Opposition lehnt sich gegen Regierung in Bolivien auf

Die Regierung von Evo Morales steht vor einer ersten Machtprobe. Für Freitag wurde in den vier reichen Provinzen zu Streiks aufgerufen

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Die bolivianische Linksregierung sieht nach ihrem Wahlsieg vor neun Monaten einer ersten Krise entgegen. Neben Streiks unterbrachen auch enttäuschte Guaraní-Indios die Gasausfuhr nach Brasilien. Probleme gibt es auch mit der „Konstituierenden Versammlung“, die seit einem Monat über eine neue Verfassung für das arme südamerikanische Land debattiert. Es kam zu Tumulten, als eine Änderung am Reglement durchgeführt wurde. Die Opposition bezeichnete das einseitige Vorgehen von Morales als „Selbstputsch“ und ruft die UN und die OEA an, um den Verfassungskonvent vor „Attentaten“ der Regierung zu schützen. Am Freitag wird in den vier reichsten Landesteilen gestreikt, beschlossen die Präsidenten der Departements Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija heute früh.

Seit vergangener Woche weht dem bolivianischen Staatspräsidenten Evo Morales der Wind heftig ins Gesicht. Die Regierung musste nicht nur einräumen, dass sie Probleme hat, die angekündigten Nationalisierungen der Erdöl- und Gasressourcen umzusetzen, sondern Morales musste auch den Leiter des Staatsbetriebes "Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos" (YPFB) entlassen. Der Vertraute von Morales steht unter Korruptionsverdacht und soll Gelder veruntreut haben.

Dazu kommen die Streiks der Lehrer, von Beamten und Fahrern. Zum Teil wurde in der letzten Woche das geschäftige Treiben in der Hauptstadt La Paz lahm gelegt. Die Busfahrer, die den Streik nun abgebrochen haben, protestierten dagegen, dass der Treibstoff knapp und deshalb teuer ist. Zudem wurden für sie die Gebühren für Strafzettel erhöht. Nichts damit zu tun haben die Streiks der Lehrer, die weiter andauern. Lehrer von privaten und auch staatlichen Schulen demonstrieren gegen eine von der Regierung geplante Bildungsreform. Weil die Reform in einem Land mit einer indigenen Mehrheit vorsieht, auch indigene Sprachen in die Pflichtausbildung aufzunehmen, beklagen nun einige Lehrer, die Reform sei „indigenistisch“ und „schließt Weiße aus“. Als wäre es nicht so, dass in dem Land seit 500 Jahren die indigene Bevölkerungsmehrheit und ihre Sprachen ausgegrenzt worden wären. Die Lehrer kritisieren auch, dass die katholische Religion als Prüfungsfach entfällt und das Erziehungsministerien mehr Kontrolle darüber erhalten soll, was in den Privatschulen geschieht.

Wiederum etwas ganz anderes passiert in der Region Gran Chaco. Dort blockierten Bewohner mehrfach wichtige Gaspipelines des Landes, um gegen die Einführung restriktiver Zölle zu protestieren. Problematischer dagegen ist für den indigenen Präsidenten Morales der Protest von Guaraní-Indios an der wichtigen Gaspipeline Yacuiba Río Grande, mit der Brasilien versorgt wird. Sie gehört der Firma Transierra, einem Joint-Venture des brasilianischen Ölmultis Petrobras, der spanisch-argentinischen Repsol-YPF und der französischen Total. Die Guaraní fordern von Transierra, dass sie ihre Zusagen und Umweltauflagen einhält, die den Bau der Pipeline ermöglichten. Die Vereinigung des Volkes der Guaraní (APG) hatte gefordert, den Guaraní nun sofort die Hälfte der 9 Millionen Dollar zu übergeben, die sie für die Akzeptanz der Pipeline auf ihrem Gebiet versprochen bekamen. Damit wollen sie die Entwicklung der Region vorantreiben. Der Rest soll in den nächsten fünf Jahren gezahlt werden. Beide Besetzungen von Gasventilen wurden derweil vom Militär beendet, weil sie für das Land in kürzester Zeit enorme wirtschaftliche Schäden verursachen würden. Die Guaraní zeigten sich entsetzt über die Räumung und erwägen erneut Blockaden der Pipeline. "Jetzt kämpfen wir nicht nur gegen multinationale Feinde, sondern auch gegen unsere eigene Regierung", sagte der Guaraní Sprecher Demecio Canduari.

Insgesamt gibt es etwa zehn solcher schwelender Konflikte im Land. Dazu kommt, dass die Regierung auch mit den Ölmultis wegen der Nationalisierungen im Clinch liegt. Kürzlich wurde wieder einmal die Zentrale von Repsol durchsucht und ein Führungsmitglied verhaftet. Gegenseitig droht man sich den Gang vor internationale Gerichte an. Bisher gelang es Morales aber auf der anderen Seite nicht einmal, mit der befreundeten Linksregierung in Brasilien einen neuen Gasabnehmerpreise zu vereinbaren. Die staatliche YPFB kommt mit ihren Nationalisierungen nicht voran und hat zudem mit logistischen Problemen im Alltagsgeschäft zu kämpfen. Mehrfach fielen Kraftstofflieferungen aus, weshalb der Diesel an den Tankstellen knapp wurde. Ein Teil der Probleme resultiert auch aus Mangel an Geld, denn die Ausweitung der Tätigkeit von YPFB ist teuer. Doch bisher haben die Ölmultis ihre Sondersteuern nicht bezahlt. Erst nachdem die Regierung ihnen vergangene Woche eine letzte 24stündige Frist setzte, überwiesen sie 25,2 Millionen Euro, was 32 Prozent der Gewinne aus den Exporten im Mai sein sollen.

Zerreißprobe für Bolivien

Eine neue Qualität haben diese versprengten Konflikte seit vergangenem Freitag bekommen, als es im Theater Gran Mariscal de Sucre, wo der Verfassungskonvent tagt, zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam. Zuvor hatten die „Bewegung zum Sozialismus“(MAS) mit ihrer Mehrheit in der Versammlung beschlossen, die „Arbeit zu beschleunigen“. Statt bisher mit einer Mehrheit von zwei Dritteln soll nun der Verfassungstext mit einer einfachen Mehrheit verabschiedet werden.

Es ist nicht die feine Art, die Spielregeln während des Spiels zu ändern. Der Vorgang ist aber offenbar der Tatsache geschuldet, dass die MAS gehofft hatte, bei der Wahl zur Bildung der Versammlung eine Mehrheit von 70 – 80 % zu bekommen ("Chavez-Plan" für Bolivien). Morales konnte im Juli zwar seinen klaren Wahlsieg vom letzten Dezember bestätigen, doch erhielt er nicht die angestrebten 170 von 255 Sitzen im Konvent, sondern nur 135. Dass die Rechte im Land empört reagiert, weil sie ihrer Möglichkeit beraubt wurde, die „Neugründung“ von Bolivien zu blockieren, ist verständlich. Doch sie schießt in ihrer Kritik weit über das Ziel hinaus.

Sie spricht von einem „Selbstputsch“ und von einem „totalitären Verhalten“ von Morales. In einem Brief an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bittet der Oppositionsführer Jorge Quiroga darum, eine Mission zu entsenden, um den Konvent vor “Attentaten” der Regierung zu schützen. Quiroga hat sich auch an die UN gewandt. „Das friedliche und demokratische Zusammenleben“ sei gefährdet, sagt der Chef der Partei Podemos. Mit dem „Angriff“ auf den Verfassungskonvent, „verübt die Regierung nicht nur einen Anschlag auf den Rechtstaat, sondern bringt die Einheit des Landes in Gefahr“. Andere Oppositionsführer spielen gar schon auf einen möglichen bewaffneten Aufstand an.

Die Regierung spricht dagegen von einem „infantilen“ und „üblen Streich“, eine internationale Mission zu fordern. Schließlich, so betonte Vizepräsident Alvaro García Linera, werde über die Verfassung per Referendum entschieden. Das Volk habe also das letzte Wort. "Das ist ein Teil einer Verschwörung gegen diesen Akt der Neugründung, der eine eventuelle Einmischung von Außen vorantreibt“, warnte der Regierungssprecher Álex Contreras in diesem Vorgang vor einer Beschädigung der „nationalen Souveränität“.

Anzumerken bleibt, dass bei den handgreiflichen Auseinandersetzungen am letzten Freitag, mit der die Opposition gegen das neue Reglement in der Versammlung protestierte, einige Menschen verletzt wurden. Der Bauernführer Román Loayza, Vertrauter von Präsident Morales, liegt nach einem Sturz seither im Koma.

Der Konflikt spitzt sich nun weiter zu. Die vier reichsten Regionen des Landes, mit einer Minderheit an indigener Bevölkerung, haben auf einem Treffen am Dienstag beschlossen, in ihren Departements am Freitag einen „zivilen Streik“ durchzuführen. Die Regionen, die ein Drittel der Bevölkerung Boliviens stellen, werden nicht von der MAS regiert und wollen damit gegen das Vorgehen der Regierung protestieren. Man erwäge weitere Schritte, falls die Regierung die Verfassung und das Gesetz über die verfassungsgebende Versammlung missachte.

Dass dort auch auf die „Akzeptanz“ des Referendums vom 2. Juli gepocht wird, zeigt, dass es vielen um etwas anderes geht. Mit der Volksabstimmung wollten diese vier Departements autonom werden. Das Ansinnen lehnte aber eine Mehrheit in Bolivien ab. In den vier betroffenen Gebieten, in denen befürchtet wird, dass über die Reform der Verfassung zu ihren Ungunsten umverteilt wird, erhielten die Pläne eine Mehrheit. In den fünf ärmeren Regionen wurden sie hingegen abgelehnt.

Triebfeder der Autonomiebestrebungen ist die reiche Region Santa Cruz. Die größte Provinz des Landes liegt im tropischen Tiefland (den Kambas). Hier befindet sich der Grotßeil der Erdgasvorkommen. Um die zweitgrößte Stadt des Landes, Santa Cruz, entstanden zudem eine von den Militärs geförderte dynamische Exportwirtschaft und auch eine erfolgreiche Agrarindustrie nach brasilianischem Vorbild. Santa Cruz symbolisiert den Widerspruch zwischen der „weißen", an der USA orientierten Wirtschaftselite und den armen Kollas, der Hochlandbevölkerung. Von diesen meist indianischen "Hinterwäldlern" in den Bergen würden sich viele im reichen Tiefland gerne lossagen.

Auf den angekündigten Streik reagierte die Regierung nun ihrerseits und kündigte ebenfalls Mobilisierungen an, um zu zeigen, dass die Bevölkerung weiter hinter ihr steht. „In dieser definitiven Schlacht ist die Mobilisierung der Bevölkerung gefragt. Über die Mobilisierung sind wir an die Regierung gekommen und mit ihr werden wir regieren“, erklärt der Vizepräsident Linera mit Blick auf die Proteste, die zum Sturz der Vorgängerregierungen führten (Krise in Bolivien vertagt). Evo Morales sprach von einer “Notsituation”, mit der der Verfassungskonvent zum Scheitern gebracht werden soll. Er vertraut auf die Streitkräfte, die Polizei und die sozialen Bewegungen, um die Nationalisierungen und die Neugründung des Landes zu konsolidieren.