Von der Unterschicht zum abgehängten Prekariat

Welche Folgen könnte die Übernahme der von Soziologen und sozialen Bewegungen geprägten Begrifflichkeiten in die aktuelle Debatte innerhalb der SPD haben?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Eine neue Wortschöpfung macht seit einigen Tagen die Runde: das abgehängte Prekariat. So bezeichnen Gesellschaftsforscher in einer offiziell noch gar nicht veröffentlichten Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung den auf ca. 8% der Bevölkerung bezifferten Anteil der Menschen, die sich im gesellschaftlichen Abseits und auf der Verliererseite der Gesellschaft sehen. Zu den Merkmalen zählen die Forscher längere Arbeitslosigkeit, bzw. temporäre Beschäftigungen mit niedrigen Einkommen, hohe Schulden und geringe soziale und familiäre Bindungen. Aber auch Aussagen, dass es keine politische Mitte, sondern ein oben und unten in der Gesellschaft gibt und dass sich die Menschen immer mehr einschränken müssen, wurde als Indiz für die Zugehörigkeit zu den Abgehängten gesehen. Die Forscher verorten dieses Bevölkerungssegment mehrheitlich im Osten.

Nun mag der wissenschaftlich und politisch korrekte Begriff vom abgehängten Prekariat tatsächlich in Deutschland weitgehend unbekannt gewesen sein. Das Phänomen, das damit beschrieben werden soll, ist es jedoch nicht. Als Prolls, Plebs oder Unterschicht ist es schon längst in die Alltagssprache eingegangen. Aber auch aus Alltagsbeobachtungen kann man unschwer schließen, dass Armut mittlerweile ein fester Bestandteil in unserer Gesellschaft ist. Das Sammeln von Pfandflaschen ist zu einem Alltagsphänomen geworden. Immer mehr Menschen kommen nur mit Essensrationen von verschiedenen sozialen Stiftungen oder Tafeln über die Runden. Die Zahl der Menschen, die nicht krankenversichert ist, ist in den letzten Jahren gestiegen. Alters- und Kinderarmut sind feststehende Begriffe in der Berichterstattung geworden.

Daher verwundert es doch, dass die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung für ein solches Echo sorgte. Der Grund liegt vor allem in der politischen Konstellation in Deutschland. Die in vielen Punkten zerstrittenen Partner der großen Koalition bereiten sich schon auf kommende Wahlkämpfe vor. Die SPD will sich traditionell als etwas sozialer als die Union profilieren. Dazu könnte ihr die Studie eigentlich eine wichtige Hilfestellung geben. Becks Sorge um die wachsende Unterschicht wird wohl darauf gezielt haben (Ermahnungen an die sozial Verwundbaren).

Doch das Thema wurde für die SPD-Spitze schnell zum Bumerang und mühsam gekittete Grabenkämpfe brachen auf. Der letzte Lafontaine-Freund in der SPD-Fraktion Ottmar Schreiner erinnerte an die Verantwortung der SPD-geführten Bundesregierung unter Gerhard Schröder für die Agenda 2010 und sah hier einen wichtigen Grund für die neue Armut. Aber auch Sozialdemokraten, die sich nicht am linken Rand ihrer Partei positionierten, sahen Hartz IV als eine Ursache für die neue Armut.

Lebenslüge Hartz IV

"Wir haben den Menschen vorgegaukelt, dass mit Fordern und Fördern jeder den ersten Arbeitsmarkt erreichen kann", sagte SPD-Fraktionsvize Stefan Hilsberg. Man habe auch behauptet, mit Steuersenkungen für die Unternehmen die Probleme lösen zu können. Das sei an Millionen Menschen vorbeigegangen. Er bezeichnete Hartz IV als Lebenslüge seiner Partei. In ähnlichem Sinne äußerte sich auch die vor kurzem abgewählte stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer: "Die Ausweitung der 400-Euro-Jobs und der Ich-AGs haben dazu beigetragen, die Niedriglohnsektoren und die Armut auszuweiten."

Solche Töne sind überraschend, wenn sie aus der Mitte der SPD-Fraktion kommen. Sie waren bisher bei den Anti-Hartz-Initiativen zu hören. Hartz IV ist Armut per Gesetz, lautete eine Parole aus dem Spektrum. In einem von verschiedenen Initiativen herausgegebenen Schwarzbuch wurde die Verarmungspolitik detailliert belegt.

Auch andere Begrifflichkeiten der aktuellen Debatte sind der sozialpolitischen Opposition entlehnt. So tauchte der Begriff des Prekariats im Umfeld des diesjährigen Euro-Maydays auf und sorgte für Debatten. Unterschiedliche Aktionsgruppen, die sich Die Überflüssigen nennen, prangern schon im Namen an, dass sie gesellschaftlich im Abseits stehen (Mach mal Pause).

Was die Adaption der Begrifflichkeiten aus den sozialen Bewegungen im SPD-Milieu bedeutet, ist noch völlig offen. Hiermit könnte eine verspätete Abrechnung mit der Sozialpolitik der Schröder-SPD eingeleitet werden. Eine wichtige Säule war dort die Agenda 2010. Nur so könnte die SPD in künftigen Wahlkämpfen überhaupt wieder mit einiger Überzeugung die soziale Karte ausspielen. Das würde die Partei zumindest in dieser Frage an die Linkspartei annähern. Koalitionen in weiteren ostdeutschen Bundesländern wie Brandenburg wären dadurch möglich. Selbst eine tendenzielle Auflockerung der Beziehungen auf Bundesebene wäre dann perspektivisch nicht mehr ausgeschlossen. Damit würde sich die SPD machtpolitisch gegenüber der Union weitere Regierungsoptionen öffnen. Gleichzeitig könnte sie einen solchen Kurs damit rechtfertigen, dass sie die Linkspartei entzaubern, d.h. marginalisieren will und dabei auf die Wahlergebnisse bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin verweisen.

Allerdings wäre ein solcher Kurs für die SPD nicht unproblematisch und mit großen innenpolitischen Zerwürfnissen verwunden. Schließlich besteht die SPD-Fraktion zum größten Teil aus Sozialdemokraten, die Hartz IV immer kompromisslos verteidigt haben. So könnte der Unterschichtendebatte der SPD schnell wieder vorbei sein, wie die im letzten Jahr von Müntefering losgetretene Heuschrecken-Debatte. Auch eine Umlenkung hin zu einer Wertedebatte ist denkbar.

Vernetztes Prekariat

In dem Statement von Kurt Beck, das die Diskussion eröffnete, ist eine solche Wendung angelegt. Er sagte, dass das Streben in den armen Familien teilweise verloren gehen könne. Hier müsse der Staat eingreifen: "Für den Teil der Gesellschaft, der uns zu entgleiten droht, ist der vorsorgende Sozialstaat gefragt, den meine SPD will."

Beck legt den Schwerpunkt nicht auf die soziale Situation, sondern auf den fehlenden Aufstiegswillen und bewegt sich damit ganz in der Logik von Hartz IV. Denn auch dort ging es um die Mobilisierung der Erwerbslosen. Sie sollten durch Mittelkürzungen und Angebote den Willen zum Aufstieg zum Ein-Euro-Job bekommen. So ist es von der Beschreibung der sozialen Situation zur Beklagung fehlender Werte nicht weit. Selbst die Wortschöpfung des "abgehängten Prekariats" lässt die Frage offen, ob als Gegenbild nicht ein vernetztes Prekariat kreiert wird. Dazu zählt die vielzitierte Generation Praktikum, die zwar mit schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsverhältnissen konfrontiert ist, aber den von Beck vermissten Aufstiegswillen durch ihre ständiges Netzwerkeln tagtäglich unter Beweis stellt.