Der lange Weg zum Mindestlohn

Nach Jahren des Zauderns und der gegenseitigen Blockade kommt nun auch in Deutschland Bewegung in die Diskussion um die Einführung eines Mindestlohnes

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Als ersten Schritt einigten sich Gewerkschaften und SPD auf einen gemeinsamen Kompromiss. Danach sollen zunächst die Tarifparteien versuchen, Mindestlöhne für ihre Branchen zu beschließen, deren Gültigkeit dann über ein erweitertes „Arbeitnehmer Entsendegesetz“ auf alle Wirtschaftsbereiche ausgedehnt werden soll. Scheitern die Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften soll ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden. Auf Seiten der Gewerkschaften trägt dieser Kompromiß zwar deutlich die Zeichen von Besitzstandswahrung, aber ein erster Schritt ist getan.

Deutsche Vereinigung, EU-Erweiterung und Ausweitung des Welthandels als sogenannte „Globaliserung“ werden seit Anfang der 90er immer wieder gerne – und erfolgreich – als Begründung für sinkende Reallöhne angeführt. Neben einem allgemeinen Gefühl von Verunsicherung führte dies auch zur schleichenden Erosion der sozialen Marktwirtschaft westdeutscher Prägung. War sie noch ein Modell in dem die Wirtschaft in die Pflicht genommen wurde, durch auskömmliche Löhne zum Gemeinwohl beizutragen und im Gegenzug von steigender Kaufkraft zu profitieren, diktiert heute eine kurzatmige Börsenlogik das Geschehen. Lohnsenkungen durch längere Arbeitszeiten und medienwirksam angekündigte Entlassungsschübe entzücken Spekulanten, aber lassen den Bürger grausen.

Die Krafteverhältnisse haben sich in den letzten Jahren immer mehr zuungunsten der Arbeitnehmer verschlechtert. Ein aktueller Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, dass schon jeder sechste Vollzeit-Beschäftigte in Deutschland für einen Niedriglohn, der unterhalb von 66 Prozent des Durchschnitts-Einkommens liegt, arbeitet. Rund 2,5 Millionen Beschäftigte arbeiten zu noch schlechteren „Armutslöhnen“ für weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens (2006 1442 € brutto in Westdeutschland, 1034 € brutto in Ostdeutschland).

Mindestlöhne in einigen Mitgliedstaaten (MS). Quelle: Eurostat, Datenbank zu Mindestlöhnen

Jens Bullerjahn von der SPD in Sachsen-Anhalt hält einen gesetzlichen Mindestlohn für dringend erforderlich, um dem Abwärtstrend in Ostdeutschland entgegen zu wirken. In Sachsen-Anhalt gebe es in gleichen Branchen Lohnunterschiede von über 100 Prozent. Viele Menschen könnten von ihrer Arbeit nicht leben. Er halte den Trend für falsch, "Löhne nach unten zu entwickeln und das als Standortvorteil zu proklamieren".

Deutschland steht außen vor

In 18 der 25 EU-Mitgliedsstaaten gibt es bereits gesetzliche Mindestlöhne. Anders in Deutschland, es gehört, wie Österreich, zu den wenigen Ländern, in denen kein gesetzlicher Mindestlohn existiert. Lange wurde angeführt, ein gesetzlicher Mindestlohn untergrabe die Tarifautonomie, ein Scheinargument, denn während in Westdeutschland immerhin noch rund 70 Prozent der ArbeitnehmerInnen zu tariflich ausgehandelten Löhnen arbeiten sind es in Ostdeutschland nur rund 55 Prozent.

Dieser Erkenntnis entziehen sich nun auch die Gewerkschaften nicht mehr. 2006 wurden zwei bundesweite Kampagnen zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gestartet. Die von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und ver.di initiierte Initiative Mindestlohn fordert einen Mindeststundenlohn in Höhe von 7,50 Euro, Ziel sind später 9,00 Euro. Bei einer 38,5-Stundenwoche entsprächen 7,50 Euro Stundenlohn einem Bruttolohn von 1.250 Euro beziehungsweise einem Nettoeinkommen von 928 Euro im Monat (bei Steuerklasse I und ohne Kinderfreibeträge und Kirchensteuer). Dieser Betrag orientiert sich an den Mindestlöhnen wirtschaftlich vergleichbarer EU-Länder.

Und die Parteien? Die Lager sind noch geteilt: Unter dem Slogan „8 Euro Mindestlohn. Gesetzlich garantiert“ fordern Linkspartei und WASG, einen einheitlichen Mindestlohn von mindestens acht Euro gesetzlich zu verankern. Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, hält eine Abstufung nach Branchen und Regionen für notwendig. Die Parteispitzen von CDU und FDP lehnen einen gesetzlichen Mindestlohn ab.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla erklärt dazu vollmundig:

Die Forderung der Gewerkschaften nach einem gesetzlichen Mindestlohn ist der erneute Versuch, für ein gewaltiges Arbeitsplatz-Vernichtungsprogramm in Deutschland zu werben.

Und der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Rainer Brüderle sagt:

Jeder Mindestlohn ist maximaler Unsinn. Liegen festgelegte Löhne über dem Marktpreis, vernichten sie Arbeitsplätze, liegen sie darunter, sind sie wirkungslos. Dieser Grundeinsicht in das wirtschaftspolitische Einmaleins verweigern sich die schwarz-roten Sozialdemokraten weiter stur. Auf Kuba verabschiedet sich der Sozialismus langsam, in Deutschland hält er Schritt für Schritt.

Angesichts der offensichtlichen Mißstände im Land zeigt sich dagegen bei den Anhängern dieser beiden Parteien, sehr wohl ein Umdenken. Eine Infratest-dimap Umfrage vom August 2006 ergab, dass von den FDP-Wählern nur noch 49 Prozent einen Mindestlohn ablehnen. Unter CDU-Anhängern zeigt sich sogar eine Mehrheit von 56 Prozent für einen gesetzlichen Mindestlohn. Das entspricht fast der bundesweiten Zustimmung von 60 Prozent der Deutschen, die für einen gesetzlichen Mindestlohn plädieren – übrigens 92 Prozent davon für einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro pro Stunde.

Deutschland muss die Erfahrungen anderer Länder bei der Einführung des Mindestlohnes nutzen

Nach einer Studie des Gelsenkirchener Instituts für Arbeit und Technik (IAT) bedeutet ein Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde zirka zehn Milliarden Euro höhere Lohnzahlungen für 4,6 Millionen Beschäftigte (14,6 Prozent aller Beschäftigten) und 3,7 bis 4,2 Milliarden Euro Mehreinnahmen für den Staat in Form von höheren Einnahmen bei Steuern und Sozialversicherung. Die Studie prognostiziert, dass sich die Zusatzkosten durch sinkende Sozialbeiträge und gleichzeitig steigende Nachfrage aufgrund höherer Kaufkraft ausgleichen.

Für den Staat würden sich Mindestlöhne in jedem Fall rechnen, denn es müßten weniger staatliche Lohnzuschüsse an die Beschäftigten im Niedriglohnsektor gezahlt werden. Im September 2005 bezogen noch 900.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ergänzende Sozialleistungen, weil ihr Lohn kein existenzsicherndes Einkommen gewährleistete. Unternehmen nutzen das Sozialsystem, um Löhne weiter abzusenken.

Insbesondere westeuropäische Länder wie Irland, Großbritannien und die Beneluxländer zeigen, wie erfolgreiche Ökonomie und Mindestlohn zusammengehen - und in Deutschland noch vorgetragene Bedenken widerlegen. Für Tony Blair war die Einführung eines nationalen Mindestlohns ein Versprechen, mit dem er im Mai 1997 die britische Unterhauswahl gewann und so zum Regierungs-Chef aufrückte. Sein Vorstoß war anfangs heftig umstritten. Der britische Arbeitgeber-Verband sagte hohe Arbeitslosenzahlen voraus. Auch die Gewerkschaften lehnten den Entwurf ab und machten sich für das Festhalten an Tarifverträgen stark. Sechs Jahre nach dem Start ist von der Kontroverse um den Garantielohn nichts mehr zu spüren. Die einst von Industrievertretern befürchteten negativen Auswirkungen sind ausgeblieben. Im Gegenteil, die Wirtschaft brummt. Als Negativbeispiel lassen sich die Vereinigten Staaten anführen. Einen gesetzlichen Mindestlohn gibt es in den USA seit 1938. Er stagniert seit 1997 und ist mittlerweile inflationsbereinigt auf dem tiefsten Stand seit 1955 gesunken. Sollen Mindestlöhne Sinn machen, müssen sie also an die allgemeine Preisentwicklung angepasst werden.

Auch die in Deutschland insbesondere von der CDU gern gepflegte Neigung zum paternalistischen Kombilohn-Modell müsste überdacht werden. Kanzlerin Merkel lehnte beim DGB-Bundeskongress einen flächendeckenden Mindestlohn von 7,50 Euro ab und sprach sich statt dessen für ein Kombilohnmodell aus, ihre Regierung wolle in Arbeit investieren und nicht in Arbeitslosigkeit. Allerdings sprechen Erfahrungen aus Österreich klar gegen den Kombilohn Nach kontroversen Debatten und in der Hoffnung, mit etwa 15 Millionen Euro bis zu 5.000 neue Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose zu schaffen, wurde im Februar 2006 der Kombilohn in Österreich eingeführt. Mit der ersten Halbjahres-Bilanz entpuppte sich das Projekt laut Einschätzung des Chefs der oberösterreichischen Arbeitsagentur jedoch als "Rohrkrepierer": In den ersten sechs Monaten konnten in ganz Österreich lediglich 180 Jobs geschaffen werden.

Neigung zum staatlichen Paternalismus

Arbeitskräfte sind keine bloße Ware, deren Marktwert beliebig fallen darf. Eine gesetzlich vorgegebene Grenze muß das freie Spiel der Marktkräfte und insbesondere die Ausnutzung von weltweiten Lohnunterschieden und Sozialstandards begrenzen. Die positiven Erfahrungen mit Mindestlöhnen in den florierenden Volkswirtschaften Westeuropas, Irland, England, Benelux, zeigen, dass nicht Lohndrückerei bis zum Äußersten der Wirtschaft Vorteile bringt, sondern motivierte und kaufkräftige Beschäftigte und Bürger. Mindestlöhne müssen, das zeigt das Negativbeispiel USA, an die allgemeine Preisentwicklung gekoppelt sein.

Das zähe Festhalten einiger Politiker an schwachen Kombilohnmodellen zeugt eher von einem paternalistischen Verhältnis zum Bürger und einer Ergebenheitsadresse an die Wirtschaft. Denn Kombilohnbeschäftigte würden trotz Vollzeitarbeit in staatlicher Abhängigkeit gehalten und die Unternehmen auf Kosten der Allgemeinheit subventioniert. Die Einführung von Mindestlöhnen, die eine auskömmliche Existenz sichern ist in Deutschland überfällig.