Die Epidemie der Rastlosigkeit und die Karriere des Koks für Kinder

Am Beispiel der medikamentösen Behandlung der Aufmerksamkeitsstörung ADHS zeigt sich, wie die Gesellschaft den frühen Umgang mit chemischen Substanzen diskutiert - Teil 1

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Aufmerksamkeitsdefizite, geringe Frustrationstoleranz, impulsives oder gar aggressives Verhalten: Was sich liest wie die Charakterbeschreibung manches Fußballfans ist in den Kinderarztpraxen der Republik das Diagnosebild eines Kindes mit Aufmerksamkeitsstörung-Syndrom, kurz ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung). In einem Drittel aller Fälle heißt die Lösung Methylphenidat, Handelsname "Ritalin" oder "Medikinet", ein Amphetamin-Derivat, das die Gedanken fokussiert. In Deutschland erhalten zur Zeit täglich rund 60.000 Kinder und Jugendliche die Substanz, in den USA und Großbritannien sind die Zahlen ähnlich.

An dem oft erbittert geführten Streit um Sinn und Unsinn der medikamentengestützten Therapie des "Zappelphillip-Syndroms" lassen sich gut die Eckpunkte einer Diskussion verorten, die zukünftig noch an Bedeutung gewinnen wird: Welche geistigen Zustände will man fördern, welche sollen Kindern nahe gelegt werden? Wie geht die Gesellschaft mit ihren kleinen und großen Helfern in einer Zeit um, in der die Grenze zwischen Nahrungs- und Arzneimitteln verschwimmt? Welche Rolle soll pharmakologische Beeinflussung spielen, wenn die "Wahrheit" im Spannungsfeld zwischen organisierter Ärzteschaft, profitorientierten Pharmafirmen, materialistischer Wissenschaft, besorgten Eltern und ungefragten Kinder zu verschwinden droht?

Die Zahlen klingen eindeutig: Etwa 3-5% (300.000 - 500.000) der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind von ADHS betroffen, Jungen gegenüber Mädchen zwei- bis viermal häufiger. Rechnerisch sitzen in jeder Schulklasse ein oder zwei Kinder, die unter ADHS leiden. Bei Erwachsenen schätzt man die Häufigkeit auf nur etwa ein Prozent. Als goldener Weg gilt heute eine "modale Therapie", die nicht nur das Medikament als Wundermittel sieht, sondern die psychsozialen Begleitumstände analysiert und nach Bedarf zu ändern versucht. Eltern- wie Lehrertraining kann hierzu genauso gehören wie eine Verhaltens- und Psychotherapie des Kindes. Aber hinter den Fakten versteckt sich ein seit Jahren erbittert geführten Kampf um Deutungshoheit über die Krankheit.

Professoren wie der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Götz-Erik Trott weisen darauf hin, dass das Syndrom hyperaktiver Kinder schon im 19. Jahrhundert beschrieben wurde. Beliebtestes Beispiel ist die berühmte Geschichte des Nervenarztes Heinrich Hoffmann, der 1845 in seinem "Struwwelpeter" mit dem Zappelphilipp dem ungesteuerten Verhalten ein literarisches Denkmal setzte. Das Problem dabei: Eine genaue und heute noch überprüfbare Diagnosetechnik lag damals nicht vor, das "hyperkinetische Syndrom" wurde erst sehr viel später entdeckt. Oder erfunden, wie viele Kritiker der ärztlichen Psycho-Kategorisierung sagen.

Die Diagnose

1902 veröffentliche der britische "Lancet" den richtungsweisenden Aufsatz von Georg F. Still, der von Kindern mit "merklichen Unvermögen, sich zu konzentrieren", berichtete. Seit dieser Zeit versucht man dem Phänomen habhaft zu werden, aber so einfach wie bei "Kopfschmerzen" funktionierte das nicht. Zunächst sprach man von "minimaler zerebraler Dysfunktion" (MCD), was auf Schäden im Hirn hinwies, später von der "hyperkinetischen Störung", was den Bewegungsdrang in den Vordergrund stellte. Aber das Krankheitsbild war verwaschen, die "zerebrale Dysfunktion" war zudem im Hirn nicht nachweisbar. "MCD: Leerformel oder Syndrom?", titelten daher 1987 Günter Esser und Martin H. Schmidt in ihrem Buch.

Werbung für Methylphenidat aus den 60er Jahren

In genau diesem Jahr setzte der US-amerikanische Psychiatrieverband dann auf das Kürzel ADHD, im Deutschen ADHS, das bis heute gültig ist. Schon an dem Wandel der Begrifflichkeiten machen Kritiker die Ungenauigkeit eines Diagnosebildes fest, das aus ihrer Sicht primär nach biochemischen Störungen sucht, um diese in einem zweiten Schritt auch chemisch zu behandeln. So sagt Dieter Mattner, Professor für Sozialpädagogik an der FH Darmstadt:

Auffällig an diesen neurobiologischen Konzeptionen bleibt bis heute, dass innerhalb der diagnostischen Blickreduzierung dieser Konzeptionen die oftmals als problematisch erkannten psychosozialen Lebenshintergründe von betroffenen Kindern als mögliche primäre Verursachungen der Verhaltensprobleme weitestgehend bewusst ausgeblendet bleiben.

Der Wiener Satiriker Karl Kraus vermutete schon Anfang des vergangenen Jahrhunderts: "Die Diagnose ist eine der häufigsten Krankheiten." Kritiker des ADH-Syndroms behaupten bis heute, dass sich die Krankheit in die Reihe der unnützen und gefährlichen Psycho-Klassifikationen einreiht, die aus einem unruhigen Kind einen pathologischen Fall macht.

Fakt ist bisher nur: Deutschland und die Welt sind aus der Perspektive der Experten voller psychisch Gestörter. Im Katalog der Veteran's Administration der USA waren nach dem Zweiten Weltkrieg gerade einmal 26 Störungen notiert. Das auch in Deutschland gültige "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM-IV) der Vereinigung der amerikanischen Psychiater zählt heute über 400 verschiedene Leiden auf. Addiert man die deutschen Angaben aus dem Katalog zur Verbreitung psychischer Leiden, befinden sich zu jedem Zeitpunkt knapp 60 % der Bevölkerung in geistiger Umnachtung oder anderen abnormalen Zuständen - die Mitglieder des Bundestages noch nicht einmal abgezogen.

Kritische Eltern und Ärzte vermuten daher seit Beginn des ADHS-Hypes, dass hier nur eine erneute Ausweitung des Beschäftigungsfelds der Ärzteschaft vorgenommen wurde. 2002 urteilte der Kinderarzt Dietrich Schultz: "ADHS ist insgesamt ein Konstrukt. Damit wird ein Verhalten von Kindern erklärt, das unsere Gesellschaft hervorgebracht hat." Aber ist es tatsächlich so einfach?

Die Forschung weist immer deutlicher darauf hin, dass die Anfälligkeit für ADHS vererbbar ist. Allerdings stellt sich auch in diesem Bereich heraus, dass die Gene nicht die Vorherrschaft haben: Soziale Komponenten müssen dazu kommen. Und selbst dann ist das Syndrom keine Krankheit, die ausbricht wie die Masern. Die Übergänge sind gleitend, der Raum zwischen eingebildeten, herbeigeredeten, schwachen und starken Symptomen fließend, das Phänomen "gleicht eher dem Übergewicht als den Windpocken", wie Manfred Döpfner, Professor für Psychotherapie am Klinikum der Universität zu Köln, annimmt. Er behauptet, dass nur bei einem Prozent eines Kinderjahrgangs die Diagnose völlig eindeutig ist. Das Problem: Heute werden zwischen 3 und 15 % der Kinder mit ADHS diagnostiziert.

Zur sicheren Diagnose von ADHS gehört Erfahrung, die so mancher der konsultierten Ärzte und Psychiater nicht hat. Die DSM-IV Liste für ADHS fördert diagnostischen Kriterien mit großem Interpretationsspielraum. Und: Zu hohe oder niedrige Lernanforderungen in der Schule können die gleichen Symptome wie bei ADHS hervorrufen.

Nach der Diagnose folgt in einem Drittel der Fälle die Therapie mit Hilfe von Medikamenten - und auch die ist umstritten. Schon 2002 forderte die damaligen Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion Caspers-Merck (SPD), dass nur Ärzte mit Zusatzqualifikation Methylphenidat verschreiben dürfen. Passiert ist dies bisher nicht.

So steigt der Verbrauch von Methylphenidat seit Jahren kontinuierlich an, die aktuellen Zahlen zeigen einen erneuten Sprung nach oben. Anfang der 90er Jahre war die Substanz noch nicht etabliert, die Steigerungen sind von diesem niedrigen Niveau aus zu interpretieren. Die Bundesopiumstelle registrierte 1993 die Nutzung von nur 34 Kilogramm reinem Methylphenidat, im Jahr 2001 waren es bereits 693 Kilogramm. Zwischen 1998 und 1999 hatte sich die Menge verdoppelt, in einem knappen Jahrzehnt kam es zu einer 20fachen Steigerung.

Damit aber nicht genug. Bis 2004 stieg die Menge noch einmal kräftig an, der Arzneimittelverordnungsreport 2005 zeigte nun eine Steigerung um das Dreißigfache. In 2005 wurde 1.200 Kilogramm von deutschen Apotheken ausgegeben (s. Grafik).

Quelle: Bundesopiumstelle

Die Verschreibungen stiegen dementsprechend ebenfalls an. 2004 kam es in Deutschland zur Verordnung von über 25 Millionen definierten Tagesdosen (30 mg) von Methylphenidat, 95% davon entfielen auf Kinder und Jugendliche. Angesichts dieser Zahlen dämmert es selbst den Befürwortern einer pharmakologischen Behandlung, dass Deutschlands Kindern mit Methylphenidat überversorgt sind.

Das ist kein deutsches Phänomen, auch das Ausland berichtet über den Anstieg des Verbrauchs. In Großbritannien wurden 2005 rund 362.000 Mal Methylphenidat verschrieben; die Tendenz ist auch auf der Insel seit Jahren steigend. Dem INCB (International Narcotics Control Board) berichten 156 Ländern ihren Im- und Export von Stoffen, die in der "Schedule II" Anlage gelistet sind, unter anderem stehen hier Morphine und einige Barbiturate - und auch Methylphenidat. Laut INCB ist diese Droge die am häufigsten gehandelten Substanzen weltweit aus dieser Klasse. In der Medikamentenrangliste des Ritalin-Herstellers Novartis stand das Medikament 2002 mit einem Jahresumsatz von 148 Millionen Euro auf Rang 18.

Die Vorreiterrolle beim Vertrieb nehmen wieder einmal die Ärzte in den verschreibungsfreudigen USA ein. In den Staaten sollen zwischen drei und fünf Prozent der Kinder unter ADHS leiden, auch hier sitzt demnach in jeder größeren Schulklasse im Durchschnitt ein Kind mit ADHS. Mindestens fünf Millionen Kinder erhalten täglich Ritalin oder ein anderes Methylphenidat. Die Arzneimittelzulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) berichtete in ihren Statistiken aus dem Jahr 2000 von monatlich 2,5 Millionen ausgestellten Rezepten für Methylphenidat - alleine für Kinder. Dazu kommen noch einmal 1,5 Millionen Verschreibungen für Erwachsene. Der Markt für Methylphenidat ist bunt in den USA, diverse Handelsnamen streiten um die Gunst der Kundschaft: Ritalin, Concerta, Metadate, Methylin, Rubifen.

Erhebungen gehen davon aus, dass - wie in Deutschland - rund ein Drittel aller mit ADHS diagnostizierten Kinder und Jugendlichen Methylphenidat erhalten. Die Zahlen sind veraltet, die Pharma-Konzerne produzieren derweil soviel Methylphenidat wie nie. 1990 stellten nur zwei Firmen das Stimulans her, man produzierte 1.768 Kilogramm, vier unterschiedliche Pillendreher kümmerten sich um den Vertrieb. Zehn Jahre später stießen sechs Großhersteller bereits 15 Tonnen her und 20 Firmen boten das Medikament an. Fazit: Die USA produzieren und konsumieren an die 90 Prozent des weltweiten Methylphenidat.

Lawrence Diller, Kinderarzt und einer der schärfsten Kritiker des Ritalin-Booms in den USA, spricht von epidemischen Verschreibungspraktiken. Seinen Berechnungen nach sind in den USA alleine 1995 fünf Tonnen der Substanz übrig geblieben. Eine Zahl, die sich mit höherer Dosierung, längerer Behandlungsdauer und Export ins Ausland nicht erklären ließe, wie er meint.

Studentenfutter

Die Droge ist begehrt, weitere Zahlen zeigen das Ausmaß des Hypes: Zwischen Januar 1996 und Dezember 1997 wurden rund 700.000 Dosiseinheiten als gestohlen gemeldet, Ritalin und seine Vertreter stehen bei der DEA noch heute in den Top-Ten der gestohlenen Drogen und Medikamente. Aktuell kostet eine Pille Ritalin auf dem Schwarzmarkt zwischen drei und 15 Dollar. Die Dosierung ist auf den Lerneffekt ausgerichtet, meist werden nur ein bis drei Pillen mit 10 mg geschluckt, euphorische oder speed-ähnliche Effekte sind aber erst ab 200 mg zu erwarten. Und selbst dann wird die Wirkung als sehr dumpf beschrieben, Begeisterung löst Methylphenidat im Drogen-Untergrund daher nicht aus.

Über die Jahre kristallisierte sich - wie bei fast jedem psychoaktiven Medikament - ein neues Einsatzgebiet für Ritalin heraus. Das Forschungsinstitut RTI International geht davon aus, dass rund 7,3 Millionen Amerikaner Methylphenidat schon einmal ohne Verschreibung genommen haben, weniger um die Nacht durchzutanzen, sondern um ihre Schul- oder Berufsleistung zu optimieren.

Was nämlich gerne vergessen wird: Ritalin steht in einer Reihe mit den Amphetaminen (Speed, Ecstasy), die ebenfalls bei ADHS angewandt werden. Nur ist deren Ruf ruiniert, ihnen wird Abhängigkeitspotential oder Hirnschädigung zugeschrieben, obwohl ihr niedrig dosierter, ärztlich kontrollierter Gebrauch keine nachgewiesenen Nachfolgeschäden mit sich bringt. Wissenschaft und Pharma-Industrie entwickeln nicht nur aus Forschungsdrang und Philanthropie ständig neue Substanzen, es geht auch darum, alten Wein in neue Schläuche zu gießen. Anders gesagt: Hier ein Methyl-Molekül ranhängen, dort eine NH-Gruppe wegnehmen, ein neuer Name und Public Relation wirken Wunder. Bis auch für das neue Medikament Langzeitfolgen bekannt werden und der Zyklus von vorne beginnt. Auch das nennt sich wissenschaftlicher Fortschritt.

Eine 1998 von der Indiana University durchgeführte Umfrage unter 44.232 Studenten zeigte: Fast 7% hatten Ritalin schon einmal probiert, 2,5 % nutzten es einmal im Monat oder öfter. Ein paar Jahre später (2002) untersuchte man das Konsumverhalten von 1.536 Schülern aus dem Mittleren Westen. 4,5 % davon nahmen Stimulanzien zur Erhöhung der Aufmerksamkeit ein.

Wie in Deutschland streiten auch in den USA die Gelehrten, ob und wann der Dauereinsatz eines Medikaments bei ADHS-Kindern sinnvoll ist. Die neuen Erkenntnisse aus der Hirnforschung leiten den wissenschaftlichen Diskurs dabei primär in eine biologisch-determinierte Richtung. Noch ist es nicht soweit, aber es steht zu vermuten, dass bald eine objektive Unterscheidung zwischen den Hirnstoffwechsel eines "normalen" und ADHS-Kinds gefunden wird. Und dann?

Es ist bei näherer Betrachtung kein so großes Wunder, dass Stimulanzien bei Kindern beruhigend wirken können. Auch Amphetamine machen aus ihren Nutzer nicht automatisch einen fickrigen Durchgeknallten, bei entsprechender Dosierung dienen sie auch Erwachsenen als Fokussierungsmittel. Die Studien über stimulanzaffine Schüler und Studenten weisen auf die inzwischen normale Tendenz hin, Errungenschaften der Pharma-Industrie im Alltag zu nutzen. Dass die pharmakologische Behandlung von Anpassungsproblemen nun auf die jüngsten und sensibelsten Vertreter der Generation durchschlägt stellt die Fragen des vernünftigen Umgangs mit Medikamenten und psychoaktiven Drogen neu.

Im 2. Teil: Stefan und die Geschichte vom Ritalin