Mit Internetvideos über Nacht zum (unfreiwilligen) Star

Virale Videos - Teil IV

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Auf den ersten Blick scheinen die neuen Sozialen Netzwerke und Videoportale sehr verführerisch. Daten aller Art lassen sich einfach online publizieren, sind immer und überall verfügbar, vermitteln neue Kontakte und werden von einem ständig steigenden Publikum wahrgenommen. Die neue Generation von Webanwendungen und Portalen wirft aber auch Probleme im Bereich Datensicherheit und Informationelle Selbstbestimmung auf, über deren Konsequenzen die überwiegend jugendlichen Benutzer bislang noch zu wenig nachdenken.

Die Partizipation am Online-Video-Boom ist für viele ein Hobby unter vielen. Anderen bietet es ungeahnte und ungeplante Chancen, gleichsam über Nacht zum Star aufzusteigen. Die plötzliche Popularität kann aber auch ernsthafte und unangenehme Konsequenzen haben, die für die Teilnehmer nicht von vornherein absehbar sind. Die rasante virale Verbreitung ist vergleichbar mit einer Lawine, die ins Rollen geraten ist. Deshalb erfordert das einfache Publizieren und Verbreiten von Videos neue Medienkompetenz, die auf den Punkt gebracht, lautet, sich gut zu überlegen, was man auf Video aufzeichnet bzw. aufzeichnen lässt, wo man es aufbewahrt und ob man es veröffentlicht.

Nachfolgende Beispiele haben es nahezu alle mit langen Einträgen in der englischsprachigen Wikipedia als "Internet Phänomene" geschafft. Sie verdeutlichen die kreativen Möglichkeiten, aber auch die Risiken für die User.

Das "Star Wars Kid". Quelle

Das Grundrezept für den (Miß-)Erfolg ist fast immer dasselbe: Man nehme eine billige Videokamera, verwende das heimische Schlaf- oder Badezimmer als Drehort, portraitiere sich in einer exaltierten Situation, unterlege das Ganze mit einprägsamer Musik und versuche überhaupt, durch möglichst niedrige oder nicht existierende Produktion Values aufzufallen.

Achtung - Video nicht aus Versehen liegen lassen

Schon vor der YouTube-Ära wurden die Problem und Gefahren, die mit viralen Videos verbunden sind, eindrücklich illustriert. Ghyslain Raza, ein übergewichtiger Teenager aus Quebec filmte sich, als er einen Golfschläger wie ein Lichtschwert - wie Darth Maul aus "Star Wars" - wild tanzend um sich schwenkte. Wochen später fand ein Klassenkamerad das Videotape in einem Schulschrank und digitalisierte es. Die digitale Version wurde unter den Schulkameraden herum gemailt und von da an nahm das Unglück für Ghyslain Raza seinen Lauf und es entstand der bis jetzt größte Cyber-Mobbing-Fall. Ein weiterer Schüler erstellte eine Internetseite mit dem Video und nach kurzer Zeit wurde das Video zu einem Internethit. Die Seiten mit dem Video wurden bis Ende 2004 über 76 Millionen Mal besucht. [Bitte Bilder einfügen

Wo sich viele andere Teenager vielleicht über so viel Aufmerksamkeit und Zuspruch aus der ganzen Welt gefreut hätten, hatte Ghyslain nie beabsichtigt, dass das Video von seinen Klassenkameraden gesehen wurde. "I want my life back", klagte er in einem Email-Interview mit der National Post, einer kanadischen Tageszeitung. Denn für ihn bedeutete die unfreiwillige Berühmtheit, dass er sich nicht mehr öffentlich zeigen konnte ohne als "Star Wars Kid" verhöhnt zu werden. Das Mobbing ging soweit, dass er die Schule wechseln musste und sich in psychologische Behandlung begab, um den vom Mobbing ausgelösten Depressionen Herr zu werden.

Das "Star Wars Kid" Fan Art. Quelle

Einmal im Internet, erzeugte das Video eine Fülle von geklonten Versionen mit Ton und visuellen Effekten. Als die Fans mitbekamen, wie unglücklich ihr Protagonist über seinen Ruhm war, schlug ihm eine Welle an Sympathie entgegen: Einige sammelten Spenden für ihn, um ihm einen iPod zu schenken (den er bekam), wieder andere wandten sich an Lucas Film, mit der Bitte, ihm als Trost doch eine Rolle im nächsten "Star Wars"-Film zu geben, den Lucasfilm zu dieser Zeit gerade in Australien drehte (das klappte nicht).

Interessant an diesem Fall ist, dass jeder der an der Verbreitung beteiligten Schüler nur ein kleines Rädchen war, deren Handlungen erst in ihrer Kombination solch eine zerstörerische und verheerende Wirkung hatten. Nichtsdestotrotz wurden alle drei von Ghyslain Razas Eltern auf über $350 000 Schadensersatz verklagt und der Prozess erst vor kurzem mit einem Vergleich abgeschlossen.

Numa Numa

In der vernetzten digitalen Welt gibt es zahlreiche neue Möglichkeiten, sich ein Publikum zu erschließen und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Im Idealfall ist es im Netz möglich, nach dem Schneeballprinzip quasi über Nacht bekannt zu werden (den Versuch, dieses gezielt zu steuern, bezeichnet man als Viral Marketing).

Dass das nicht nur positive Seiten haben kann, musste der ebenfalls übergewichtige Gary Brolsma erfahren, der ein Flash-Video von sich mit dem Titel Numa Numa Dance, das ihn beim leidenschaftlichen Tanzen zum Song "Dragostea Din Rei" der rumänischen Band "O Zone" zeigte, auf dem Filmportal Newgrounds ablegte.

Gary Brolsma in "Numa Numa Dance"

Von Newgrounds wanderte das Video auf zahlreiche andere Seiten und von dort in die klassischen Medien u.a. in der New York Times wurde darüber berichtet. Begeisterte Fans drehten zahlreiche Klones und schließlich wurde es in diversen TV-Shows wie Best Week Ever und Today Show gezeigt. Newgrounds ist nur eine von vielen Websites, die eine ganze Sammlung von "Numa Numa"-Videos haben. Gary Brolsma hatte mit soviel unfreiwilliger Berühmtheit nicht gerechnet, wollte sich scheu zurückziehen, aber die einmal losgetretene Publicity-Lawine ließ sich nicht mehr stoppen. Mittlerweile scheint er sich an den Medienrummel gewöhnt zu haben, denn ein neues Numa-Video ist am 8. September 2006 erschienen und kann bei YouTube und seiner eigenen Seite angesehen werden.

Die Beispiele zeigen also, dass der Umgang mit viralem Material neue Medienkompetenzen erfordert: Viele User unterschätzen die Dynamik, die virale Videos entwickeln können. Wurde ein Video erst einmal im Internet veröffentlicht, lässt es sich nicht so einfach wieder entfernen, denn viele User begnügen sich nicht damit, Videos nur anzusehen. Sie speichern die Videos ab und laden sie dann an einer anderen Stelle wieder hoch. Deshalb finden sich von den beliebtesten Videos oftmals eine Vielzahl von Versionen auf den Videohosting-Seiten.

YouTube empfiehlt daher Mitgliedern in seinen Nutzungsbedingungen, sich die Veröffentlichung gut zu überlegen, und das Video ggf. als privat zu kennzeichnen und darauf zu achten, persönliche Information wie Telefonnummer und Adresse niemals anderen Usern gegenüber preiszugeben. Auch beim Inhalt des Videos gilt es darauf zu achten, dass nicht etwa Nummernschilder von Autos oder andere Bildinhalte Hinweise auf den Wohnort geben könnten. Das Szenario ist leicht vorstellbar, dass eine 20-Jährige hübsche Blondine, die in einem Video posiert, im realen Leben mal einen überraschenden Besuch von einem Fan erhält.

Aus den USA sind auch schon einige Fälle bekannt, bei denen die Arbeitgeber vor dem Bewerbungsgespräch oder der Einstellung soziale Netzwerke wie MySpace oder Videoseiten wie YouTube nach Informationen zum Bewerber durchsuchten. Einige brachte das ordentlich in Verlegenheit, als sie ihre Profile auf MySpace und Co. erklären mussten. In diesen Profilen prahlten sie mit einem ausschweifenden Nachtleben und veröffentlichten sorglos Fotos und Videos von ihrem letzten Rausch, was in diesen Fällen erhebliche Probleme mit sich brachte. Manche Firmen gehen noch weiter und kontaktieren die Freunde der Bewerber, die sie über die sozialen Netzwerke ausmachen und ziehen so Erkundigungen ein.

Doch nicht nur für Bewerber, sondern auch für Firmen und deren Angestellte birgt das Internet und die virale Verbreitung Gefahren. So gerieten vor kurzem AOL und Comcast stark in die Bredouille, nachdem im Internet ein Video und eine Audioaufzeichnung von Kunden veröffentlicht wurden.

Der schlafende Comcast-Mitarbeiter auf der Couch. Quelle: YouTube

Das unter dem Namen Comcast-Video zirkulierende Video zeigt, dass man zukünftig besser aufpassen muss, in welchen Situationen man sich selbst auf Video aufzeichnet, bzw. aufzeichnen lässt. Brian Finkelstein hatte einen Techniker seines Kabelanbieters Comcast zu sich nach Hause bestellt, der einen Fehler an seiner Empfangsanlage reparieren sollte. Als er jedoch in sein Wohnzimmer kam, fand er den Mann schlafend auf seinem Sofa vor. Der erboste Kunde rächte sich auf seine Weise, nahm kurzerhand seine Videokamera zur Hand und dokumentierte die Situation und unterlegte anschließend das filmische Material mit dem Song "I need some sleep" von der Band Eel und Zwischentiteln, die den schlechten Service des Kabelanbieters monierten. Den knapp einminütigen Clip lud er bei YouTube hoch.

Das Ende vom Lied: Der Techniker wurde fristlos gefeuert. Nichtsdestotrotz entstand Comcast beträchtlicher Image-Schaden, denn es stellte sich heraus, dass der Techniker zuvor über eine Stunde in der Warteschleife gehangen hatte.

Ähnlich erging es einem AOL-Mitarbeiter, der die Vorgabe, es Kunden so schwer wie möglich zu machen zu kündigen, übereifrig umsetzte. Zu seinem Bedauern hatte jedoch ein Kunde dies vorausgesehen und zeichnete das Telefongespräch auf. Anschließend veröffentlichte er die Audiodatei, in der er verzweifelt versuchte, seinen Account zu kündigen, auf seinem Blog. Es dauerte nicht lange, bis auch die New York Times und andere große Medien darüber berichteten. Auch in diesem Fall führte die Veröffentlichung zur fristlosen Kündigung des Mitarbeiters.

Der Blogeintrag zu AOL wurde über tausend Mal kommentiert und verlinkt. Quelle: Insignificant Thoughts

MySpace: The Movie. David Lehre

Die virale Verbreitung birgt nicht nur Risiken. Für so machen stellt sie auch eine enorme Chance dar und eröffnet neue Möglichkeiten. So zum Beispiel für David Lehre, dessen Kurzfilm MySpace: The Movie über 6 Millionen Mal im Internet auf Seiten wie YouTube gesehen wurde. Der Film nimmt die typischen Tätigkeiten der MySpace-User auf den Arm und betrachtet die ganze Seite mit einem zwinkernden Auge. Die gelungene Satire bescherte Lehre nicht nur Lob vom MySpace Mitgründer Tom Anderson, sondern sorgte auch dafür, dass Lehre in Hollywood wahrgenommen wurde.

Zuerst bekam er einen Anruf von Scott Verner, einem Hollywood Manager, der Größen wie Eminem und Gwen Stefani vertritt und nun auch David Lehre promoten wollte. Anschließend bekam er mehrere Sendeangebote und einen Deal mit MTVU für zukünftige Projekte. Natürlich ganz zu schweigen vom massiven Traffic der seine Internetseite lahm legte.

Es zeigt sich also, dass nicht nur die peinlichen Inhalte wahrgenommen werden, sondern auch gezielt nach Talenten in den neuen Diensten gesucht wird, die dann promoted und gefördert werden. Das gilt jedoch nicht nur für einzelne Talente, sondern auch für ganze Serien. Die Warner Serie "Nobody´s Watching" sollte eigentlich nie in Produktion gehen, doch die Produzenten gaben sich damit nicht zufrieden und stellten den Piloten auf YouTube frei zur Verfügung. Die dadurch gewonnene Aufmerksamkeit machte sich NBC zunutze und nahm die Serie kurzerhand unter Vertrag.

Brookers - Der Tellerwäscher-Mythos Reloaded

Before i say ANYTHING i just have to say this
This is who I am
You can like it or not
You can love me or leave me
Cause I'm never gonna stop.

The goddess who walks among us - 2005. Selbstdarstellung von Brookers

Ein weiteres Beispiel für diesen Trend ist Brooke Brodack, die im Internet unter dem Handle "Brookers" agiert. Auch sie ließ sich vom "Numa Numa"-Video inspirieren und drehte eine eigene Version davon - "Crazed Numa Fan". Das Video zeigt Brooker und ihre jüngere Schwester Missy ausgelassen und enthusiastisch tanzend zum Song "Dragostea Din Rei" der rumänischen Band "O Zone". Dabei gibt Brookers vor, das Lied nachzusingen, zeigt sich des Head-Bangings fähig wie ein Profi und ist auf sympathische Weise exzentrisch. Weitere Videos von ihr zeigen sie unter anderem darüber monologisierend, warum Kinder Klebstoff essen.

Brookers - der Internet Star. Quelle: MySpace-Konto

Mit solchen Videos manövrierte sie zum Shooting-Star und glücklichen Gewinner des Online-Filmemachens und startete im Internet mit einer Bilderbuchkarriere durch. Brookers Videos werden mittlerweile millionenfach abgespielt. Es ist kaum vorstellbar, dass die 20jährige Kellnerin zuvor als schüchtern und unsicher galt, denn Brookers hat eine überraschend starke Kamerapräsenz, in die Aspekte wie Verletzlichkeit, Kindlichkeit, Unschuld und Wildheit einfließen.

Die 20jährige Kellnerin aus der verschlafenen Kleinstadt Worcester gilt als der erste YouTube-Star, der über seine Präsenz auf dem Video-Portal einen Schritt über die Schwelle von Hollywood setzen konnte. Ihr wurde im Juni 2006 ein Vertrag von Carson Dalys Produktionsfirma angeboten. Zusammen mit dem NBC-Talkshow Moderator Carson Daly wird sie in einem so genannten "talent/development deal" Inhalte für das Fernsehen, das Internet und mobil Geräte produzieren. Das wäre übrigens fast schiefgegangen, da Brookers die ersten beiden Emails von Ruth Caruso, der Entwicklungschefin von Carson Daly, als Hoaxes interpretiert und gelöscht hatte. Carson Daly hatte selbst Caruso auf Brookers aufmerksam gemacht, nachdem er sie zufällig beim Surfen entdeckt hatte.

"Mit Internetvideos über Nacht zum (unfreiwilligen) Star" ist der vierte Teil der Serie "Internetvideo-Boom". In den vorhergehenden Teilen wurde zuerst das Phänomen der Videohoster quantitativ im Artikel YouTube und Co. betrachtet. Anschließend folgte mit Videohoster im Porträt ein Überblick über die Landschaft der Videosites. Die Geschäftsmodelle dieser Seiten wurden im dritten Teil Die Videohoster suchen nach Antworten näher beleuchtet. Weiter geht die Serie mit Betrachtungen zu den Inhalten der Seiten, den Chancen und Risiken für User und Künstler sowie zu möglichen Auswirkungen auf die klassischen Medien.