Islamische Regeldichte

Weil der Islam nicht zentral organisiert ist, sind nicht nur Kritik und Aufklärung schwierig, sondern herrscht große Unsicherheit über das, was erlaubt ist und was nicht, was eine Flut von Anweisungen für das Alltagsleben hervorzubringen scheint

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Mit dem über Jahrhunderte erkämpften Rückzug der Religion aus dem Staat hat auch die Vorschriftendichte für das alltägliche Leben der Menschen in den von einer christlichen Mehrheit bewohnten westlichen Ländern abgenommen, auch wenn manche Kirchen und vor allem Sekten genauer regeln, was ihrem Glauben nach erlaubt und verpönt ist, und der Einfluss der Kirchen unterschiedlich groß ist. Besonders was die Beziehung von Mann und Frau, die Sexualität oder andere moralische Fragen wie Abtreibung, künstliche Befruchtung, Gentechnik, gleichgeschlechtliche Partnerschaften etc. betrifft, suchen die Kirchen ihren Einfluss geltend zu machen. Was etwa die katholische Kirche von oben durch den Papst, den Stellvertreter Gottes auf Erde, einheitlich anordnen kann, ist im nicht zentral organisierten Islam weitaus schwieriger. Hier herrscht ein verwirrendes Stimmengewirr an Interpretationen und Regeln für die Lebensführung mit dem Anspruch, diese bis ins kleinste Detail aus dem Geist der Religion ableiten zu können. Das führt nicht nur zu Freiheitseinschränkungen, die repressiv oder von Außenstehenden kaum nachvollziehbar sind, sondern auch zu mitunter eigenartigen Empfehlungen und Begründungen.

Seyyed Ali Chamenei, das geistliche Oberhaupt des Iran. Foto: leader.ir

Das geistliche Oberhaupt Iran, Ajatollah Seyyed Ali Chamenei, hat schon lange eine Webseite. Hier hat er kürzlich beispielsweise dem Hisbollah-Führer Nasrallah zum „Sieg“ über „die Armee des zionistischen Regimes“ gratuliert. Zudem gibt es für den „Führer“ auch die noch amtlichere Website Leader.ir, wo er auch den Gläubigen Anweisungen gibt, wie sie sich verhalten müssen, um ein Gott gefälliges Leben zu führen. Schön klingt es, wenn er beispielsweise sagt, dass Regierende nach islamischer Sicht einzig dem Volk dienen und dessen Interessen erfüllen sollen. Für die geistlichen Führer sieht das allerdings in der „Islamischen Republik“ schon anders aus, die sich den Befehlen von Allah und seiner Rechtsprechung unterwirft, zudem werden die Gesetze von der göttlichen Offenbarung abgeleitet. Zwar sollen auch diese – beispielsweise der „Wächterrat“ - gewählt werden, sie haben aber nahezu uneingeschränkte Macht, was vor allem für den Ajatollah Chamenei gilt.

Besonders regelungsdicht ist die Fastenzeit, der Ramadan, der nun begonnen hat. Wie man auch bei Islam Online sehen kann, gibt es zahlreiche Fragen, was ein gläubiger Muslim in dieser wichtigen Zeit machen darf und was er unterlassen sollte. Der Ramadan, so heißt es in einer Anweisung, den Fastenmonat Nicht-Muslims zu erklären, dient der „körperlichen und geistigen Reinigung“. Es geht nicht nur darum zu fasten und nichts zu trinken, auch Rauchen, Sex und alle Formen amoralischer Handlungen und der Obszönität sind verboten. Wie soll man sich auf den Ramadan vorbereiten, darf man mit Nicht-Muslims speisen, darf man in dieser Zeit heiraten, Reisen unternehmen, zum Frauenarzt gehen, sich küssen, Medikamente nehmen, die Zähne bürsten oder Geschlechtsverkehr haben. Unter dem niemals müden Auge Gottes muss alles beachtet werden. Die Anleitungen werden zwar mit Zitaten und Verweisen auf andere Quellen begründet, eine wirkliche Diskussion findet aber nicht statt, auch wenn es durchaus unterschiedliche Meinungen gibt. Das dürfte, sollte die Beobachtung stimmen, eines der größten Probleme des Islam sein, solange die Grenzen zwischen Religion und Staat nicht gezogen oder, falls sie dies sind, nicht wirklich anerkannt werden. Wenn wie im Iran politische und religiöse Macht in einer Person vereint sind, kann Demokratie und Freiheit sich nicht wirklich durchsetzen. Meinungs- und Pressefreiheit, so heißt es in der iranischen Verfassung, müssen den islamischen Kriterien und dem nationalen Interesse folgen, sind also alles andere als garantiert und religiös jederzeit unterdrückbar.

Immerhin, ganz entrückt ist der der oberste geistliche Führer nicht. Auch er nimmt Fragen entgegen und beantwortet sie. So stellte ein verunsicherte Muslim die Frage, ob Masturbation, auch wenn kein Samenerguss erfolgt, das Fasten unwirksam macht, man sich also die Gunst Allahs damit verscherzt. Chamenei antwortet hier in einer, im Islam – ähnlich wie in der katholischen Kirche – verbreiteten pragmatischen Art, in der man nicht zu pedantisch sein will. Eigentlich ist ja Sexualität verboten, was auch Masturbation einschließt. Wenn man aber irgendwie masturbiert, ohne dies vorzuhaben, und es zu keinem Samenerguss kommt, dann ist schon alles in Ordnung, versichert Chamenei. Aber wenn man masturbiert und weiß, dass man normalerweise zum Samenerguss kommt, oder man dies gar will, dann sei dies nicht zulässig. Der pflichteifrige Muslim könnte also durchaus masturbieren und dann ganz überrascht sein, wenn doch der Samen fließt, um alles in Ordnung zu finden, weil er das ja nicht beabsichtigt hatte. Damit ließe sich ähnlich leben wie Juden gerne alle möglichen Tricks finden, um die Sabbath-Regeln einzuhalten und gleichzeitig zu umgehen. Katholiken können immer beichten …

Noch absurder mutet an, wenn Chamenei die Frage beantwortet, was passiert, wenn man im Ramadan, der Fasten auch schon entspannt nur von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang vorschreibt, vergessen hat, die Zähne zu putzen und dann zur verbotenen Zeit Essensreste in den Mund und die Kehle aus den Zähnen gelangen. Auch hier ist das geistliche Oberhaupt nachsichtig. Es zählen die Absicht, der gute Wille und das Wissen, nicht allein der Sachverhalt. Wenn man nicht weiß, dass ein paar Krümel Essen in den Zähnen hängen geblieben sind, oder man nicht weiß, dass sie den Gaumen erreichen oder man sie unwillentlich schluckt, dann bleibt das Fasten in Kraft.

Darf ein Gläubiger sich grausame Bilder und Videos im Internet oder auf DVDs anschauen? Beispielsweise wenn im Irak Entführer, die vorgeben im Namen des Islam zu handeln, ihre Opfer köpfen. Das sei verwerflich, wenn intendiert sei, mit diesen Bildern Verderben zu verbreiten, oder wenn das Anschauen „negative soziale Folgen“ habe, sagt Chamenei und hält sich hier sehr bedeckt. Streng ist der oberste Geistliche aber, wenn es um „sexuell erregende“ Bilder geht. Wenn man eine Webseite öffnet und dort solche Bilder sieht, sei es verboten, die Seite weiter anzuschauen. Interessanterweise hat Chamenei auch eine Antwort darauf, ob es nach dem Islam statthaft sei, einen Kopierschutz für Software aus dem Ausland zu knacken und diese dann zu benutzen oder an Menschen weiter zu geben, die sie nicht kaufen können. Ohne Zustimmung der jeweiligen Firma dürfe der Kopierschutz nicht geknackt werden. Auch hohe Preise, die deren Verbreitung einschränken, oder die Absicht, damit anderen Menschen zu helfen, können kein Grund sein, die Rechte anderer zu verletzen. Ganz strikt ist Chamenei auch beim Verbot, einer nicht-muslimischen Frau zur Begrüßung die Hand zu geben, um Probleme zu vermeiden. Das geht Chamenei nun doch viel zu weit.