Der Schleier ist bei muslimischen Frauen angesagt

In den letzten Jahren erlebte das Kopftuch in der arabisch-islamischen Welt, aber auch in Europa, eine erstaunenswerte Renaissance

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Nach Jack Straw, dem ehemaligen britische Außenminister, hat auch der britische Premierminister Tony Blair das Tragen von Schleiern von muslimischen Frauen problematisiert. In Deutschland riefen am vergangenen Sonntag deutsch-türkische Politikerinnen muslimische Frauen auf, das Kopftuch und den Schleier als Zeichen der Integration abzulegen. Nach wie vor gelten beide Kopfbedeckungen als Symbol des Islamismus und einer generellen Rückständigkeit, die die Unterdrückung der Frau in Kauf nimmt. Dabei wird übersehen, dass das Kopftuch mittlerweile Teil eines "modernen Phänomens" geworden ist.

Wie Frau ein Kopftuch tragen kann. Bild: thehijabshop.com

Für Ekin Deligoez, eine Bundestagsabgeordnete der Grünen, ist das "Kopftuch ein Zeichen der Unterdrückung der Frau". Wer es mit Integration ernst meine, müsse es ablegen. Ekin Deligoez ist eine aus der Gruppe von deutsch-türkischen Politikerinnen, die am vergangenen Wochenende an muslimische Frauen in Deutschland appellierten. Den Kopf und das Haar zu verhüllen, mache die Frau zu einem Sexualobjekt. "Legt das Kopftuch ab und zeigt, dass ihr die gleichen Bürger- und Menschenrechte habt wie die Männer", lautete der Tenor des Aufrufs, der auch von Kolleginnen aus der SPD und FDP unterstützt wurde.

Die Intention war wohl gut gemeint, aber viel Erfolg dürfte dem Ganzen wohl nicht beschieden sein. Feministische Terminologie vom "Sexualobjekt" und "Gleichberechtigung" wird dem Kopftuch-Phänomen nicht mehr gerecht. Die Verhüllung des weiblichen Kopfes oder des Gesichts wird heute in der Regel nicht mehr als Unterdrückung, sondern ganz im Gegenteil als Zeichen der Befreiung und Selbstbestimmung empfunden.

In den letzten Jahren erlebte das Kopftuch in der arabisch-islamischen Welt, aber auch in Europa, eine erstaunenswerte Renaissance (Islam, cool). Ob bekannte TV-Moderatorinnen Grundschullehrerinnen, Sekretärinnen, Hausfrauen oder Anwältinnen - viele Frauen, die bisher nie ein Kopftuch getragen hatten, setzen es plötzlich auf. Man will deutlich machen, dass man dazu gehört, zu denen, die eine neue, bessere Welt wollen und dabei islamischen Prinzipien folgen. Mit Extremismus, Radikalismus oder sogar Gewalt hat das nichts zu tun.

Vergleichbar ist der neue Kleidungscode in seiner Funktion etwa den Jeans und langen Haaren in den 1960er und 1970er Jahren: Wir sind anders und wollen etwas Neues und machen dies als Gemeinschaft deutlich. Unabhängig von Geographie, Staatsangehörigkeit und sozialen Kategorien kann jeder daran teilnehmen. Ein moderner Ausdruck der Globalisierung, die keine Grenzen kennt.

Abseits ideologischer Besetzungen hat das Kopftuch für viele Mädchen und Frauen auch eine einfache, praktische Seite. Die Kopfbedeckung signalisiert, frau ist sittsam und hat keine Lust auf Abenteuer und Flirts. Mit dieser "Entsexualisierung" entledigen sich Frauen (von den meisten) aufdringlichen Männerblicken und Offerten. "Immer, wenn ich nach Hause, nach Marokko, fahre, setze ich ein Kopftuch auf, um Ruhe vor den Männern zu haben", erzählt die Deutsch-Marokkanerin Latifa. "Leider kann ich das nicht in Deutschland machen, da würde man mich für dumm und zurück geblieben halten", erklärte die 28-Jährige, die in einer angesehenen Werbeagentur in Hamburg arbeitet. "In Deutschland wäre das Kopftuch nicht weniger praktisch als in Marokko, aber was würden meine Kollegen, mein Chef sagen. Steinzeit hat in einer modernen Agentur nichts zu suchen. Dabei hat das damit nichts zu tun."

Mitte dieses Jahres bestätigten die Ergebnisse einer Umfrage des US-amerikanischen Gallop Instituts muslimische Frauen machen sich am allerwenigsten über Kopftuch und Schleier Gedanken. Die 8000 Befragten in islamisch-arabischen Ländern fühlen sich nicht unterdrückt, und für sie haben berufliche Gleichstellung, Nicht-Beeinflussung bei Wahlen, Extremismus oder Kampf gegen Korruption weitaus mehr Gewicht. Die weibliche Kopfbedeckung war dagegen kein Gesprächsthema.

In Deutschland dürften die Resultate kaum anders sein. Die neue islamische Religiosität ist ein globales Phänomen, das an kein nationales Territorium und an keinen festgeschriebenen Codex gebunden ist. Die Islam-Palette ist vielfältig und unüberschaubar und reicht von liberal bis radikal. Alleine bei den großen Religionsgruppen innerhalb des Islam, den Schiiten und Sunniten, gibt es unzählige verschiedene religiöse Richtungen, die obendrein von Land zu Land differieren. Ganz zu schweigen von politischen Ausrichtungen und anderen, kleineren sektiererischen Glaubensgruppen.

Heute nimmt jeder Muslim oder die Glaubensgemeinschaft, der er angehört, was er aus dem großen islamischen Glaubenspot braucht, um sich eine islamische Identität zu konstruieren. Ob in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Marokko, Libanon - unter dem richtigen Islam, der nach Kapitalismus und Sozialismus endlich Gerechtigkeit bringen soll, versteht erfahrungsgemäß (fast) jeder Muslim etwas anderes.

Die Vorstellungen von einer neuen, besseren Welt sind dabei so amorph und vielfältig wie die islamisch-arabische Welt selbst. Der Islam ist heute für Muslime ein weltweit verbindendes Element, wie es in den 60er und 70er Jahren etwa der Sozialismus war. Die Glaubensgemeinschaft der Muslime ("ummah") könnte man mit dem internationalen Proletariat vergleichen. "Früher gab es eine gemeinsame, übergreifende Kultur von bestimmten Büchern, Filmen, Schriftstellern, Positionen und Ideologien", erklärt Hassan Daoud, ein bekannter Journalist und Autor aus dem Libanon. "Heute ist das verbindende Element der Islam."

Beispiel Marokko

Nicht nur in Europa, sondern auch in arabischen Ländern sind Regierungen über die Islam-Renaissance besorgt. Statt Aufklärung setzt man dort jedoch meist auf polizeiliche Maßnahmen gegen Islamisten. Das weibliche Kopftuch ist dagegen nur in sehr wenigen Ländern die Zielscheibe der Behörden. In Tunesien, das neben Marokko eine fortschrittlichere Familiengesetzgebung hat, wurde es bereits 1981 an staatlichen Institutionen verboten. Die Begründung lautete: Das Kopftuch sei ein sektiererische Bekleidung, was in einem Land mit 98 Prozent muslimischer Bevölkerung freilich etwas absurd klingt.

Trotz des Verbots lassen es sich viele Mädchen und Frauen nicht nehmen, in Schulen und Universitäten das Kopftuch zu tragen. Erst im September dieses Jahres hatten Menschenrechtsorganisationen beklagt, dass Kopftuchträgerinnen regelmäßig belästigt und gezwungen werden, ihre Bedeckung abzunehmen.

"Schadet es dem Staat, wenn Frauen ein Kopftuch tragen?", fragte Rachid al-Ghanoushi, ein bekannter tunesischer Islamist, der in London im Exil lebt. "Wir fordern keinen bestimmten Kleidungscodex für Frauen, wir fordern nur persönliche Freiheiten." Was der tunesische Islamist da einfordert, ist das Recht auf individuelle Freiheit, so leben zu können, wie jeder es für richtig hält. Ein wichtiger Grundsatz westlicher, moderner Gesellschaften.

Dass Verbote wenig bringen und meist das Gegenteil von dem provozieren, was man erreichen will, hat man in Marokko eingesehen, das im Vergleich zu anderen arabischen Staaten eines der liberalsten Länder ist. Auf den Straßen der Großstädte findet man Kopftuch und bodenlange Kleider neben Miniröcken und hautengen T-Shirts. Am Strand baden Mädchen im Bikini, während andere mit den Kleidern ins Wasser gehen. In Südmarokko gibt es nur weite Tücher in bunten Farben, die die Frauen über Kopf und Schultern schlagen und den Blick auf Haar und Gesicht freilassen.

Statt per Dekret das Kopftuch zu verbieten, setzt die marokkanische Regierung auf Erziehung. Ab sofort gibt es in allen Schulbüchern kein Kopftuch mehr. Ob Mutter oder Tochter, alle Figuren zeigen unverhüllt Gesicht und Haare. Ein Vers aus dem Koran, der angeblich das Kopftuch vorschreibt, wurde bereits vor einiger Zeit aus der Schullektüre getilgt. Bei dieser Maßnahme, so der marokkanische Erziehungsminister Aboulkacem Samir, gehe es nicht um Religion, sondern um Politik. "Das Kopftuch für Frauen ist ein politisches Symbol, wie es der Bart für die Männer ist. Wir müssen unsere Bücher so gestalten, dass sie nicht nur für eine einzige politische Fraktion ist."

Mit der "politischen Fraktion" meint der Erziehungsminister die "Bewegung für Wohlstand und Spiritualität" von Sheik Yassine und seiner Tochter Nadia ("Die Rolle der Frau muss sich ändern"). Obwohl keine offizielle Partei und von den Behörden nur geduldet ist sie die wohl größte Volksbewegung in Marokko und verfolgt einen konservativen Islam. Die islamische Lehrervereinigung zweifelt an den guten Motiven der Regierung und argumentiert mit den üblichen, islamistischen Verschwörungen. "Da gibt es Druck aus den USA", so Abdelkarim El Houchre von der Lehrervereinigung. "Man geht davon aus, dass dann, wenn der traditionelle Islam und den Mädchen das Tragen des Kopftuch gelehrt wird, das zu Extremismus und Terrorismus führt."