Geringe Erwartungen senken das Leistungsvermögen

Warum sich in Deutschlands Klassenzimmern manche Prophezeiungen selbst erfüllen

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Der Grundsatz „Wer fordert, fördert“ scheint dem pädagogischen Instrumentarium eines wilhelminischen Zeitalters anzugehören und nicht unbedingt geeignet zu sein, in den Schulen des 21. Jahrhunderts auf unterschiedliche Sozialisationen, Leistungsvermögen und persönliche Interessen angemessen zu reagieren. Doch der Versuch vieler Lehrerinnen und Lehrer, ihre Erwartungen dem sozialen Status quo der Schüler und einer vermeintlichen Absehbarkeit gesellschaftlicher und persönlicher Entwicklungen anzupassen, hat die Chancengleichheit im Klassenzimmer offenbar auch nicht befördert und erst recht nicht zu einer Angleichung und allgemeinen Steigerung des Leistungsniveaus beigetragen. Eine Studie der Arbeitsstelle „Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration“ (AKI) des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung liefert nun einige aufschlussreiche Erklärungen für das anhaltende Dilemma.

Die von Janet Ward Schofield herausgegebene Untersuchung Migrationshintergrund, Minderheitenzugehörigkeit und Bildungserfolg. Forschungsergebnisse der pädagogischen, Entwicklungs- und Sozialpsychologie beschreibt einen deprimierenden Kreislauf aus Vorurteilen, Versagensängsten und mangelnder Leistungsbereitschaft, in dem neben den Pädagogen vor allem Schüler, die aus den sogenannten bildungsfernen Familien stammen, und Kinder von Migranten gefangen sind.

„Stereotype Threat“

Das Forscherteam, das eine Vielzahl internationaler Studien, die hierzulande bislang allenfalls teilweise zur Kenntnis genommen wurden, ausgewertet hat, geht zunächst davon aus, dass negative Stereotype, mit denen die Kinder in der Schule konfrontiert werden, deren Leistungsbereitschaft und -fähigkeit direkt beeinflussen können.

Negative Stereotype, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe mit geringen intellektuellen Fähigkeiten in Verbindung bringen, können die schulischen Leistungen und die Schulkarrieren von SchülerInnen, die einen Migrationshintergrund haben oder ethnischen Minderheiten angehören, sowohl kurz- als auch langfristig erheblich beeinträchtigen. Die Angst davor, dass die eigenen Leistungen auf Basis von negativen Stereotypen über die eigene Gruppe beurteilt und deshalb für unzulänglich befunden werden könnten („Stereotype Threat“), kann die intellektuelle Leistungsfähigkeit unmittelbar (etwa während einer Prüfung) vermindern. Langfristig kann sie zu einer verringerten Bildungsmotivation beitragen und Verhaltensweisen hervorrufen, die die Schulkarriere nachhaltig beeinträchtigen.

AKI-Studie

Grundsätzlich können Mitglieder unterschiedlichster Gruppen vom „Stereotype Threat“ betroffen sein. Kinder entwickeln offenbar schon im Alter von fünf Jahren ein spezifisches Sensorium für Vorurteile hinsichtlich ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Hauptfarbe oder ihres Geschlechts, wobei die Beeinflussung der Lernerfolge schließlich auch davon abhängt, inwieweit sie die Voraussetzungen und Folgen solcher Stereotypen verstehen und sich innerhalb eines Klassenverbandes positionieren oder durchsetzen können. Die realen Konsequenzen basieren also auf individuellen und institutionellen Voraussetzungen, reichen mitunter aber sehr viel weiter als lange Zeit angenommen wurde.

Ängste können zu schwächeren Leistungen führen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten kann erschüttert werden, und kognitive Energien können für die Bewältigung der mit Stereotype Threat verbundenen Ängste gebunden werden. Darüber hinaus ist es möglich, dass die Betroffenen zu Verhaltensweisen greifen, die bezüglich ihrer Bildungsleistungen kontraproduktiv wirken.

AKI-Studie

Erwartungseffekte und Leistungsdifferenzierung

Lernerfolge können aber nicht nur durch allgemeine Vorurteile, sondern auch durch voreilige Erwartungen von Seiten der Lehrer in Bezug auf die Leistungsbereitschaft und das Leistungsvermögen ihrer Schüler beeinflusst werden. Wenn Kindern aus unteren sozialen Schichten, Minderheitengruppen oder Einwandererfamilien von vornherein wenig zugetraut wird, reagieren sie in aller Regel misstrauisch gegenüber Lehrern, anderen Schülern oder der Institution Schule. Minderwertigkeitskomplexe und Aggressionen sind dann zwei Möglichkeiten, um auf diesen unbefriedigenden Zustand zu reagieren, nachlassendes Interesse und schlechte Leistungen die mutmaßliche Folge. So verwandeln sich bloße Annahmen erst in Vorurteile und dann in die Realität.

Sich selbst erfüllende Prophezeiungen sind ein real existierendes Phänomen, und ein Ort, an dem sie auftreten, ist das Klassenzimmer.

AKI-Studie

Negative Auswirkungen schreiben die Forscher darüber hinaus dem Konzept einer umfassenden Leistungsdifferenzierung zu. Wenn in Lerngruppen gezielt nur leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler versammelt werden, hat das automatisch Rückwirkungen auf das Niveau der Lehrinhalte, aber auch auf die soziale Struktur und die Kommunikationsprozesse, die sich in heterogenen Gruppen zwangsläufig anders gestalten. Gerade in Deutschland verstärken sich die Tendenzen zur schnellen Differenzierung und die oben beschriebenen Erwartungseffekte gegenseitig und entwickeln so eine besonders ungünstige Dynamik, die sich beispielsweise in der frühen Verteilung der Kinder auf unterschiedliche Schultypen der Sekundarstufe zeigt.

Hier erweist sich einmal mehr, dass eine in verschiedenen Vergleichsstudien beschriebene Beobachtung tatsächlich der Realität entspricht: In Deutschland werden durch die familiäre Herkunft beziehungsweise durch den sozialen und gesellschaftlichen Standort Voraussetzungen geschaffen, die durch Kindergarten, Schule oder Universität nicht mehr umgekehrt oder wenigstens korrigiert werden können.

Memorandum zum politischen Handeln

Bei Kindern von Migranten, die durch die genannten Defizite besonders betroffen sind, bedeutet das: Um ihre Situation zu verändern, reichen Deutschkurse für Ausländer nicht aus. Zwar bilden gute Sprachkenntnisse eine wichtige Basis, um mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, Lernziele aus eigenem Antrieb zu erreichen oder negativen Stereotypen couragiert und konstruktiv entgegenzutreten. Die Berliner Forscher haben sich bei ihren Untersuchungen aber auch auf sozial-, entwicklungs- und pädagogisch-psychologische Aspekte konzentriert, um ein vollständigeres Bild der miteinander agierenden Persönlichkeiten zu bekommen. Ihre Erkenntnisse lassen sich prinzipiell auf ein breites Spektrum bildungsferner Familien und lernschwacher Schüler anwenden. Die ergänzende Beilage eines Memorandums zum politischen Handeln lag für die Wissenschaftler also nahe, auch wenn dieses Vorgehen nicht unbedingt den Gepflogenheiten ihres Berufsstandes entspricht. Das Memorandum enthält vier Forderungen für eine Agenda, die angesichts der Zustände im deutschen Bildungswesen versuchsweise den Namen „5 vor 12“ tragen könnte.

  1. Da Lehrerinnen und Lehrer durch ihre fachliche und pädagogische Qualifikation, aber auch durch ihr persönliches Verhalten tagtäglich die Leistungspotenziale ihrer Schüler beeinflussen, soll in der Lehreraus- und –weiterbildung ein Bewusstsein für Phänomene wie den „Stereotype Threat“ oder die „Erwartungseffekte“ entwickelt werden. Dabei wird erläutert, wie benachteiligte Schüler durch direkte Ansprachen, die Formulierung hoher Erwartungen und den Einsatz gleichermaßen anspruchsvoller Lehrinhalte gefördert und Mitschüler oder Eltern in diesen Prozess einbezogen werden können.
  2. Die Lehrinhalte werden nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner in einer ohnehin abgeschlagenen Gruppe definiert. Stattdessen formulieren Lehrerinnen und Lehrer hohe Leistungsstandards und bekunden gleichzeitig ihr Vertrauen in die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Schülers. Lehrer und Schüler arbeiten am Aufbau eines schulbezogenen positiven Selbstkonzeptes und einer positiven sozialen Identität. Lehrer, die selbst einen Migrationshintergrund haben, können Vorbildfunktionen übernehmen.
  3. Nach Unterrichtsmethoden, die international bereits erfolgreich erprobt und mindestens seit den 70er Jahren vielerorts ausführlich beschrieben wurden, erkunden die Schülerinnen und Schüler verschiedene Formen des kooperativen Lernens. Sie sollen helfen, Vorurteile abzubauen, die Stärken jedes einzelnen zu nutzen und die Schwächen gemeinsam auszugleichen.
  4. Das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland soll umfassend evaluiert werden, um zu verhindern, dass leistungshomogene Lerngruppen Fortschritte der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler verhindern. Angestrebt wird eine in Bezug auf Leistung und Herkunft heterogene Zusammensetzung von Schulklassen, wobei die individuelle Förderung allerdings nicht aus den Augen verloren werden darf.

Auf den ersten Blick wird deutlich, dass dieses Memorandum die politisch Verantwortlichen eben so behandelt, wie moderne Lehrerinnen und Lehrer nach Meinung der Forscher mit ihren Schutzbefohlenen umgehen sollen. Durch große Erwartungen wird viel erreicht, oder aber: Wer fordert, der fördert auch.

Bevor sich wissenschaftliche Theorie in gesellschaftliche Praxis verwandeln lässt, gibt es allerdings noch einige Hindernisse zu überwinden. Positive Selbstkonzepte und soziale Identitäten lassen sich ebenso wenig am Reißbrett entwerfen wie eklatante Lernschwächen durch gutes Zureden oder optimistische Zielsetzungen behoben werden können. Auch persönliche Lebensumstände und psychologische Dispositionen, Familientraditionen, kulturelle Gewohnheiten oder Auswirkungen der jeweiligen Sozialisation können im Fall eines ungünstigen Zusammentreffens das methodisch einwandfreiste und bestgemeinte pädagogische Konzept zum Scheitern verurteilen.

Doch das sind Folgeprobleme, die immer nur vor Ort und am konkreten Beispiel gelöst werden können. Für den Bereich, in dem die Bildungspolitik Verantwortung übernehmen kann und muss, liefert die Studie des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung zweifellos wichtige Hinweise und Handlungsvorgaben.