Der Troll als Leser

Rache-"Rezensionen" im Online-Bücherladen

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Amazon bietet seinen Kunden eine Reihe von Hilfsmitteln an, damit diese sich bei Kaufentscheidungen nicht ganz alleine gelassen fühlen. Neben den professionellen Rezensionen können auch Kunden ihre Meinung zu einem Buch hinterlassen. Wie sachlich und zutreffend – und damit brauchbar – diese Rezensionen sind, steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Ein kluger Mensch äußerte mal, das Tolle am Internet sei, dass jeder ungefiltert seine Meinung schreiben könne. Das Dumme am Internet sei jedoch, dass auch jeder ungefiltert seine Meinung schreibt.

Besonders der Gemeine Forentroll (stupido communis) hat schon so manchen Webmaster an den Rand der Verzweiflung getrieben. Trolle treiben ihr Unwesen nicht nur in Foren, sondern schlicht überall, wo Mensch seine Meinung äußern kann: In Gästebüchern, Onlinepetitionen, Blogkommentaren und mehr. Mancher Fortgeschrittene eröffnet gar eine eigene Website, mit der er ahnungslose Netizens in seine Scheingefechte verwickelt.

Doch auch sonst unauffällige Menschen – oder ihre Haustiere – mutieren mitunter zu Trollen; häufig an Stellen, wo Neid, Missgunst und verletzte Egos eine Rolle spielen. Besonders unter Angehörigen der schreibenden Zunft werden schnell verbale Massenvernichtungswaffen aufgefahren. Das war schon zu Zeiten Kurt Tucholskys so: Nichts sei verächtlicher, schrieb er, als wenn Literaten Literaten Literaten nennen.

Deshalb hat Amazon auch klare Regeln für Kundenrezensionen. Das rezensierte Produkt solle im Mittelpunkt stehen, Meinungen sollten begründet werden und Unsachliches vermieden. Da alle Rezensionen durch eine Redaktion kontrolliert werden, sind Trolle und andere Störenfriede ausgesperrt, sollte man meinen.

Die Umsetzung dieser Regeln ist jedoch nicht so stringent, wie Amazon für sich in Anspruch nimmt. So ist beispielsweise nicht ersichtlich, warum das rund halbe Dutzend durchweg positiver Rezensionen zur Anthologie „Schattenwelten“, in der auch der Autor dieses Beitrages einen Text veröffentlichen konnte, nach kurzer Zeit wieder verschwunden war und die Produktbeschreibung heute wieder völlig jungfräulich aussieht.

Noch weniger ersichtlich ist, warum andere Rezensionen über Jahre online bleiben, obwohl sie offensichtliche Regelverstöße enthalten. Ein Beispiel kennt der Science-Fiction-Autor und Tierrechtsaktivist Achim Stößer. Sein Buch „Virulente Wirklichkeiten“ wurde sieben Mal rezensiert. Direkt die erste Rezension vom 18. März 2003 könnte als Musterbeispiel dafür dienen, welche Rezensionen Amazon eigentlich nicht haben möchte:

Das Buch ist ziemlich schlecht. Liegt aber wahrscheinlich daß ich mit der Schreibe diesen Mannes nichts anfangen kann. Achim Stößer schimpft sich Tierrechtler, allerdings hat er seine Katzen qualvoll verhungern lassen, weil Sie sein veganes(!) Katzenfutter nicht annehmen wollten.

Rezension bei Amazon

Stößer stört sich nicht an diesem Verriss, der wenig mit seinem Buch und viel mit seiner ebenso streitbaren wie umstrittenen Persönlichkeit zu tun hat:

Die Lüge, ich hätte Katzen verhungern lassen, ist nur eine von vielen. Natürlich sind Bele und Lokai nicht verhungert. Sie waren FIV-infiziert. Das sind lediglich Versuche, Veganismus zu diskreditieren. Dieser Mob tobt sich gern im Internet aus: überall, wo nicht verantwortungsvoll moderiert wird – ob in Foren, Wikis, Blogs oder auf Bewertungsseiten.

Achim Stößer

Solche Schlammschlachten schaden natürlich gleichermaßen Autoren wie Verlagen, denn nach mehreren Studien lassen sich viele der Amazon-Kunden durch Kundenrezensionen beraten.

Doch nicht nur der Mob missbraucht Kundenrezensionen bei Amazon. Auch der Kampf um Auflagen verführt offenbar so manchen Verleger, seine Konkurrenz unseriös aussehen zu lassen. Diese Erfahrung hat jedenfalls Thilo Paech vom Rockbuch Verlag gemacht. Ende Januar 2006 tauchten die ersten Rezensionen auf, in denen Bücher des Rockbuch Verlages maßlos verrissen wurden – zum Teil mit Kritikpunkten, die gar nicht zutreffen konnten. Nachdem der erste Schrecken verdaut war, fielen Ungereimtheiten auf:

  1. Die Kritiken waren sehr ähnlich formatiert – besondere Aussagen waren durch Leerzeilen davor und dahinter hervorgehoben.
  2. Manche Rezensionen angeblich unterschiedlicher Personen über unterschiedliche Bücher waren im Wortlaut identisch, wiesen sogar dieselben Rechtschreibfehler auf
  3. Wenn die Rezensenten ihre Namen preisgaben, begannen Vor- und Nachname oft mit denselben Buchstaben
  4. In Überschriften und Texten wurde geradezu inflationär Gebrauch von Ausrufungszeichen gemacht
  5. Einmal wurden Tagebuchauszüge kritisiert, die in einem ganz anderen Buch vorkamen
  6. Deutsche Ausgaben englischer Bücher, die in Layout und Aufmachung völlig identisch mit dem Original waren, wurden als „billiger Nachbau“ gescholten
  7. Schließlich wurde behauptet, Nick Mason von Pink Floyd habe eine Lesereise abgesagt, weil ihm die Aufmachung der deutschen Ausgabe seines Buches „Inside Out“ nicht gefallen habe – tatsächlich lag er wegen eines Blinddarmdurchbruchs im Krankenhaus.

Amazon reagierte nicht auf Anfragen des Verlags, also wurde ein Anwalt eingeschaltet. Prompt löschte die Onlineredaktion alle Rezensionen – dabei hatte der Verlag die inkriminierten Einträge detailliert und begründet aufgeführt. Erst nach Insistieren der Anwaltskanzlei stellte Amazon die nicht zu beanstandenden Rezensionen wieder ins Netz.

Wir befragten die Pressestelle von Amazon zu den drei beschriebenen Fällen. Nach anfänglichen Rückfragen blieben konkrete Antworten jedoch aus – über mehrere Monate. Dabei gehen in Fachkreisen schon länger Berichte über Wettbewerbsverstöße per Kundenrezension um.

Don Alphonso bemerkte beispielsweise 2004, dass manche Bücher schon Kundenrezensionen haben, bevor sie veröffentlicht werden. Ein Beispiel ist das Buch „Und was machen Sie beruflich“ von Rolf Dobelli: Bevor es im September 2004 als gebundene Ausgabe erschienen ist war es – wie üblich – schon bei Amazon gelistet. Die erste Kundenrezension datiert jedoch auf den 30, August; wer das Buch zu diesem Zeitpunkt gelesen haben kann, ist mit recht hoher Wahrscheinlichkeit eben kein „Kunde“, sondern hat beruflich mit Büchern zu tun.

Doch auch aus anderen Gründen sind Kundenrezensionen denjenigen Autoren, die nicht gerade für die Massen schreiben, ein Dorn im Auge. Manche Rezensionen verwirren ihre Leser, weil ihr tieferer Sinn im Dunkel liegt, andere neigen zu einer ungewollten Komik. Auch Literaturwissenschaftler Andreas Gößling, Herausgeber der eingangs erwähnten Anthologie „Schattenwelten“, findet die Qualität der Kundenrezensionen fragwürdig:

Natürlich zeichnen sich "Amateurrezensionen" manchmal nicht gerade durch Sach- und Fachkompetenz aus, aber dieses Selbstbewusstsein des "mündigen Endverbrauchers", der sein "Ich sach mal ..." herauskräht, ohne sich durch Selbstzweifel ankränkeln zu lassen, ist eben ein Faktum unserer heutigen Medienwelt.

Dr. Andreas Gößling, Inhaber des MayaMedia-Verlags