Ich und mein Schatten

Wie durch Reizung einer bestimmten Gehirnregion die Vorstellung eines Doppelgängers erzeugt wird

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Das Gefühl, dass sich jemand ganz in der Nähe aufhält, obwohl weit und breit niemand da ist, wird von psychisch Kranken, aber auch gesunden Menschen geäußert. Nicht bekannt ist, was genau diese Illusion im Gehirn auslöst. In der aktuellen Ausgabe von Nature (Nature, Vol 443 vom 21. September 2006) beschreiben Neurologen, wie sie dieses Gefühl durch elektrische Stimulation eines bestimmten Gehirnareals bei einer psychisch gesunden Patientin hervorriefen.

Es sollte eigentlich eine medizinische Untersuchung werden, wie sie bei einer so genannten prächirurgischen Epilepsie-Diagnostik standardmäßig stattfindet: Bei den betroffenen Epilepsiekranken wird versucht, im Gehirn zu lokalisieren, wo sich die Funktionen Sprache und Motorik exakt befinden, um diese Areale bei der Operation nicht zu schädigen. Für diese Untersuchungen bekommen die Patienten winzige (3 mm starke) Elektroden implantiert, über die die Gehirnrinde mit schwachen elektronischen Impulsen gereizt wird, während sie bestimmte Übungen ausführen.

„Er ist hinter mir, aber ich fühle es nicht“

Doch während der Epilepsie-Diagnostik, die der Schweizer Neurologe Olaf Blanke und seine Kollegen vom Labor für Kognitive Neurowissenschaft der École Polytechnique Fédérale de Lausanne/Schweiz bei einer 22-jährigen Patientin durchführten, wurde auch der linke temporo-parietale Übergang (engl.: temporoparietal junction, TPJ) stimuliert, und die junge Frau berichtete plötzlich von völlig anderen Wahrnehmungen:

Sie sagte uns, sie spüre eine Person hinter sich, ganz nah. „Er ist hinter mir, fast genau hinter mir, aber ich fühle es nicht“, meinte sie, und dabei drehte sie sich immer wieder um, wie um nachzusehen. Und das war insofern komisch, als sie auf einem Bett lag. Sie wiederholte das immer wieder, während der zwei Sekunden dauernden Stimuli.

Olaf Blanke im Gespräch mit Telepolis.

Weitere Stimulationen erzeugten eine ähnliche Wirkung: Als die Patientin bei einem anderen Versuch saß und ihre Beine umfasste, berichtete sie, dass die Schattengestalt ebenfalls sitze und mit den Armen ihre [der Probandin] Beine umfasse, was sie als unangenehm empfand. Bei einer anderen Übung musste die junge Frau einen Sprachtest absolvieren, bei dem sie eine Karte in der rechten Hand hielt. Auch dieses Mal spürte sie eine Person, die rechts hinter ihr saß und versuchte, ihr die Karte zu entwenden.

Dreidimensionale Oberflächenrekonstruktion der linken Gehirnhälfte basierend auf Magnetresonanztomographie. Farbig gekennzeichnet sind Orte, deren Stimulierung bestimmte Reaktionen erzeugten: rot: Motorik; blau: Somatosensorik; grün: Sprache; pink: Gefühl der Anwesenheit einer Person. (Bild: M. Boyer)

Ähnliche Antworten brachten verschiedene Körperpositionen, und zwar immer dann, wenn der Stimulus 10 mA (Milliampere) überschritt. Regelmäßig fühlte die Patientin eine Schattenperson, die ihre Bewegungen nachahmte, die sie aber nicht sehen konnte. Signifikanterweise konnte sie von ihrem Doppelgänger sagen, dass er jung sei, männlichen Geschlechts, aber unterhalten konnte sie sich mit ihm nicht. Obwohl der Patientin klar war, dass die eingebildete Person ihr ähnlich war, erkannte sie nicht, dass diese Person nur eine Illusion ihrer selbst war.

Illusion des eigenen Körpers

„Diese Präsenz des anderen Menschen war eine Fehlwahrnehmung des eigenen Körpers“, stellt Blanke fest. „Diese Illusion ist relativ weit verbreitet, doch es war nie eine neurowissenschaftliche Herangehensweise möglich, das zu analysieren. Unsere Beobachtungen öffnen vielleicht eine Nische, das genauer zu analysieren und ein Krankheitsbild wie die Schizophrenie besser zu verstehen. Besonders interessant war für uns die Untersuchung dort, wo der Doppelgänger sich in das Handeln unserer Patientin einmischte und sie an etwas hindern wollte. Das ist etwas, von dem schizophrene Patienten häufig erzählen. Sie denken, dass ihnen jemand gegenüber steht, der ihnen Böses will oder verhindern möchte, dass sie etwas Bestimmtes tun.“

Der temporo-parietale Übergang ist aktiv bei Wahrnehmung des eigenen Körpers. Er bildet ein wichtiges Areal, an dem Informationen des Körpers zu einem zusammenhängenden Bild zusammengeführt werden. Es handelt sich um eine sehr komplexe Region, die es bei Tieren so nicht gibt.

Die Zeichnungen zeigen die Positionen der Patientin (weiß) und der Schattenperson (schwarz) während der Stimulierung des temporo-parietale Übergangs. (Bild: M. Boyer)

Die von der Patientin geschilderten Eindrücke treten nach Gehirninfarkten, bei Migräne, aber vor allem auch bei Menschen mit psychiatrischen und neurologischen Störungen wie z. B. Schizophrenie, Paranoia oder Verfolgungswahn auf.

„Aus früheren Untersuchungen weiß man, dass es bei Migräne oder Epilepsie zu kurzfristigen Störungen in dieser Region kommen kann, verbunden mit Störungen der Eigenkörperwahrnehmung“, so Blanke. „Doch um hier aussagekräftigere Erkenntnisse zu gewinnen, müsste man diese Versuche mit größeren Patientengruppen wiederholen und mit gesunden Menschen.“