Von Karteikarten zum vernetzten Hypertext-System

Paul Otlet, Architekt des Weltwissens - Aus der Frühgeschichte der Informationsgesellschaft

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Informationswissenschaftler avant la lettre, erster Theoretiker der Dokumentation und visionärer Praktiker der sich formierenden Wissensgesellschaft: Paul Otlet (1868-1944) erkannte die Wichtigkeit von Datenbanken, als noch längst niemand ahnte, welche Bedeutung diese Medientechnologie einst haben würde. Er arbeitete ein Leben lang an dem Projekt, die organisatorischen und technischen Grundlagen für eine Dokumentation des Weltwissens zu realisieren.

Wenn wir – wie es so schön heißt – in einer Wissensgesellschaft leben, dann ist daran zu erinnern, dass die Ordnung dieses Wissens nicht unmittelbar mit dem Computer zu tun hat. Seit die Medientechnik jenseits der Buchkultur für neue Formen des Speicherns und Verteilens von Wissen sorgt, wachsen die Möglichkeiten wissensfundierter Arbeit und Produktion. Obwohl die entsprechenden informationsverarbeitenden Technologien heute als eine Leistung der Computerbranche angesehen werden, haben sie eine viel ältere Geschichte – nicht nur, was Ideen und Visionen betrifft, sondern auch die konkrete Praxis der Nutzbarmachung vorhandenen Wissens.

Was wir normalererweise erblicken, wenn wir den Computer einschalten, ist nichts anderes als die amerikanische Büroreform des späten 19. Jahrhunderts: Folder, Files und Sheets. Das Buch des Buchhalters wurde in seine Bestandteile aufgelöst, die Ordnung des Wissens flexibilisiert und Dokumentationsvorgänge standardisiert. Neue Aufzeichnungstechniken stellten Archivare und Bibliothekare vor neue Aufgaben: Was wird überhaupt dokumentiert und wie gestaltet sich der Zugang zu Dokumenten? Es sollte eine jahrzehntelange Diskussion sein, die sich daraus ergab.

Paul Otlet. Bild: Archiv Mundaneum, Mons

Jenseits von Gutenberg

Dass mit dem Buch als materiellem Datenträger enge Grenzen der kulturellen Wissensvermittlung gesetzt sind, erfahren zuerst die Bibliothekare. Aber selbst ihnen ist meist jene Anstrengung unbekannt, mit der Paul Otlet, ein belgischer Industriellenerbe, studierter Rechtsanwalt und obsessiver Privatgelehrter, einst versucht hat, neue Strukturen für eine globale Wissenskultur zu schaffen: Er plante bereits um 1900 eine Weltenzyklopädie als multimediale Datenbank und erfand als Grundlage dazu die Technik der systematischen Dokumentation.

An ihrem Anfang steht der Plan, den Paul Otlet und Henri La Fontaine 1895 in Brüssel gefasst hatten – ein Repertorium allen Wissens zu erstellen, das "Répertoire Bibliographique Universel". Es stellt nichts weniger als den Versuch dar, sämtliche weltweit erhältlichen Publikationen zu dokumentieren, zur Publikationsflut also eine Art Metadaten-Ebene zu schaffen. Die Idee wurde in einer internationalen bibliographischen Konferenz diskutiert und mit einer Zentralstelle institutionalisiert, dem "Institut International de Bibliographie". Es sollte dazu dienen, Information, Klassifikation und Dokumentation auf eine neue organisatorische und technische Basis zu stellen. Aus dieser Initiative sollte eine internationale Wissensorganisation hervorgehen: ein Weltzentrum des Wissens. Als Institut im "Palais de Cinquantenaire" in Brüssel anlässlich einer Weltausstellung errichtet, bestand das Palais Mondial, später Mundaneum genannt, bis zu seiner Schließung 1934.

Kino, Phono, Radio, Tele: als Substitute für das Buch genommen, sind diese Instrumente in der Tat das neue Buch geworden, die Werke mit dem mächtigsten Wirkungsgrad zur Verbreitung des menschlichen Denkens.

Das schrieb Otlet in seinem 1934 publizierten Werk Traité de Documentation. Le livre sur le livre. Die Jahrzehnte davor verbrachte er damit, die Grundlagen für effiziente Dokumentation zu entwickeln. Er war es, der dem Begriff Dokumentation überhaupt erst seine moderne Bedeutung gab und der die Methode der bibliographischen Klassifikation revolutionierte.

Ein Grund dafür war die Industrialisierung des Druckwesens. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet die Gutenberg-Ära dadurch in ihre erste Krise. Die industrielle Massenproduktion hatte umwälzende Änderungen im Druckgewerbe mit sich gebracht – Rotationspresse, Holzschliffpapier, Letternlinienguss (Linotype), Lithographie. Es wurde immer mehr und billiger gedruckt. War das Buch seit der Reformationszeit ein exklusives Medium zur Vermittlung höherer Werte, so wurde es nun zu einem Massenprodukt unter vielen anderen Industriegütern. In gelehrten Kreisen machte sich Kulturpessimismus breit. Die quantitative Explosion von gedrucktem Material bedeutete nicht zuletzt eine Informationsflut vor allem für die Professionalisten, die mit der Katalogisierung und Archivierung von Druckwerken zu tun hatten.

So ist es denn kein Zufall, dass die Frage der rationellen Organisation im Bibliothekswesen neu gestellt wurde. Ein einheitliches Ordnungssystem gab es nur in Ansätzen, bis der amerikanische Bibliothekar Melvil Dewey 1876 die Dezimalklassifikation für öffentliche Bibliotheken entwickelte. Als Wissensspeicher ist eine Bibliothek hauptsächlich mit gedrucktem Schriftgut befasst. Die Zeit der neuen Medien brachte aber auch eine Irritation hinsichtlich dessen, was überhaupt als ein Dokument gelten soll: nur Texte und textähnliche Aufzeichnungen oder auch Bilder, multimediale Objekte und andere analoge Aufzeichnungen? Und wenn dem so ist, wie gestaltet man analog zu den bibliothekarischen Verfahren den Prozess des Archivierens und der Wiedergewinnung von Informationen?

Der Ausdruck "Dokumentation" fand zunehmend Verwendung als erweitertes Konzept der bibliographischen Archivierung, da er alle möglichen Formen der wissenschaftlich oder kulturell wertvollen Aufzeichnung umfasst. Jeder materielle Datenträger, der dem Wissensprozess dient, müsste nun für Studien- oder Vergleichszwecke zugänglich gemacht werden, also auch Bild- und Tonträger. Und schließlich wurde der kulturelle Informationskreislauf nicht zuletzt durch neue Kanäle herausgefordert, wie die telegraphische Übertragung. Könnte sie nicht ortsunabhängige Zugänge zum Wissen schaffen, und irgendwo vorhandenes Wissen allgemein nutzbar machen?

Umfassende Wissensdokumenation

Paul Otlet hat diese Fragen nicht nur gestellt, sondern an ihrer Lösung gearbeitet. Ein "Répertoire" alles Gedruckten, alles Bildlichen und sämtlicher Dokumente würde Wissensgrundlagen schaffen. Ein Archiv auf der Grundlage genormter Karteikarten, die handschriftlich angefertigt und indexiert wurden. Dieses Archiv, eine Meta-Ebene des gesamten Wissensbestands, wäre auf globaler Ebene realisierbar, davon war Otlet überzeugt. Die Medien der Telekommunikation würden dabei mit Sicherheit eine Rolle spielen. Aus der Dokumentation wird somit eine "Hyper-documentation", aus der Bibliographie eine " Méta-bibliographie", schrieb Otlet 1934.

Damit war er nicht nur begrifflich seiner Zeit weit voraus, sondern auch mit seiner technischen Vorstellungskraft: ein "Réseau de communication, de coopération et d’échanges", also ein technisches Netz der Kommunikation, der Kooperation und des Austausches würde am Ende der fundamentalen Neuorganisation des Wissens stehen. Als ein " Instrument d’ubiquité" würde es selbstverständlich zur " Hyper-Intelligence" führen, die in nichts anderem als dem Weltfrieden münden kann.

Diese Vision lag tatsächlich nahe dem, was in einem völlig anderen technischen Kontext als World Wide Web, also auf elektronischer Grundlage möglich wurde. Paul Otlet dachte hierbei ganz ähnlich wie andere europäische Gelehrte, die lange vor dem Computerzeitalter mit neuen medientechnischen Konzepten gearbeitet haben – genannt seien nur Wilhelm Ostwald (Die Brücke), Emanuel Goldberg (Mikrofotografie) und Otto Neurath (Piktogramme).

Nun lässt die Sache mit dem Weltfrieden trotz verbesserter Kommunikationen immer noch auf sich warten, und die beiden Weltkriege waren mit ein Grund für die Rückschläge von Otlets Arbeit. Etwa 12 (!) Millionen Karteikarten wurden im Mundaneum noch handschriftlich angefertigt, wohl wissend, dass das Management der Weltinformation ein neues Organisationsprinzip auf der technischen Metaebene benötigt. Die Fragen, die sich Otlet dabei stellten, betrafen zunächst Standardisierung und Klassifikation von Dokumenten, im weiteren dann ihre technische Zugänglichkeit. Hier war Mikroverfilmung ("Livre microphotique", Paul Otlet und Robert Goldschmidt 1906) ebenso ein Thema wie ein international kompatibler Datenaustausch über die Telefon- und Telegraphenleitungen sowie Funkverbindungen.

Mundaneum. Bild: Archiv Mundaneum, Mons

Globale Wissensvernetzung

Indem er das zentrale Element der Wissenskultur, das Buch, durch eine Kombination von Wissensbeständen und Telekommunikation zu ersetzen plante, nahm Otlet die entscheidende Komponente moderner Wissenskultur vorweg: Datenbanken. Speichern und Wiederauffinden von Daten auf vollkommen neuen Grundlagen war das Ziel. Schreibmaschinen bieten neue Möglichkeiten, mechanisches Auslesen von Daten wurde angedacht, aber auch neue Arbeitsgeräte wie mit Elektromotoren verstärkte "Classeurs", die das Auffinden und Ausheben von Dokumenten besorgen. Schließlich sei niemand an Büchern interessiert, so Otlet, sondern an den Informationen, die diese enthalten. Sie könnten idealerweise auf neuen Arbeitsmöbeln angezeigt werden, auf dem frei verfügbare Flächen die gewünschten Inhalte darstellen (ganz nach Art des heutigen Desktops), die aus einem international vernetzten Reservoir an mikroverfilmten Dokumenten telekommunikativ abgerufen werden – eine Vorstellung, die Paul Otlet und seine Organisation des Weltwissens zum Vorläufer moderner Hypertext-Systeme macht.

Natürlich aber nicht zum heimlichen Vater des Internet, wie manchmal spekuliert wurde. Die Verräumlichung des Wissens war ein zentraler Bestandteil seiner Ideen. Otlet plante die Einrichtung eines globalen Informationszentrums, dessen Standort Brüssel, Genf oder Rom werden sollte. Als Planer für dieses Zentrum der "Cité mondiale" wurde der Architekt Le Corbusier gewonnen, seine Entwürfe liegen im belgischen Archiv. Es wäre wohl eine ideale, von der wirklichen Welt weitgehend abgeschottete Gelehrtenrepublik entstanden.

Sicherlich ist es problematisch, alle Information dieser Welt kanalisieren und zentralisieren zu wollen. Man mag aus heutiger Perspektive auch Otlets universale Enzyklopädie belächeln, sollte dies allerdings nicht tun, ohne den Abschnitt "Inventions a faire" seines Traité zur Kenntnis zu nehmen, eine Art technischem Pflichtenheft für die Ingenieure. Letztlich wird damit die Automatisierung der Informationsarbeit in einem kollektiven, mechanischen Gehirn vorgestellt:

La machinerie qui réaliserait ces desiderata serait un véritable cerveau mécanique et collectif.

In mehreren detaillierten Punkten ist dort eine Reformation der intellektuellen Arbeit skizziert, die auch über Telekommunikationsanwendungen ("Télélecture") laufen würde. Vorbild dazu waren statistische Maschinen wie die Hollerith Lochkartenmaschine – Maschinen, die nach Otlets Vorstellungen freilich viel nützlicher wären, wenn man sie miteinander verbinden würde.

Desideratum général. Heutzutage präsentieren sich alle Maschinen getrennt (…) Wir sollten einen Komplex miteinander verbundener Maschinen haben, die simultan oder nacheinander folgende Aufgaben ausführen: 1. Ton in Text transformieren; 2. diesen Text sooft kopieren wie man braucht; 3. Dokumente in einer Art aufbereiten, die jedem Informationsteil (donnée) seine eigene Identität zuordnet und Verbindungen mit allen anderen in der Sammlung hat, sodass er immer wenn nötig aufgerufen werden kann; 4. zu jedem Informationsteil einen Klassifikationsindex anbringen; das Dokuments in Verbindung mit diesen Indizes perforieren; 5. automatische Klassifizierung und Aufstellung dieser Dokumente; 6. automatisches Auffinden der Dokumente zwecks Einsicht oder Vorführung, sie es unter Augenschein oder durch eine Maschine, um zusätzliche Beschriftung anzubringen; 7. Mechanische Handhabung sämtlicher aufgezeichneter Informationen, um neue Sachkombinationen zu erhalten, neue Beziehungen von Ideen, neue Operationen mit Hilfe von Ziffern. – Eine Maschine, welche diese sieben Wünsche realisieren könnte wäre ein wahrhaftes mechanisches und kollektives Gehirn.

Paul Otlet 1934; übersetzt aus dem Französischen, FH

Das Mundaneum hat seit wenigen Jahren wieder geöffnet – in Mons (Belgien) und im Web. 1989 wurde der "Traité de Documentation" als Faksimile neu gedruckt, und darf, obwohl weitgehend unbekannt geblieben, als Klassiker nicht nur der Bibliothekswissenschaft, sondern auch der Informationswissenschaft gelten.

Zwar ist nichts gewonnen mit dem Hinweis, dass eine vernetzte Wissenskultur schon vor Jahrzehnten antizipiert worden ist. Vielleicht aber damit, dass die kurze Geschichte der multimedialen Informationsarbeit, an der mit Google, Wikipedia etc. laufend gebastelt wird, nicht erst mit dem Genius einiger kalifornischer Studenten begonnen hat. Seltsam ist aber auch, wie unbekannt trotz aller Anstrengungen der akademischen Medienarchäologen diese genuine Leistung eines europäischen Pioniers des Informationszeitalters geblieben ist.

Quellen

Paul Otlet: Traité de Documentation. Le livre sur le livre, théorie et pratique, Editiones Mundaneum, Brüssel 1934

W. Boyd Rayward: The universe of information: The work of Paul Otlet for documentation and international organisation. Moskau 1975

Bilder © Archiv Mundaneum, Mons (Belgien)