Hat Radio eine digitale Zukunft?

Die Digitalisierung des Hörfunks schreitet voran - in viele Richtungen gleichzeitig

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Wenn im Medienbereich von Digitalisierung die Rede ist, wird meistens vom Fernsehen gesprochen. Doch auch sein Vorgängermedium, das Radio, kann sich dem Lauf der Zeit nicht entziehen. Es soll, nach dem Willen der Digitallobby besser heute noch als morgen, digital werden. Schon einmal hatte der Hörfunk sich einer digitalen Rosskur unterzogen. Seit mehr als zehn Jahren geht im Äther ein Gespenst namens DAB (Digital Audio Broadcasting) um, das niemand sieht und keiner hört. 300 Millionen UKW-Radios dudeln in Deutschland fröhlich vor sich hin. Dagegen nimmt sich die Zahl der audiophilen DAB-Geräte mehr als peinlich aus: Es sollen schätzungsweise 300.000 bis 350.000 Stück sein. DAB ist das schlagende Beispiel für ein ungeliebtes und deshalb überflüssiges Medium und für die Ignoranz der Massen an den Zukunftsvisionen der Macher.

Es mag viele Gründe für das Scheitern von DAB geben. Spontan fallen einem ein komplett fehlendes Marketing und daraus resultierendes Liebhaber-Image von DAB ein sowie eine unzumutbare Ästhetik der Geräte in den Anfangsjahren. Auf einer vom Institut für Europäisches Medienrecht ausgerichteten Tagung zum Thema „Digitales Radio für Deutschland“, die am Mittwoch beim Deutschlandradio Berlin stattfand, wurden weitere Gründe genannt.

„Bei DAB ist zu viel versprochen worden“, fasste der Intendant des Deutschlandradios, Ernst Elitz, die missliche Situation zusammen. Die Ausstrahlungskapazität sei zu gering und die Empfangstechnik unzureichend. Mit gerade mal einem Kilowatt Sendeleistung werden DAB-Programme auf Kanal 12 ausgestrahlt. Viel zu wenig, um in Großstädten einen ungehinderten Empfang in den Wohnungen zu ermöglichen. Erforderlich wären laut Thomas Melzer von der Initiative Marketing Digital Radio (www.digitalradio.de) zehn Kilowatt. Gerüchteweise gibt es ein Veto aus dem Verteidigungsministerium, weswegen die Sendeleistung, aus Sorge um mögliche Interferenzen, nicht erhöht wird.

Kakophonie der Technologien

Elitz sieht indessen DAB vor allem „an der Halbherzigkeit der Medienpolitik und an der Naivität der Verfechter“ gescheitert. An beidem hat sich nichts geändert. Stefan Grüttner, Chef der Hessischen Staatskanzlei, sieht auch heute keine besondere Eile für die Umstellung des Hörfunks von analog auf digital. Über das Jahr 2015 hinaus werde die UKW-Technologie weiter eine Rolle spielen, so Grüttner auf der Tagung: „Der digitale Hörfunk wird UKW weder kurz- noch mittelfristig ablösen.“ Ebenso ist die unbedarfte Naivität, die sich vor allem im Kreise der Entwickler und Hersteller von Digitalradios breit macht und auch bei Radiomachern, öffentlich-rechtlichen wie privaten, Begehrlichkeiten geweckt hat, keineswegs verloren gegangen. Besonders unter den Funktionären des Hörfunks grassiert die Angst, im digitalen Konzert konkurrierender audiovisueller Medien ungehört zu verklingen. Also blasen alle ins digitale Horn.

Dem ungeachtet schreitet die Radiogeschichte weiter voran - in allzu viele Richtungen. Neben DAB macht dessen Weiterentwicklung DMB (Digital Multimedia Broadcasting) von sich reden. Dieses Verfahren ermöglicht den Empfang herkömmlicher DAB-Programme, erlaubt aber auch Videosignale und Multimedia-Anwendungen. Seine Hauptkonkurrenten, DVB-T und DVB-H (Digital Video Broadcasting – Terrestrial/ Handheld), waren im Zuge der Diskussionen um das Mobilfernsehen in aller Munde. Während DVB-H die favorisierte Technologie von Mobilfunkbetreibern für das Handy-TV ist, kann schon jetzt mit DVB-T-Dekodern auch Radio in den Empfangsgebieten gehört werden. Darüber hinaus wurde für die digitale Nutzung der Lang-, Mittel- und Kurzwellen vom internationalen Konsortium Digital Radio Mondiale eine DRM genannte Technologie standardisiert. Und last not least soll DXB, ein mobiles Multimedia-Übertragungssystem, für die Verschmelzung von DMB und DVB-Technologien im Namen der Frequenzeffizienz sorgen. Alles klar?

Es geht noch weiter: Vor kurzem wartete der Mobilfunkanbieter Vodafone mit einem Radioangebot auf UMTS-Basis auf, um die darbenden mobilen Breitbandnetze zu beleben. Auch Real und AOL setzen auf Web- beziehungsweise UMTS-Radio (Web- und UMTS-Radio). Überhaupt das Internet: Abertausende von Radiosendern können im Web angehört werden und sind via WLAN auch mobil verfügbar. Die britische Hörfunkgruppe Virgin Radio reklamiert bereits, dreißig Prozent ihrer Hörer stammt aus dem Internet. Angesichts dieser Entwicklung will die aktuelle Diskussion um eine Gebührenforderung für PCs und internetfähige Mobilgeräte nicht ganz abwegig erscheinen, wenngleich das unkontrollierte Geschäftsgebaren der öffentlich-rechtlichen Sender, die derzeit 0,75 Prozent ihres Budgets für Internet-Angebote ausgeben und bald ordentlich aufstocken wollen, nur noch nervt. Allenfalls F.A.Z.-Leitartikler mögen noch nie die Vielfalt und Vorzüge von Online-Radio genossen haben und leugnen dessen Relevanz.

Ruf nach einem Masterplan Radio

Schon vor einem Monat ließen die Verfechter der Digitalisierung auf dem Medienforum Berlin-Brandenburg, wo es ebenfalls um die Zukunft des Radios ging, keinen Zweifel daran, dass man auf allen Plattformen vertreten sein müsse. Hans-Dieter Hillmoth, Vizepräsident beim Verband Privater Rundfunk und Telekommunikation (VPRT), sprach damals von einer drohenden „Marktverstopfung“ durch öffentlich-rechtliche Sender in den digitalen Kanälen. Heute sitzen Hillmoth und Elitz einträchtig nebeneinander und fordern „adäquate Verbreitungsmöglichkeiten für nationale Programme über Ländergrenzen hinweg“. Deutschlandradio und Kiss FM bundesweit auf jeweils einer digitalen Frequenz – das wäre doch zu schön, um wahr zu sein. Dass man sich Ende Juni auf der internationalen Wellenkonferenz RRC06 auf zusätzliche Frequenzen und länderspezifische „Bedeckungen“ geeinigt hat, heißt noch lange nicht, dass die deutsche Kleinstaaterei zu Ende ginge.

Schon wird nach einem „Masterplan für das Radio der Zukunft“ gerufen. Denn auch digitale Frequenzen sind nicht unendlich verfügbar. In einem Interview mit epd Medien spricht Hans-Dieter Hillmoth davon, dass drei Viertel der Frequenzen bereits für das Eins-zu-Eins-Abbilden des bisherigen analogen Angebotes benötigt würden und das restliche Viertel „mit allen Marktteilnehmern“ besprochen werden müsse. In Berlin brachte Hillmoth nun das Schlagwort „digitale Dividende“ ins Spiel – den Nutzen, den Hörer von der Umstellung haben mögen. „Digitalisierung bedeutet höhere Investitionen, ohne dass die Zahl der Hörer steigt, die künftig über teurere Übertragungswege erreicht werden“, so Hillmoth. Dies freilich ist mehr sachlich, als kritisch zu verstehen.

Die generelle Sinnfrage zu stellen, mag sich niemand mehr trauen. Dennoch ist den Radiomachern, Landesmedienanstalten und Geräteproduzenten eine deutliche Unsicherheit anzumerken. Wer soll die zukünftigen Hörfunkprogramme denn alles hören? Schon jetzt existieren viele (öffentlich-rechtliche) Wellen unterhalb der Messbarkeit durch Medienanalysen. Wer mag heute schon sagen können, wohin das Radio sich wandelt? Werden die Wellen in zehn Jahren noch Stammhörer an sich binden?

Derzeit macht Podcasting Furore, freie Musik und Free Content, und wird von einer neuen demografischen Spezies eifrig genutzt. Nach Auskunft von Marktforscher Klaus Goldhammer sind Podcasts mit drei Prozent Nutzung augenblicklich noch eine Marginalie. Doch auch er spricht vom „Auseinanderbrechen der Zielgruppen“. Nach der aktuellen ARD/ZDF-Online-Studie 2006 sind 97 Prozent der 14-19-Jährigen im Netz und nicht am Radio. Goldhammer spitzte zu, dass ihre 50.000 Songs auf dem iPod „die Hits der 70-er, 80-er und 90-er Jahre sowie die ‚besten Hits aller Zeiten’ zusammen genommen“ um Längen schlagen.

Mehrwert oder digitale Dividende?

Worin liegt nun die Dividende oder der Mehrwert beim digitalen Hörfunk? Das konnte auf der Berliner Tagung niemand recht sagen. Augenscheinlich geht es den Beteiligten zunächst darum, den eigenen Besitzstand zu wahren, was nicht ganz unverständlich ist. Auch das Argument, der Hörfunk dürfe nicht als einziges Medium den Anschluss ans digitale Zeitalter verschlafen, ist nur zu begreiflich. In Großbritannien werden bereits mehr Digitalradios verkauft als analoge - 13,6 % der britischen Haushalte haben bereits ein Gerät. In der Schweiz ist die Abdeckung zu zwei Dritteln erreicht, Dänemark weist den am schnellsten wachsenden Markt auf. In Deutschland herrscht beim Ausbau ein Süd-Nord-Gefälle vor.

Ob allerdings „die Macher die Rechnung ohne die Mitmacher“ machen – dieses Bill-Gates-Zitat wurde vom Intendanten des Süddeutschen Rundfunks, Fritz Raff, bemüht – steht in den Sternen. Die ganze Diskussion um digitales Radio wirkt unabgestimmt und wenig marktorientiert. Sie krankt daran, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht, ohne es an jovialen Lippenbekenntnissen fehlen zu lassen. Ob es sich abermals, wie bei DAB, um eine „kollektive Autosuggestion“ handelt, die deutlich am Markt vorbei zielt, wie Klaus Goldhammer befürchtet, mag noch nicht entschieden sein. Doch vom gemeinsamen Ziehen am gleichen Strang ist man weit entfernt. Es fehlen klare Vorstellungen, was man mit der Technologie eigentlich anderes anfangen will, als Programm zu senden.

Der Hörer legitimes Anliegen ist ein Radio, das auf Knopfdruck funktioniert und vielfältige Inhalte für viele verschiedene Geschmäcker bietet. Nur eine Minderheit will die beworbenen Produkte aus der Radio-Werbung gleich über das Gerät erwerben. Das geben bereits Marktzahlen aus Großbritannien her. Nicht im Programmangebot des digitalen Rundfunks liegt das Problem, sondern in der Unentschlossenheit der Verantwortlichen. Vor allem deren muntere Fürsprache für alle nur möglichen technischen Plattformen, erscheint angesichts der Kosten für die Infrastruktur allzu verschwenderisch. Doch zum Glück können die ja auf die Mediennutzer umgelenkt werden, die sich gerne auch drei, vier weitere Geräte anschaffen, um ja nichts zu verpassen.