absehbar, dass Afghanistan weiter in das Chaos rutschen und damit auch die nördlichen Provinzen unsicherer werden. Die deutschen Soldaten müssen sich daher nicht nur darauf einstellen, womöglich den anderen ISAF-Verbänden im Süden auszuhelfen, sondern auch im Norden vermehrt angegriffen und in Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Nach einem Bericht des Führungsstabes V des Verteidigungsministeriums, den die WELT erhalten hat, ist die Bundeswehr für diese „akute Bedrohung“, die der Führungsstab realistisch sieht, aber schlecht ausgerüstet. Die Zahl der Anschläge nimmt, so der Bericht, ebenso zu wie die „Enttäuschung und Unzufriedenheit der Bevölkerung“, während der „Einfluss ehemaliger Warlords und der organisierter Kriminalität“ und eine "akute Bedrohung durch gewaltbereite Kräfte" zu einer „grundlegenden Änderung der Lage“ führe.

Zum besseren Schutz sollen nun eine „gepanzerte Reserve“, bestehend aus Fuchs-Schützenpanzern, in Mazar-i-Sharif stationiert werden. Zudem sollen für Patrouillen mehr Geländefahrzeuge vom Typ "Wolf" eingesetzt werden. Allerdings würden Fuchs und Wolf keinen ausreichenden Schutz gegen Minen und Beschuss gewähren, der Bericht warnt: "Es ist nicht hinzunehmen, dass die Truppe mit unzureichend oder nicht geschützten Fahrzeugen ausgestattet ist." Das Einsatzungsführungskommando hatte auch Tornado-Flugzeuge zur Aufklärung angefordert, da die Drohnen nicht ausreichen. Das hat Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan jedoch abgelehnt. Aber nicht nur in den Fahrzeugen sind die Soldaten wenig sicher, auch die deutschen Lager bieten keinen Schutz, wie es in dem Bericht heißt: "Der Bedrohung durch Beschuss mit Artillerieraketen und Mörsergranaten kann das deutsche Einsatzkontingent in Afghanistan derzeit kein effektives Mittel zur Bekämpfung entgegenstellen." Hauptsächlicher Grund: mangelndes Geld. Prekär ist es etwa am Stützpunkt Feisabad. Der muss aus der Luft versorgt werden, aber die deutschen Transall-Maschinen und CH 53-Hubschrauber sind alt und unzuverlässig, so dass in einem Konfliktfall die Soldaten womöglich für längere Zeit auf sich alleine gestellt wären.